Der Minengott
Seit den vorkolonialen Zeiten glauben die Indios in der Andenregion an die Existenz von Geistern, die ihre Wohnung auf Berggipfeln haben. Durch die Eroberung im 16ten Jahrhundert hat sich der Name "Supay" oder "Diabolo" (=Teufel) eingebürgert. Besonders die Indios, die von den Spaniern in den Minen Schwerstarbeit leisteten, befahlen ihr Schicksal dem Diabolo, verniedlicht "Tio" genannt, an. Dieser gab Schutz oder Unglück, je nach dem Verhalten seiner "Neffen" unter Tage. Auch heute vertrauen sich tausende Minenarbeiter dem "Tio" an.
Die Religion der Inka und die alten Zeremonien wurden zwar verboten, jedoch heimlich unter einem katholischen Deckmantel weitergeführt. So wurde der Berggott Huari zum Tio, dem Teufel, und die Göttin Anusta verwandelte sich in die Virgen del Socavon, die heilige Jungfrau.
Schon bei den legendären Urus, den Ureinwohnern Oruros, wurde "Huari" verehrt, ein Gott der Kraf, des Feuers und der Berge, der die in Degeneration befindlichen Urus ausrotten wollte und ihnen deshalb den Frosch, die Schlange, die Echse und ein Herr von Ameisen zur Vernichtung schickte.
Nur durch das Wohlwollen der jungfräulichen Göttin "Ñusta" konnten die Urus gerettet werden. - Sie verwandelte Frosch, Schlange und Echse in Steine und das Herr der Ameisen in die Sanddünen in der Umgebung der Stadt Oruro. Der Legende nach flüchtete der besiegte "Huari" endgültig in das Innere seiner Berge, zu den reichen Mineralen, um nie wieder hervorzukommen.
Fern von ihren Heimatgemeinden huldigten die von ihren Herren zur Zwangsarbeit verpflichteten Aymara-Indianer in den Tiefen der Minen weiter ihrem Gott "Huari", nunmehr umgedeutet zum Herr der Höhlen, zum "Tío". Hier nahm der "Tío" wohlwollende Züge an und die Minenarbeiter begannen, ihm Chicha, Alkohol und Coca zu opfern, um im Gegensatz Reichtum und Schutz zu erbitten.
El Tio (der Onkel) ist eine Tonfigur auf einem Thron im Innern der Stollen. Eine Kippe ziert seinen Mund, während die Figur mit Lametta und Cocablättern bedeckt ist. Ein überdimensionaler Penis zeigt seine Kraft und seine Fruchtbarkeit. Ähnlich wie Pachamama die Erdmutter wird auch er mit dem mitgebrachten Whisky gesegnet.
Poppe, René <1943, La Paz - >:. El paraje del tío y otros relatos mineros. -- La Paz : Ediciones Piedra Libre, 1979. -- 148 S. -- (Colección Narrativa)
Aus der Titelerzählung:
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Er richtete seine Karbid-Lampe her, zündete sie an und drang ein in die tiefe Dunkelheit des Stollens. Gleich zu Beginn seines Weges, als er die am Felsen klebende Dunkelheit beleuchtete, sah er die aufgeschichteten Felsbrocken. Der Stollen war schmal und die Luft abgestanden; es fiel ihm schwer, zu atmen. Vorsichtig
ging er weiter, immer darauf bedacht, nicht auf die Gase zur treffen, die ihn auslöschen, ihn für immer zwischen den Felsbrocken hinstrecken würden. Er wusste, wenn seine Lampe verlöschen würde, musste er sich umdrehen und vor dem Grubengas fliehen. Aus diesem Grunde hielt er seine Karbid-Lampe am weit vorgestreckten Arm. Seine Augen suchten den Fels nach Anzeichen für Erzadern ab. Die Niedergeschlagenheit lastete schwer auf ihm. Es war eine verlassene Mine, von allen abgeschrieben. Warum bin ich hierhergekommen? Seine Füße bewegten sich langsam vorwärts. Er schaute von einer Seite zur anderen. Er wollte schon stehen bleiben, unschlüssig, ob er weitergehen oder zurückgehen sollte; das bis zum Ende des Stollens vordringende Licht seiner Lampe ließ etwas aufleuchten. Er dachte, dass dort die Erzader verlief und schritt aufgeregt, ohne sich um die Felsbrocken und die Gase zu kümmern, weiter. Vor dem Glanz stehend, der die ganze Stelle erhellte, sank ihm das Herz in die Hose. Dort saß der Tío und beobachtete ihn mit diesem Ernst, den derjenige an den Tag legt, der auf die Ankunft des Glücklichen wartet.
»Tío«, murmelte Ramón.
Er war ziemlich groß für den wenigen Platz, den es an dieser Stelle gab. Er befand sich dicht an der Felswand, so als ob er direkt aus dem Felsen käme. Er saß da, mit eng um seinen Körper geschlungenen Armen. Seine Augen funkelten in verschiedenen, kräftigen Farben: rot, blau, grün, rot, gelb. Seine wie zum Rauchen geformten Lippen hielten keine Zigarette.
»Tío«, wiederholte Ramón ehrfurchtsvoll.
Der Penis war riesig und dick. Ramón machte eine Zigarette an, steckte sie ihm zwischen die Lippen. Aus seinem Coca-Beutel, den er schwerfällig aufknüpfte, nahm er eine Handvoll Blätter. Während er die Blätter um den Tío herum verstreute, sah er, woher das Wasser kam; direkt aus dem Tío heraus, aus seinen aus dem Fels gehauenen Füssen.
»Tío«, sagte Ramón dankbar.
Der Tío schaute ihn gelassen, aber forschend an. Die Teufelshörner und die spitzen Ohren verliehen ihm etwas Übernatürliches.
»Du Verkommene«, murmelte Ramón, »Du verkommene Hure, Du Kupplerin, Du.«
Er lehnte sich an die so von ihm genannte Felswand und streichelte sie.
»Verkommene, kleine Hure«, murmelte er der Felswand wieder und wieder zu
Er streichelte sie und säuberte sie dabei ganz vorsichtig von der daran haftenden Erde.
»Du Kupplerin, Du«, sagte er wieder und bedauerte, keinen Schnaps, und sei es selbst der hochprozentige, dabei zu haben, um ihr damit die Ehre zu erweisen und ihr seine Dankbarkeit zu zeigen. Aber ein paar Coca-Blätter bot er ihr dar.
Danach begann er, wie er es in allen Minen machte, mit der Mita. Er drehte sich in Richtung Ausgang und räumte im Laufe des Vormittags die Strecke von Felsbrocken frei. Der Stollen war nicht sehr weit. Als schließlich auch die kleinen Felsstücke aus der Mine geschafft waren, begann seine eigentliche Arbeit. Zuerst untersuchte er die aus der Decke und den Wänden herausragenden Felsstücke und löste sie heraus. Mit dem dünnen, langen Gesteinsbohrer klopfte er alles ab, und wenn es hohl klang, suchte er den Riss, führte die Spitze hinein, trat zurück und bewegte sie darin kräftig hin und her, bis der Felsbrocken sich löste. Wenn dieser dann auf dem Boden lag, wurde er begutachtet. Kein Erz, aber das Vertrauen darauf, es zu finden, verdoppelte seine Bemühungen. Jedes Felsstück wog Ramón gekonnt in der Hand ab und prüfte so sein Gewicht. Kein Erz, und weiter gings. Stück für Stück arbeitete er sich vor. Nachmittags dann, als er sich schon in der Nähe des Tío befand, löste sich, nachdem er in einem eher normal großen Riss herumgestochert hatte, ein drei bis vier Tonnen schwerer Felsbrocken. Sein Aufprall war dumpf und zermalmend. Es war so, als ob der ganze Stollen aus dem ewigen, bis dahin unseligen Schlaf aufgerüttelt würde. Schreckensbleich, weil er wieder einmal mit dem Leben davongekommen war, und ohne darauf zu warten, dass der Staub abzog, brachte er seine Karbid-Lampe näher an das gerade entstandene Loch heran und da, breit und schwarz, zog sich die Zinnader lang in nördlicher Richtung dahin.
Die Zinnader sehen, sie überwältigt drücken und abtasten, sie streicheln, langsam mit der Hand an ihr entlangfahren, war eins.
»Danke, Tío«, rief er aus, »danke, Du verkommene Kupplerin.«
Das Licht der Karbid-Lampe projizierte Ramóns riesigen Schatten: waagrecht und über den Boden und die großen Felsbrocken kletternd, senkrecht über die unebenen Wände, gekrümmt über die Decke.
»Danke, Tío«, wiederholte er.
Seine Augen funkelten zufrieden, genauso wie die eines Tío. Sein schweißnasses Gesicht leuchtete.
»Danke, Du verkommene Hure, Kupplerin.«
Sein Herz hüpfte vor Freude: er kommt an die Tür seiner Hütte. Trägt eine schwere Last auf seinem Rücken. Stößt die Tür auf. Seine Socia ist überrascht, ihn zu sehen. Wollte er nicht viele Tage wegbleiben? Die Kinder sehen ihn und klammern sich an die Polleras ihrer Mutter. Er setzt die Last ab. Die ganze Ladung lässt er ungestüm fallen. In normal großen Stücken rollt der Zinn durcheinander. Seine Socia lächelt. Er lächelt. Der Tío schaut ihn immer noch ganz ruhig an.
»Danke, Tío«, sagte er noch einmal.
Es war kein Staub mehr in der Luft. Die Stille ist ein Sirren. Er nimmt seine Hand von der Zinnader, hebt die Karbid-Lampe hoch. Noch einmal beleuchtet er dieses Zinnband, das sich wie eine schwarze Schlange im Fels abzeichnet. Er fasst es nicht noch einmal an. Sehr rein, sagt er zu sich und geht in Richtung Ausgang: Vorschlaghammer, Bohrer, Ausruhen, Kuyunas, Coca. Vor allem Ausruhen. Draußen lässt das scheidende Licht seine Augen schmerzen.
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Übersetzung: Die Heimstatt des Tío : Erzählungen aus Bolivien / Manuel Vargas (Hrsg.). -- Zürich : Rotpunktverlag, ©1995. -- ISBN 3-85896-121-6.