Anmerkungen zum Problem der "Unberührbaren"

1. Hinweise aus "Unberührbar: Apartheid auf indisch" von G. Schwägerl, 1995
2. Bericht aus Indien Newsletter, CDS, Okt. 2002
3. Dalits und Dharma, Rev. Dr. habil. James Massey ist Mitglied der Nationalen Kommission für Minderheiten der Regierung von Indien. Dharma, ein Konzept der ältesten heiligen Schriften der Hindus, beschreibt die Pflichten, die Menschen in ihrem jeweiligen Stand in der Gesellschaft zu erfüllen haben. Massey führt in die klassische religiöse Literatur ein und erörtert dann den Platz, die den Schriften gemäß den Dalits eingeräumt wurde. Er identifiziert darin eine Ideologie, die es erlaubt, die ehemaligen Kastenlosen, die Dalits, die sich selbst heute die "Zerbrochenen" und "Niedergetretenen" nennen, in Abhängigkeit und unter Kontrolle zu halten.


Hinweise aus "Unberührbar: Apartheid auf indisch" von G. Schwägerl, 1995

Die "Unberührbarkeit" hängt mit dem Prinzip der Unreinheit zusammen, die im Manusmiriti, dem religiösen Gesetzbuch der Hindus, beschrieben wird. Es gibt die permanente und die zeitweise Unreinheit. Zeitweise kann man unrein werden durch Menstruation, Gebären eines Kindes, bestimmte Tätigkeit wie z.B. Lederverarbeitung, Ehebruch, Prostitution, Mord, Kontakt mit Unreinen, Heirat in eine andere Kaste, geistige und körperliche Behinderung, Übertritt zu einem anderen Glauben, Tod. Die permanente Unreinheit erlangt man durch Geburt.

Die Engländer verwandten 1931 neun Kriterien zur Feststellung der Unberührbarkeit.

1. Die Brahmanen leisten bei Heirat und Tod keine Dienste.
2. Ebenfalls die Friseure, Wasserträger, Schneider, Wäscher, Rechtsanwälte, Ärzte u.a. verweigern sich.
3. Die Kastenhindus fühlen sich bei Annäherung verunreinigt.
4. Sie nehmen kein Wasser aus ihren Händen.
5. Sie werden wegen des Berufes unterdrückt.
6. Sie dürfen Hindutempel (bes. Shiva-Tempel) nicht betreten.
7. Sie sind arme Analphabeten mit niedrigem Bildungsstand.
8. Sie dürfen bestimmte öffentliche Einrichtungen nicht benutzen (z.B. Straßen, Fähren, Brunnen, Schulen, Krankenhäuser).

Die meisten Dalits leben ausgegrenzt in Dörfern als landlose Arbeiter oder Kleinstbauern, die oft noch in sklavenähnlicher Ausbeutung ihre Schulden abarbeiten.

So wie die vier Kasten in etwa 3000 Kasten gegliedert sind, so gibt es auch bei den Dalits etwa 1000 ähnliche hierarchische Unterteilungen.

Gandhis Bezeichnung "Harijans" bedeutet nicht nur "Kinder Gottes", sondern auch diskriminierend "Sohn eines unbekannten Vaters", d.h. uneheliche Kinder von Tempelprostituierten, von Priestern. Deshalb wurde in Uttar Pradesh die Bezeichnung Harijans bei staatlichen Stellen verboten.

Maßnahmen zum Schutz der Dalits im Untouchability Act von 1955, die 1976 überarbeitet wurden im "Protection of Civil Rigths Act", weil das erste Gesetz kaum Wirkung zeigte.

-Erhöhung des Strafmaßes, auch kollektive Strafen möglich.
-Bestrafung für staatliche Angestellte, die ihre Pflichten bei Nachforschungen vernachlässigen.
-Finanzielle Gerichtshilfe für die Dalits
-Ernennung von Officers für die Umsetzung des Gesetzes
-Spezielle Gerichte
-Spezielle Komitees
-Periodische Untersuchungen, jährlicher Bericht über die Situation der Dalits
-Maßnahmen, um die "Unberührbarkeit" auszumerzen. Programme für die Einrichtung von Toilettenspülungen und Prämien für Heiraten über die Kastengrenzen hinweg.
-Quoten von 15% (Scheduled Castes, Unterkasten, kastenlose Hindus und evtl. Nicht-Kastenangehörige anderer Religionen) und 7,5% (Scheduled Tribes, Stammesangehörige bzw. Ureinwohner) entsprechend dem Bevölkerungsanteil bei Parlamentssitzen, bei der Vergabe öffentlicher Stellen und bei der Zulassung zu öffentlichen Schulen.

Möglichkeiten, der Unterdrückung zu entgehen:

- durch "Sanskritisation": so tun, als gehörte man zu einer höheren Kaste.

- durch "Protest Movements": Wechsel zu andren Religionen. Als Ambetkar 1956 zum Buddhismus übertrat, folgten 200 000 seiner Dalitkaste. Er trat nicht zum Christentum über, weil in den indischen Kirchen das Kastensystem weitgehend in Geltung ist.

- "People`s Movements": Zusammenschluss von Dalitkasten. Auch bei den Dalits werden Kastengrenzen beachtet, die z.B. bestimmte Berufe gegeneinander abgrenzen. Radikale Gruppen werden als Naxaliten bezeichnet wie "Indian People`s Front", "Maoist Communist Center" und "People`s War Group" mit etwa 800 Bewaffneten, die in "People`s Court" Urteile gegen korrupte Beamte ausspricht und 1991 227 Morde verübte.

- "Political Mobilisation": sich in politischen Parteien organisieren.

Bhima Rao Ambetkar (1891 - 1956), politischer Führer der Dalits, Vater war Lehrer in Maharashtra aus der Dalitgruppe der Mahars, das 14. Kind, Stipendium an der Uni in Bombay, Auslandsstudium in USA, finanziert durch Maharaja von Baroda, Dr.jur., Justizminister Indiens, tritt zurück, weil er auch im Ministerium als Unberührbarer behandelt wird. Positives Leitbild im Gegensatz zu Gandhi, der die Kastenangehörigkeit akzeptierte.

Als er eines Tages mit seinem Bruder und Neffen mit einem Ochsenkarren seinen Vater besuchen wollte, wurde er vom Wagen gestoßen, als der höherkastige Fahrer seine Kaste erfuhr. Gegen einen Aufpreis wurde er weiterbefördert, aber der Fahrer lief jetzt hinter dem Wagen her, um sich nicht zu verunreinigen. Als sie trinken wollten, durften sie nicht aus dem Brunnen trinken, sondern sollten das Wasser eines dreckigen Tümpels trinken. In der Schule musste er vor der Tür sitzen, vom Barbier wurden seine Haare nicht geschnitten, wohl die eines Wasserbüffels.

2. Das deutsche Indien-Magazin im Internet (Ausgabedatum: 04.08.2002), Keine Selbstverständlichkeit - Menschenrechte für Dalits
Die Arbeit des CDS im südindischen Madurai, von Detlef Stüber, Indien-Referent bei der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt, Berlin

Die ganze Nacht hat Kumar als Tagelöhner Sand aus dem nahen Flussbett auf Lastwagen geschaufelt, die das Baumaterial in die bekannte südindische Tempelstadt Madurai schaffen. 40 Rupien, ungefähr zwei Mark, hat er damit heute Nacht verdient, genug für sechs Kilo weißen Reis.

Durstig geht er an den Häusern der Großbauern und Händler vorbei zum Brunnen. In der Dämmerung begegnet er den Frauen und Mädchen, die mit ihren Wasserkrügen vom Brunnen kommen. Beim Nähertreten erkennt er mehrere Bauernsöhne aus der hoch gestellten Kaste der Reddy, die hier ihr Vieh tränken. Zögerlich bittet er um Wasser. Die Männer ignorieren den kastenlosen Kumar. Als er eindringlicher wird, beschimpfen sie ihn. "Was ihm einfiele, ihren Brunnen mit seiner Anwesenheit zu verdrecken" und "er solle sich zum Teufel schweren".

Mit einigen Fußtritten und Fausthieben versetzen sie ihrer Ablehnung Nachdruck. Gedemütigt setzt Kumar seinen Weg nach Hause fort. Ihm ist auch die Lust an einem Besuch der gerade öffnenden Teestube gründlich vergangen. Der Wirt würde zwar sein Geld annehmen, es aber vorher mit etwas Wasser von der Berührung des "Unreinen" säubern. Den Trinkbecher würde Kumar selber spülen müssen.

In vielen ländlichen Gegenden Indiens ist es nicht selbstverständlich, dass alle Menschen die öffentlichen Brunnen benutzen können. Oft sind konservative Grundbesitzer aus der Kaste der Reddy, aber auch Händler oder Priester der Meinung, dass die aus dem streng hierarchischen, sozial-religiösen Kastensystem ausgegrenzten Menschen "unrein" sind. Tempel dürfen sie nicht betreten, Wasser wird durch sie "unrein".

Ohne eigenes Land müssen sie wie Leibeigene die Drecksarbeiten erledigen. Die machtpolitischen und ökonomischen Vorteile dieser Ausbeutung und Unterdrückung akzeptieren die höher gestellten Kastenmitglieder jedoch gerne. Zur Aufrechterhaltung dieses System sind lokal einflussreiche Personen oft sogar bereit, Schlägertrupps zu engagieren.

Diese bedrohen ganze Dalitdörfer und schrecken auch nicht vor Brandstiftung, Vergewaltigung oder Mord zurück, falls die BewohnerInnen es wagen, sich gegen das Unrechtssystem aufzulehnen. 20 Prozent der indischen Bevölkerung sind Dalits, "Gebeugte" wie sich die heute für ihre Rechte kämpfenden "Kastenlosen" nennen.

Einer zusätzlichen Bedrohung sind Frauen und Mädchen ausgesetzt. Beim Wasser holen oder Sammeln von Feuerholz müssen sie nicht nur mit Beschimpfungen, sondern schlimmstenfalls mit Vergewaltigungsversuchen rechnen. Fast täglich lassen sich in der indischen Presse solche Berichte finden.

Erste Schritte: Ein eigener Brunnen

Nach dem Vorfall am Brunnen waren die Dalits in Kumars Dorf nicht länger bereit, diese Situation zu dulden. Ambedkar-Nagar nennen sie ihr Dorf, das etwa zwei Kilometer abgesondert vom eigentlichen Hauptdorf liegt. Mit dem Dorfnamen wollen sie den Menschenrechtler Dr. V. Ambedkar ehren, der sich sehr für die Rechte von Dalits eingesetzt hat.

Mit Unterstützung des Center for Dalit Solidarity, CDS, einer sozialen Nichtregierungsorganisation, beantragten sie staatliche Gelder für einen eigenen Brunnen. Gegen den Willen der aus dem Kastensystem stammenden Beamten einer Behörde Unterstützung abzuringen ist ohne Aktionsgruppen wie das CDS kaum möglich. In einem zweijährigen Verfahren gelang es nach vielen Eingaben und einigen kleineren Sitzblockaden in und vor Amtsstuben, die Erlaubnis und Gelder für einen eigenen Brunnen zu erhalten.

Mit dem Bau des Brunnen schienen nun einige Probleme der Menschen von Ambedkar-Nagar gelöst. Die Angehörigen der hier dominierende Kaste der Reddy wollten sich diese Eigenmächtigkeit ihrer billigen Arbeitskräfte jedoch nicht gefallen lassen. Kurz nach der feierlichen Einweihung wurde der Brunnen eines Nachts mit Unrat und toten Tieren vergiftet.

Das war eine deutliche Warnung an die Adresse von Kumar und seine MitstreiterInnen. Lange diskutierten sie, ob und wie sie sich dagegen zur Wehr setzen sollten. Der Gefahr, dass die Reddys zu drastischeren und gewalttätigen Mitteln greifen könnten, wollten sich die meisten nicht aussetzen.

Wo Gewalt fast jeden Widerstand bricht

In einem nahen Dorf waren kürzlich fünf Menschen ermordet worden, weil junge Dalits gewagt hatten, gegen den Willen der dominierenden Kaste für die Gemeinderatswahlen zu kandidieren. Ein Nachbardorf, das ein Treffen über Menschenrechte organisiert hatte, wurde in Brand gesteckt: 12 Menschen mussten im Krankenhaus behandelt werden.

Es forderte viel Überzeugungsarbeit durch die MitarbeiterInnen des CDS, bis alle bereit waren, sich auf eine Konfrontation für die Stärkung ihrer Würde und ihrer Menschenrechte einzulassen. Zwar hat Indien eine fortschrittliche und soziale Gesetzgebung, die Kenntnis und Durchsetzung dieser Rechte steht jedoch auf einem ganz anderen Blatt: Auf dem Papier ist das Kastensystem nämlich schon seit Jahrzehnten abgeschafft und ausdrücklich verboten.

Die Rechtsanwältin und Leiterin des CDS, Ms. Rajani zu ihrer Arbeit:"Was wir tun können, ist die Menschen davon zu überzeugen, dass sie überhaupt Rechte haben und auch in der Lage sind, sich selber für diese einzusetzen. Es gelingt jedoch nur, wenn sich alle auf ein Ziel einigen. Oft sind ja auch die Dalits untereinander in verschiedenen Unterkasten zerstritten. Ein landloser Feldarbeiter ist höher gestellt als ein Gerber oder ein Rattenfänger. Das gemeinsame Vorgehen wird oft gefährdet durch Androhungen und durch Versuche der Reddys, Einzelne durch lukrative Angebote auf ihre Seite zu ziehen.Wir reden in solchen Fällen mit den Menschen über die Probleme, suchen nach den Ursachen, klären über Hintergründe, Gesetze und Möglichkeiten auf und versuchen gemeinsam, die nächsten Schritte zu planen. Oft ist es auch notwendig eine größere Öffentlichkeit zu schaffen. Wir informieren dann andere Dalit-Gruppen, versuchen den jeweiligen Fall in die Presse zu bringen und veranstalten spektakuläre Aktionen in der Öffentlichkeit. Schon so mancher Behördenvertreter hat sich von tagelangen Sitzblockaden vor seinem Amtssitz beeindrucken lassen. Und es gibt einige Rechtsanwälte, die bereit sind, für ein geringes Honorar die juristischen Belange von Dalits zu vertreten."

Völlig frustrierend waren die Wege zur örtlichen Polizeistation und zur Kreisverwaltung. Die zuständigen Beamten täuschten entweder wichtige Besuche oder Mittagspausen vor. Sie waren eindeutig nicht gewillt, sich gegen die Interessen der Hochkastigen zu engagieren. Während dieser Bemühungen wuchs bei den BewohnerInnen von Ambedkar-Nagar die Angst vor Vergeltungsmassnahmen. Nach zwei Wochen drohte ihr Mut zu zerbrechen.

Etliche wollten lieber in den alten Unrechtszustand zurückfallen, als sich und ihre Familie weiter der Bedrohung auszusetzen. Erst als es durch zusätzliche Pressearbeit und weitere Unterstützung einiger befreundeter Nichtregierungsorganistionen gelang, einen Armeeoffizier auf Distriktebene für eine Untersuchung der Angelegenheit zu gewinnen, schöpften die Betroffenen wieder Hoffnung.

Diesmal brachte die Armee Hoffnung

Mit etlichen Soldaten rückte die Armee ein und begann den Fall zu untersuchen. Und es geschah, was die Menschen von Ambedkar-Nagar schon nicht mehr zu hoffen wagten. Die Schuldfrage und die Verunreinigungen wurden zwar nicht offiziell zugegeben, aber der verseuchte Brunnen wurde auf Kosten der höheren Kasten gereinigt.

Den Menschen von Ambedkar-Nagar wurde eine Art Schadensersatz von 10.000 Rupien gezahlt. Umgerechnet sind das nur etwa 500 DM - für die Kastenlosen des Dorfes jedoch ein ungeheurer Erfolg. Sie haben erfahren, dass sie mit beharrlichem und vor allem geschlossenem Eintreten für ihre gesetzlich verankerten Rechte und der Unterstützung durch das CDS Verbesserungen für sich erkämpfen können.

"Erst wenn unsere Frauen und Kinder unbehelligt und erhobenen Hauptes im ganzen Dorf herumgehen können, wir im Teeshop das gleiche Geschirr benutzen dürfen wie alle anderen und nicht um jeden Schluck Wasser oder die Auszahlung unsere Arbeitslöhne betteln müssen, können wir aufhören für unsere Rechte als Dalits zu kämpfen. Bis dahin liegen aber noch ein gutes Stück Weg und viele Konflikte vor uns", fasst Kumar die Situation zusammen.

Wer das Projekt unterstützen möchte, wendet sich direkt an die Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt: http://www.aswnet.de