2002-01-24

Die politische Situation Boliviens

Das Abgeordnetenhaus in La Paz hat am Abend mit großer Mehrheit beschlossen, den sozialistischen Parlamentarier und indianischen Bauernführer Evo Morales [1959, Orinoca] wegen «Aufstachelung zur Gewalt» seines Mandats zu entheben. Das Verfahren zur Aberkennung seiner parlamentarischen Immunität hatten die Angehörigen von vier Mitgliedern der Sicherheitskräfte angestrengt. Letztere waren in den vergangenen Tagen bei gewaltsamen Zusammenstössen mit von Morales unterstützten Kokabauern getötet worden. Morales weigerte sich, das Parlamentsgebäude zu verlassen, und trat zusammen mit drei weiteren Abgeordneten seiner Partei, der Bewegung zum Sozialismus (MAS), in den Hungerstreik.


2002 Während der ungewohnte Geruch von gekauter Coca und der Klang der Reden in Aymara und Quechua das Abgeordnetenhaus eingenommen haben, breitet sich in den größeren bolivianischen Städten ein Gefühl der Angst und Unsicherheit aus. Der Grund hierfür ist das grundlegend veränderte Machtgefüge, welches die Wahlurnen hervorgebracht haben, denn der zweite Platz bedeutet nach bolivianischem Wahlrecht theoretisch die Möglichkeit, die Regierung zu bilden. Voraussetzung hierfür allerdings ist eine Stimmenmehrheit im Abgeordnetenhaus.

Dieses Angstgefühl lässt sich in Zahlen ausdrücken: Wegen des Misstrauens der oberen Mittelschicht und Oberschicht des Landes in eine mögliche MAS-Regierung unter Evo Morales [1959, Orinoca - ] wurden bis Ende Juli etwa 350 Millionen US-Dollar von den Banken abgezogen. Das Misstrauen begründet sich auf zweierlei Aspekten. Zum einen ist es die Vorstellung einer indigenen Regierung selbst, denn dies galt bisher im mehrheitlich von Indígenas bewohnten Bolivien noch immer als unvorstellbar. Zum anderen ist es die Tatsache, dass Evo Morales von der US-Botschaft explizit zum Feind erklärt wurde und somit die Unterstützung des großen Bruders aus dem Norden in Frage gestellt wäre.

Die „Bewegung zum Sozialismus" - MAS ist eine junge Partei, die in den 90er Jahren als Vertretung von und Schutz für die Cocabauern des Chapare gegründet wurde. In nur wenigen Jahren ist sie zur dominierenden Partei auf lokaler Ebene in der Cocaanbau-Region und hat sich damit den Hass der US-amerikanischen Botschaft zugezogen.

Erst als Ende Juli eine Regierungskoalition zwischen den traditionellen Parteien aufgebaut ist, löst sich die Furcht der städtischen Bevölkerung und die US-Dollar kehren langsam zurück auf die Banken. Die aus ehemaligen Oppositions- und Regierungsparteien entstandene Koalition verfügt mit 88 Sitzen über eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus, die zunächst politische Stabilität und Regierbarkeit garantiert.

[Quelle: Bolivia : SAGO Informationsblatt. -- ISSN 0945-201X. -- Nr. 131 (2002). -- S. 14 - 17] http://www.payer.de/bolivien2/bolivien02.htm

Die Welt, 2003, 12, 24

Rückkehr in das Reich der Inka

In Lateinamerika wollen Führer der Eingeborenen alles Westliche vernichten und zur vorneuzeitlichen Gesellschaft zurückkehren

von Carlos A. Montaner.

Auszug

Der 44-jährige Morales, Chef des Movimiento al Socialismo (Mas), ist Anführer der Kokabauern. Die von den Vereinigten Staaten durchgesetzte Politik, die Kokapflanzungen mit Pestiziden zu vernichten, empfinden die Bauern als Aggression gegen ihre Traditionen und ihre Lebensgrundlage. Morales ist ein Marxist mit bruchstückhaften Überzeugungen, die er vor allem Fidel Castro verdankt. Nach dem Rücktritt von Sánchez de Lozada reiste Morales umgehend nach Havanna, wo er jubilierend verkündete, dass "Lateinamerika sehr bald ein neues Vietnam für die Vereinigten Staaten sein wird". Seine sozialen Forderungen sind erwartbar: Der Staat soll private Unternehmen enteignen, Grund und Boden an die - vor allem eingeborenen - Bauern verteilen, das Preisniveau einfrieren, Löhne anheben, den Reichen und auch der Mittelschicht mehr Steuern aufbürden, Wohnraum zur Verfügung stellen und jedem Bürger freien Zugang zu Bildung und Gesundheit gewähren. Doch hier ist das Ende der Liste noch nicht erreicht. Ganz allgemein - und ohne dies näher zu definieren - fordert Morales, dass "die Kultur des Todes" durch die "Kultur des Lebens" ersetzt werden müsse.

Die Kultur des Todes ist der Westen. Die des Lebens ist, Evo Morales zufolge, die der eingeborenen Traditionen.

Ähnlichen Geistes, aber wesentlich radikaler ist Felipe Quispe. Seinen Radikalismus hat er bewahrt, seinen 61 Jahren zum Trotz und obschon aller Folter, die er von Hand der Militärs erleiden musste. Fünf Jahre saß Quispe in den Neunzigern in Haft, nachdem er die blutigen Revolten der Tupac-Katari-Guerilla angeführt hatte, die sich nach einem Eingeborenen benannte, der Ende des 18. Jahrhunderts die spanischen Herrscher bekämpfte. Quispe ist kein Sozialrevolutionär, sondern ein Rassenrebell. Er lässt sich mit "El Mallku" (der Kondor), anreden und träumt davon, den Ethnozid zu rächen, seine Komplizen - Weiße, Mestizen - gewaltsam zu vertreiben und ihnen eine 500-jährige Unterdrückung heimzuzahlen, die ihnen fremde Gesetze, fremde Götter und eine fremde Lebensweise in einer fremden Gesellschaftsordnung aufzwang. Quispe ist auch die Losung geschuldet, dass niemand Schuhe tragen dürfe, solange die Eingeborenen nur Sandalen besäßen.

Für Quispe ist Morales nur ein "Verräter", der nach den Regeln des Feindes spielt. Denn obwohl beide den Marxismus als Grundlage für sich reklamieren, sieht "El Mallku" die Wurzeln seiner Bewegung nicht in der Ideologie des deutschen Denkers, sondern im "Incanato", einer von ihm naiv idealisierten vorneuzeitlichen Gesellschaft, die weder auf Besitz noch Geld, sondern auf Tauschhandel basierte.

Die Konsequenz daraus ist tragisch: Evo Morales will in Bolivien einen modernen Kommunismus nach kubanischem Vorbild durchsetzen. Felipe Quispe will das archaische System der Inka wieder installieren.

Die Entwicklungen in Bolivien sind natürlich nicht neu. Sie sind sogar beinahe eine Wiederholung des Umsturzes in Ecuador im Jahr 2000. Dieser beinhaltete indes ein sehr gefährliches Element, nämlich die Kooperation der Eingeborenen mit den Militärs. In Peru sind die Zusammenhänge noch kurioser, denn es ist das einzige Land des Kontinents, in dem ein Nachfahre der Eingeborenen an der Spitze des Staates steht: Alejandro Toledo. Doch handelt es sich hier um eine Persönlichkeit, die auf höchstem Niveau gebildet ist, in Stanford studiert, in Kalifornien gelebt hat und nicht beabsichtigt, in die Vergangenheit der Inka zurückzukehren. Im Gegensatz zu Toledo und mit wachsendem Zuspruch stehen die Brüder und Heeresmitglieder Ollanta und Antauro Humala, die einst gegen Alberto Fujimori rebellierten und Peru jetzt in eine ähnliche ethnisch motivierte Rebellion führen wollen wie ihre Nachbarn.

Wie bei unbekömmlichen Drinks ist das Schlimmste an diesem politischen Gefüge ebenfalls die Mischung: die Utopie des "Indigenismus", das marxistische Kollektiv - eine weitere Form der Utopie -, der Militarismus und eine damit einhergehende Rechtfertigung der Gewalt. Genährt wird dieses durch zwei permanente Quellen des Chaos: Fidel Castros Kuba - immer bereit zum Angriff gegen jeden, der für Demokratie, freien Markt und gute Beziehungen zum Westen ist. Und durch Hugo Chávez, stets zur Verfügung, um mit seinen Petrodollars jedes Abenteuer zu finanzieren, das den Ausbau seines Bolivarianischen Kontinents fördern könnte.

Existiert zwischen diesen Bewegungen eine Koordinate? Zweifellos. Es ist das Forum von São Paulo, das seit seiner Gründung durch die brasilianische Gewerkschaft 1990 Dutzende Male Parteien und Gruppierungen der extremen Linken Lateinamerikas zusammengebracht hat. Charakterisiert wird das Forum vor allem durch seinen starken Antiamerikanismus. Bei diesen Zusammenkünften treffen nicaraguanische Sandinisten auf kubanische Kommunisten, Brasiliens Landlose debattieren mit den argentinischen Piqueteros und dem bekannten pittoresken Kapuzenmann, dem Subcomandante Marcos aus Chiapas. Marcos - der selbst aus einer weißen, kleinbürgerlichen Familie stammt, die eine Möbelhauskette besitzt - war übrigens der Erste unter den radikalen Köpfen, der den propagandistischen Wert des "Indigenismus" erkannte. Als er sich am 1. Januar 1994 mit Waffengewalt gegen die Regierung Salinas erhob, tat er das mit einem streng an Che Guevara orientierten Diskurs - den er umgehend abbrach, als er erkannte, damit nicht den mindesten Enthusiasmus zu wecken. Wenig später aber begann Marcos das Schicksal der Eingeborenen und ihre Leidensgeschichte zu thematisieren - mit riesigem Erfolg und einer nicht zu verachtenden Faszination, die er unter europäischen und nordamerikanischen Linken auslöste, die schon immer eine Schwäche für folkloristische Manifestationen hatten.

Aureliano Turpo Choquehuanca, Führer der Befreiungsfront Tawantinsuyu, im Le Monde 3.12.1981:
Freiheit bedeutete Freiheit für die ehemaligen Kolonialherren. Am Indianer scheint die Entkolonisierung vorbeigegangen zu sein, im Gegensatz zu den Völkern Asiens und Afrikas.
Der Tag wird kommen, an dem die Indianer die Souveränität über das erlangen, was einmal das Reich der Inka war und heute künstlich zerrissen ist.

2.5.2006

"Das Plündern durch die ausländischen Unternehmen ist beendet", erklärte der linksgerichtete Präsident Morales. Er erließ ein Dekret, das die Gesellschaften verpflichtet, ihre gesamte Produktionskette innerhalb von sechs Monaten der staatlichen Ölgesellschaft zu unterstellen.

Soldaten besetzen Raffinerien in Bolivien

Spanien besorgt über Verstaatlichung der Öl- und Gasindustrie

Nach der Verstaatlichung der bolivianischen Öl- und Gasindustrie hat Präsident Evo Morales am Montag Soldaten auf die von internationalen Konzernen betriebenen Gasfelder geschickt. Rund 100 bewaffnete Soldaten übernahmen in der Raffinerie Palmasola in der Stadt Santa Cruz die Kontrolle. Vizepräsident Alvaro Garcia Linera sagte, Truppen seien in landesweit 56 Anlagen entsandt worden.

"Es ist die Stunde gekommen, der ersehnte Tag, der historische Tag, an dem Bolivien wieder die absolute Kontrolle über seine Bodenschätze erlangt", sagte Morales bei einer Kundgebung zum 1. Mai 2006 in der Förderanlage San Alberto in der im Süden gelegenen Provinz Tarija.

Nach 1937 und 1969 ist es die dritte Verstaatlichung der bolivianischen Erdöl- und Erdgasvorkommen.