9. Die Mysterien von Traktok und Chemre
Leh

Am Morgen liegt eine wunderbare Ruhe über Leh, kein Motorenlärm, kein Gehupe, kein Geschrei. Alle Geschäfte sind geschlossen und nur wenige Menschen auf der Straße. Die Stadt ist ruhig, aber voller Spannung.

Überall Polizisten, dazu ein Lastwagen schwerbewaffneter Soldaten, Maschinengewehr und Schnellfeuerwaffen im Anschlag. Auch die Polizisten sind meist mit Gewehren ausgerüstet, auch einige Polizistinnen mit Schlagstöcken stehen herum. Dann ertönen Trommeln, Rufe, Motorräder, mehrere beflaggte PKWs und Lastwagen mit Leuten auf der Hauptstraße. Sie schreien Parolen. Die Polizisten springen auf, die Offiziere benutzen ihre Handys. Die Wagen fahren unbehelligt weiter. Noch dreimal tauchen sie auf mit Trommeln und Geschrei. Inzwischen sind wir durch die Ruinen und Häusergassen der Altstadt weitergegangen. Dort ist eine Straße mit bunten Tüchern abgesperrt. Auch hier viele Polizisten. Als wir weiter vordringen, hören wir das Klingeln von Glocken und das Gemurmel einer lamaistischen Zeremonie. Vor einem Stupaschrein findet auf engstem Raum vor dem Altstadtgompa eine religiöse Demonstration statt.

Später können wir von einer anderen Gassenseite aus sehen, dass der schon gestern mit viel Pomp empfangene Rinpoche, ein älterer Herr mit ausgemergeltem Gesicht mit stark hervortretenden Gesichtsknochen, der Zeremonie beiwohnt. In der Nähe steht ein großes Festzelt, wo die Frauen, die der religiösen Zeremonie nicht beiwohnen dürfen, in ihren Festtrachten mit Zylinder-Hüten, die mit einem Ehrenschal umwunden sind, warten. Nebenan wird in riesigen Töpfen das Essen von einigen Männern zubereitet. Auch einige Moslems stehen mit ihren typischen Hütchen dabei. Zwischen Buddhisten und Moslems scheint Friede zu herrschen, Militär und Polizisten schauen zu. Wir haben einiges über die politischen und religiösen Spannungen erfahren, über die Benachteiligung von Buddhisten bei der Vergabe von öffentlichen Posten, über die Benachteiligung von Ladakhis, deren Heimatsprache zugunsten von Hindi und der Kaschmirsprache Urdu unterdrückt wird. Seit dem 17. Jahrhundert steht provozierend mitten in der Stadt eine große Moschee, allerdings steht nur einige hundert Meter weiter die christliche Versammlungsstätte der Herrnhuter Missionare. Die Buddhisten verstehen sich wegen der Übereinstimmungen in ihren Glaubensinhalten wohl am besten mit den Hindus. Wie sehen die Ladakhis dieses Gemenge? Vor einigen Tagen sind drei Mönche ermordet worden, man sagt, von Moslems.
Der letzte Nachmittag in Leh ohne Führer und ohne Auto. Wir streifen durch die Oasenlandschaft des nördlichen Lehtales. Bei unserem Gang entlang der kleinen, sprudelnden Gebirgsbäche kommen wir plötzlich zum Tempel unseres Führers und Mönchs Thupstan Yeshe. Er schenkt uns einen Tee und wir geben ihm das Trinkgeld für seinen Begleitung in den letzten acht Tagen. Weiter das Tal hinauf durch fruchtbare Terrassenfelder, an Bauernhäusern und Tschörten vorbei kommen wir zum letzten Dorf im Tal, das an einem steilen Berg klebt wie ein Mönchskloster, geschützt durch viele Besenaltäre und Geisterfallen. Auf dem höchsten Punkt stehen Heiligtümer für alle mächtigen Naturdämonen, viele Steinmännchen und ein Tschörten mit einer Anhäufung von Gehörnen. Dies ist ein heiliger Ort, weil viele Quellen hier entspringen. Der Weg zurück durch die Felder im warmem Licht der Abendsonne mit Blick auf die schneebedeckten Berge begeistert uns.


Die Burg oberhalb von Leh

Delhi

In Leh sind die Straßen immer noch voller Polizisten, als wir am Vormittag zum Flughafen fahren. Dort sind noch mehr Polizisten. Mehrfache Kontrollen. Das Handgepäck wird mehrfach durchsucht. Die Inder haben Angst. In den letzten Tagen hat es mehrfach Bombenexplosionen in Kaschmir gegeben mit vielen Toten und Verletzten. Noch mehr Attentate sind angekündigt. Der Unabhängigkeitstag und der Tag der Teilung Indiens wird in drei Tagen gefeiert. Deshalb herrscht die höchste Alarmstufe.
In Delhi begegnen wir wieder unserem bekannten Indien mit den Menschenmassen und dem Krach, dem bunten Gemisch von Verkäufern, Läufern und Stehenden, den Bettlern in den Straßenunterführungen, den kleinen blumenumkränzten Shivaaltären auf den Gehwegen, aber auch mit den breiten, sauberen Straßen und den grünen Bäumen in kleinen Parks oder auf dem Mittelstreifen.


Altes Observatorium in Delhi, Jantar Mantar („Magisches Gerät“), eines von fünf historischen astronomischen Sternwarten, die Maharaja Jai Singh II. zwischen 1724 und 1734 in Delhi, Ujjain, Mathura, Varanasi und Jaipur errichten ließ zur Astronomie und Astrologie.

Noch haben wir die Monsunzeit, und es ist heiß und schwül. Das Hotel ist eine Überraschung, es ist ein absolutes Superhotel. In der Badewanne nehme ich ein Massage- und Sprudelbad, nehme den vorhandenen Bademantel, gehe in den Schlafraum und probiere die drei Fernbedienungsschalter, um die Vorhänge zu schließen, die Lampen anzuschalten und auch den Fernsehapparat. Dann überlege ich, ob ich ein Videoband für den Recorder bestellen soll oder ob ich erst das Faxgerät nutzen soll. Soll ich das Telefon im Zimmer oder im Bad benutzen? Wir entschließen uns, mit dem Handy eine Kurznachricht nach Deutschland zu senden. Hier funktioniert es endlich wieder.
Wir sitzen im 9. Stock unseres 5 Sterne-Hotels und denken an die einfachen Unterkünfte, das schlichte Essen, blicken auf die anderen Hochhäuser und in unsere Menükarte.
Im Schlaf erscheint sie wieder, die Götterlandschaft des Himalaya und auf den Straßen in den Süden drängt das Heer der Dämonen in Richtung Delhi.