2010-II
Schreibwerkstatt
Günter Neuenhofer, VHS-Bocholt, 8.9. 2010
Kreativer Umgang
mit Texten und Wörtern
1. Texte als Vorbild.
Die Struktur übernehmen und mit neuem Inhalt füllen.
Günter Eich, 1945/46
Inventur
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient er als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Die Bleichstiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
Bekenntnis (g. neuenhofer)
Dies ist mein Schreibtisch,
dies ist mein Stuhl,
hier mein PC,
mit dem großen Monitor.
Tastatur:
Mein Schreibgerät, mein Radiergummi.
Ich halte die Maus
in der Hand.
Zeige- und Mittelfinger,
bereit zu kopieren, einzufügen,
das Gedachte zu löschen,
das Geschriebene,
meine Worte und Sätze.
Der Drucker nicht,
das Internet, die Mail
ist mir das Wichtigste
für Kontakte.
Dies ist mein Mundwerk,
dies meine Stimme,
dies mein Buch,
meine Kreativität.
Juan Gustavo Cobo-Borda (geb. 1948 in
Bogotá)
Wie jetzt noch ein Gedicht schreiben,
warum nicht endgültig schweigen
und uns viel nützlicheren Dingen widmen?
Warum die Zweifel vergrößern,
alte Konflikte, unverhoffte Zärtlichkeiten
neu durchleben;
dieses Quentchen Lärm
einer Welt hinzufügen
die mehr ist, die es doch nur zunichte macht?
Wird irgendwas klarer durch solch ein Knäuel?
Niemand braucht es,
Relikt vergangener Herrlichkeiten,
wem hilft es, welche Wunden heilt es?
Ars Vivendi (g.neuenhofer)
Wie jetzt noch philosophieren,
warum nicht endgültig aufhören,
nach Sinn zu suchen?
Warum die Unzufriedenheit vergrößern,
alte Wahrheiten, neue Theorien
neu durchleben,
diese Quälereien
meinem Leben hinzufügen,
das mehr ist
ohne die stetigen Fragen?
Wird irgendetwas klarer durch Grübelei?
Wer braucht sie, die Antworten,
harter Absatz anderer Jahrhunderte,
wem helfen sie, wen machen sie glücklicher?
Ars fingendi - Wie jetzt noch
Häuser bauen, wie jetzt noch Menschen zeugen
auf gemalten Wänden.
Kunst künstlich zeugen, bodenlos im Strom der Arts.
Schönheiten finden im Wahren, im schönen Schein nach Wahrheit suchen.
Vollendet sollen Körper und Seele scheinen.
Facelifting, Brainwashing.
Kann ich wählen, wechseln, fliehen aus meinen Filmgeschichten?
Sag mir die Welt, zeige sie her, televisionär verfügbar, animatorisch.
Ich zappe und switche. Sie bleibt ein verpixeltes Bild.
Die Hardware ist Software. Verpackung statt Ware.
Schicke Erlebniswelten. Ein Videospiel.
Es stimmt alles und nichts. Kunst ist, Wirklichkeit zu dichten - ästhetische Zeiten.
(g.neuenhofer)
2.
Blackout-Poems: Neue Texte entstehen durch Einschwärzen einer Zeitungsseite
oder einer Buchseite
Reduktion von Worten im Essay „Was ist Aufklärung?“ von Immanuel Kant (die
ersten beiden Abschnitte) (g.neuenhofer)
Was ist
?
Menschen, frei
gesprochen
Es ist so
bequem, zu sein.
Habe ich
so
brauche ich
ja nicht,
andere werden das schon
sehr gefährlich
allein gehen.
Daher nur
wenige.
Was ist ?
Menschen,
selbstverschuldet
Faulheit und Feigheit
zeitlebens unmündig
ein Buch, das für mich Verstand hat,
einen Seelsorger,
der für mich Gewissen hat,
einen Arzt,
der für mich die Diät beurteilt,
das verdrießliche
Geschäft
macht doch
schüchtern
hat
sie liebgewonnen
Fußschellen
einen
sicheren Gang
tun.
3. Texte
verkürzend nacherzählen bzw. erweitern
Erzähle den Inhalt folgender Verse in 5, 10 und 20
Zeilen. Veränderungen sind möglich.
Verkürzungen von „Die letzten
Worte meiner englischen Großmutter“ (1920,
W.C.Williams)
(nach Wasserzeichen der Poesie S.17)
In einem kleinen Zimmer, in dem nur ein
Bett steht, liegt eine alte Oma, die krank ist. Der Enkel kommt sie besuchen
und meint, das ist alles nicht so schlimm. Aber in dem Moment kommen auch schon
zwei Pfleger, packen die Oma und ab mit ihr ins Krankenhaus an der Ulmenallee.
In einem fast leeren Zimmer steht ein
Bett. Am Rande des Bettes liegt eine ältere Frau. Sie kriegt Besuch. Es ist ihr
Enkel. Die Großmutter ist krank. Ihr Enkel meint, es sei nicht so schlimm. Aber
ehe er sich`s versieht, kommen die Pfleger aus dem Krankenhaus, die Abfuhr mit
der Bahre; schnappen sich die Großmutter, schnell ins Auto. Auf dem Weg ins
Krankenhaus sieht die Großmutter noch einige eigenartige Dinge an den Bäumen in
einer Ulmenallee, und im Handumdrehen ist sie da, im Krankenhaus.
Die englische Großmutter liegt auf ihrem Zimmer im Bett, und das Bett ist
ganz verkrumpelt und ranzig. Das Geschirr steht auf dem kleinen Nachttischchen,
und die Essensreste sind noch darauf. Die Großmutter liegt klein und verschrumpelt
auf der Seite, mürrisch, und schnarcht. Da kommt der Enkel zu Besuch. Er weckt
sie auf und sagt: Liebe Großmutter, jetzt ist es aber genug. Ich bringe dich
uns Krankenhaus. Und sie sagt: Auf keinen Fall. Ich will nicht ins Spital. Und
der Enkel sagt: Doch, doch! Dort kommst du wieder auf die Höhe. Nein, nein,
ruft die Großmutter, du willst mich nur loswerden. Aber mit mir kannst du das
nicht machen. Doch da kommen schon die Pfleger herein und legen sie auf die
Bahre, und sie schreit: Au, au! Und herrscht sie an: Was ist denn das? Das soll
eine fürsorgliche Pflege sein? Aber die
Sanitäter schieben sie einfach in den Wagen, und sie fahren mit ihr in Richtung
Krankenhaus durch eine Ulmenallee. Die Großmutter fragt noch: Was ist denn das für ein flaumiges Zeug
da draußen? Geht weg, ich will nichts mehr davon wissen. Und dann dreht sie den
Kopf weg, und wahrscheinlich ist sie gestorben.
Die letzten
Worte meiner englischen Großmutter (1920, W.C.Williams) Ein paar schmutzige Teller runzlig und beinah blind gebt mir was zu essen, Gebt mir was zu essen! kannst tun was du willst. au! schrie sie, au, angenehme Pflege, was? aber ich kann euch sagen, kamen wir durch eine lange
Ulmen- ist das für ein flaumiges Zeug |
Beispiele lyrischer Kurzformen
Haiku von Kobayashi Issa (1763-1828)
Ein Mensch
und eine Fliege
im Raum.
Eine Fliege nur
und ein Menschlein ganz allein
in dem großen Saal.
Die kleine Schnecke
ganz langsam steigt sie hinauf
auf den Berg Fuji.
Issa zählt zu den „Großen Vier“ der japanischen Haiku-Dichtkunst: Matsuo Bashō, Buson, Shiki, Issa.
Elfchen
1.Zeile: ein Wort /ein
Gedanke, ein Gegenstand, eine Farbe, ein Geruch o.ä.
2.Zeile: zwei Wörter/was macht das Wort aus Zeile 1
3.Zeile: drei Wörter /wo oder wie
4.Zeile: vier Wörter/ was meinst du?
5.Zeile: eine Pointe oder ein
zusammenfassendes Wort
Issa-Haiku
(g.neuenhofer)
Ich
und die Welt
in dieser Zeit.
Katastrophen
und ich ganz allein
in wahnwitziger Zeit.
Sarrazin
und ein Gen
im TV
Ein rebellisches
Gen
und ein Banker
in aller Munde
Elfchen
(g.neuenhofer)
Klänge
eines Cellos
hinter der Hecke
ich lausche gespannt hinüber
Lärm
4. Benutze einen
Text als Steinbruch und verändere ihn unter Nutzung des Sprachmaterials
There
were some dirty plates
and a glass of milk
beside her small table
near the rank, disheveled bed---
Wrinkled and nearly blind
she lay and snored
rousing with anger in her tones
to cry for food,
Gimme something to eat---
They're starving me---
I'm all right I won't go
to the hospital. No, no, no
you can do as you please.
She smiled, Yes
you do what you please first
then I can do what I please---
Oh, oh, oh! she cried
as the ambulance men lifted
her to the stretcher---
Is this what you call
making me comfortable?
By now her mind was clear---
Oh you think you're smart
you young people,
she said, but I'll tell you
you don't know anything.
Then we started.
On the way
we passed a long row
of elms. She looked at them
awhile out of
the ambulance window and said,
What are all those
fuzzy--looking things out there?
Trees? Well, I'm tired
of them and rolled her head away.
Schreibwerkstatt
Günter Neuenhofer, VHS-Bocholt, 15.9.2010
1. Mit
vorgegebenen Wörtern arbeiten
Für ihre dichterischen Collagen bedient sich Herta Müller der Schere und
nicht des Stifts: Aus Zeitungen und Zeitschriften schneidet sie einzelne Wörter
oder Buchstaben heraus und klebt sie zusammen, bis sie sich reimen. Frei
schwebende Sätze in "surrealer Anmut"
entstehen, wie "ICH frage
GIBT ES DA kein anderes Tier als DIESE Mundharmonika AUS Wind".
Nach der FAZ kommt Grammatik ins Wackeln
und die Reime purzeln, das Reale kippt ins Surreale und Groteske.
Aus: Die blassen Herren mit den Mokkatassen
2. Dialoge mit
Sprachfloskeln aus Sprachbüchern
Beispiel: Die
kahle Sängerin von Eugene Ionesco
3. Morgenstern: Galgenlieder
Ein Knie geht einsam durch die
Welt.
Es ist
ein Knie, sonst nichts!
Es ist
kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist
ein Knie, sonst nichts.
Ein Seufzer lief
Schlittschuh auf nächtlichem Eis
und träumte von Liebe und Freude.
Es war an dem
Stadtwall, und schneeweiß
glänzten
die Stadtwallgebäude.
Der Seufzer
dacht an ein Maidelein
und blieb
erglühend stehen.
Da schmolz die
Eisbahn unter ihm ein -
und er sank
- und ward nimmer gesehen.
Dialoge mit Sprachfloskeln aus Sprachbüchern
Beispiel: Die
kahle Sängerin von Eugene Ionesco
Äußerlich
durchaus normal anmutende Bühnenfiguren - in der Hauptsache zwei englische Ehepaare
namens Smith und Martin - führten eine aus verballhornten Gemeinplätzen
("Wer heute ein Ei kauft, hat morgen zwei") und Alltagsbanalitäten
("Der Joghurt ist für den Magen ausgezeichnet, auch für die Nieren, den
Blinddarm und die Apotheose") zusammengesetzte unsinnige Konversation, die
zuletzt in grotesken Wortsalat ausartete: "Der Papapapst ist eingepappt in
Pappe."
„MRS. SMITH …Sieh mal an, es ist neun Uhr.
Wir haben Suppe, Fisch,
Kartoffeln mit Speck und englischen Salat
gegessen. Die Kinder haben englisches
Wasser getrunken. Wir haben gut gegessen
heute abend, weil wir in der Umgebung von
London wohnen und weil unser Name Smith
ist.“ (Ionesco [1985] Die kahle Sängerin,
1. Szene)
MARY Elisabeth und Daniel sind jetzt zu
glücklich, um mich hören zu
können.
Deshalb kann ich euch ein Geheimnis
verraten: Elisabeth ist nicht Elisabeth
und Donald ist nicht Donald. […] Sie macht
ein paar Schritte zur Tür, kehrt
um und wendet sich ans Publikum: Mein wahrer wahrer Name ist Sherlock Holmes.“
(Die kahle Sängerin, 5. Szene)
„Die Worte wurden zu tönenden, vollkommen
sinnlosen Schalen. Wohlverstanden auch die Figuren
verloren ihre Psychologie. […] Beim Schreiben
des Stückes […] wurde mir richtig übel und schwindlig.
Es ekelte mich tatsächlich an. Ab und zu mußte
ich mich aufs Sofa legen. […] Ich stellte mir vor, so
etwas wie die ‚Tragödie der Sprache’
geschrieben zu haben. Bei der Aufführung überraschte es mich
ziemlich, als ich die Zuschauer lachen hörte.
Mein Stück amüsierte sie (und amüsiert sie immer noch).”
(Ionesco 1985, Bd. 6, S. 183f)
Die englische Wanduhr im Wohnzimmer der Smiths schlägt siebzehn englische
Schläge. "Sieh mal an, es ist neun Uhr", sagt Mrs. Smith und leitet
damit eine Unterhaltung mit ihrem Ehemann ein. Es ist eine jener Unterhaltungen
- über Gemüse, das Wetter, die Kinder, Verwandte und Bekannte - die von
äußerster Banalität und Trivialität gekennzeichnet sind; der unsinnige Dialog
zwischen einander völlig entfremdeten Ehepartnern.
Mr. und Mrs. Martin kommen auf Besuch zu den Smiths. Während sie auf die
Hausherren warten, entspinnt sich ein sonderbares Gespräch. Beide entdecken,
dass sie aus derselben Stadt kommen, im gleichen Zug nach London gefahren sind,
im selben Haus wohnen, im gleichen Bett schlafen, das gleiche Kind haben. Sie
entdecken durch Zufall ihr gemeinsames Leben - ihre Einsamkeit im
Nebeneinander.
Konversation zwischen den Smiths und den Martins: peinliches Schweigen;
jeder x-beliebige Gegenstand wird zum rettenden Strohhalm, an den sie sich
klammern, bis er ihnen wieder davonschwimmt.
Dann taucht ein Feuerwehrhauptmann auf, für den leider auch hier kein Feuer ausgebrochen ist. Er treibt mit seinen stupiden Witzen die tödliche Langeweile zu dem Punkt, wo sie in eine unkonntrollierte und nervöse Überspanntheit umschlägt und sich Luft macht in einem wilden Durcheinander. Darüber fällt der Vorhang und ... - geht wieder auf mit dem Anfangsbild ...
Ergebnisbeispiele von Günter Neuenhofer
(Reduktion eines Interviews)
Bonjour, Monsieur.
Pardon, Mademoiselle, warum flüstern sie so?
Lauter!
Soso.
Es ist mir herzlich egal. Das eine hat mit dem andern nichts zu tun.
In ihrer Kunst sind sie alterslos.
Verraten Sie doch bitte mal, wie das geht.
Mon dieu! Zum Frühstück esse ich ein Croissant und Früchte, dann noch ein
leichtes Mittagessen und das war es dann.
Anders geht es nicht?
Ich bin der Meinung, dass Sie ihre Türe jedem öffnen sollten.
Das Einzige, was mein Vater mir mit auf den Weg gab, war der Rat: Benimm
dich immer anständig.
Mir fehlte es an Bildung, an Benehmen, den Ritualen.
Ich habe das schnell erkannt.
Genauso war es.
Tja, ich verstehe das bis heute nicht.
Lassen wir das.
Au revoir, ich muss mich verabschieden, denn ich bin verabredet .
welche Illusion!
Mit leiser Stimme:
Wurzeln haben keine
Heimat mehr, wenn sie ihren Ursprung verlassen haben. Auf das erste Wachstum
folgen vielfältige Verzweigungen, der Weg zum Wasser, der Weg zur Nahrung, der
Weg durch die erdigen Schichten vorbei an hartem Gestein, der Weg der Spalten,
die sich scheinbar auftun und doch wieder enger werden und sich verschließen.
Kein Leben. Kühle. Der saure Boden, in dem nur Moorpflanzen sich wohl fühlen.
Verirrte oder verpuppte Wesen, die sich hier nur für eine vorübergehende, kurze
Zeit eingenistet haben. Trunken vor Tod.
Wort- und Satzteile aus einem FAZ-Magazin:
Der einfache Weg
Wie riecht
denn das? Raus
aus dem Haus.
Ein Muss für Liebhaber. Mein Ding.
Abtauchen.
Im Sonnenlicht die enge Straße Wie eine Welt entworfen und getragen.
Was taugen Tatsachen heute ist damals.
den
Augenblick genießen nichts wie rein
mit Reiz
für Herbst vom Feinsten.
Ortsgebunden wieder Entspannung fürs
Leben.
Wie weiter? Aus alt mach neu.
Glück und Genugtuung verändern
die Lebensart.
Nun geht`s.
Nun bin auch ich
Schreibwerkstatt Günter Neuenhofer, VHS-Bocholt, 22.9.2010
Surrealistisches Erzählen
1. Denke Dir zum Bild von Frida
Kahlo, „Selbstbildnis als Tehuana“ oder „Gedanken an San Diego“, 1943, eine
kurze Erzählung aus.
2. Schreibe den Inhalt dieser Geschichte in höchsten sieben Sätzen auf.
3. Schreibe den Anfang der Geschichte in etwa fünf Sätzen auf, indem Du aus
folgenden stilistischen Beispielen ein Vorbild auswählst.
Sechs stilistische Vorbilder aus „Lateinamerika“, Suhrkamp TB 810
Von Asturias, Casares, Arreola, Vargas Llosa, Varela, Pinon
Ergebnisbeispiele
von günter neuenhofer, 26.9.2010
Cuento1
Ein älterer Mann findet die Möglichkeit, eine jüngere
Frau von sich abhängig zu machen, indem er sein Bild mit Hilfe von
Laserstrahlen in das Gehirn der Frau eingräbt. Die Frau bricht alle Beziehungen
zu früheren Bekannten ab. Mit der Zeit übernimmt sie nicht nur seine Denkweise,
sondern auch seine Gestalt. Der Mann ist manchmal nicht mehr in der Lage, die
Frau als solche zu erkennen. Er nimmt sich selbst in zweifacher Weise wahr. In
Eifersucht auf sein zweites Ich, versucht er ein Ich zu vertreiben, ohne zu
wissen, welches sein eigentliches Ich ist. Es kommt dazu, dass er das
Männer-Ich tötet, so dass die Person sich mehr und mehr als Frau erlebt.
Irgendwann findet diese alt-neue Frau in ihrer Umwelt Spuren ihrer Verwandlung,
die sie verwirren. Zum Schluss beginnt sie, sich als Mörderin zu begreifen.
Anfang der Geschichte1:
Wurzeln haben keine Heimat mehr, wenn sie ihren Ursprung
verlassen haben. Auf das erste Wachstum folgen vielfältige Verzweigungen, der
Weg zum Wasser, der Weg zur Nahrung, der Weg durch die erdigen Schichten vorbei
an hartem Gestein, der Weg der Spalten, die sich scheinbar auftun und doch
wieder enger werden und sich verschließen. Kein Leben. Kühle. Der saure Boden,
in dem nur Moorpflanzen sich wohl fühlen. Verirrte oder verpuppte Wesen, die
sich hier nur für eine vorübergehende, kurze Zeit eingenistet haben.
Cuento2
Ein Mädchen hat alle Wände ihrer Wohnung mit Spiegeln und
großen Landschaftsbildern ausgestattet. Sie will sich in einer Traumlandschaft
erleben. Zunächst verändert sie ihr Aussehen, nimmt Schminke, Hüte, Schmuck und
Tücher, um sich einen besonderen Ausdruck zu verleihen. Sie hängt Spiegel auf
und fragt Immer wieder andere Menschen, wie siehst du mich. Als sie bei einem
Spaziergang Fotoporträts in einem Schaufenster sieht, beginnt sie sich mit
einer Kamera zu fotografieren und schickt die Fotos per Internet an möglichst
viele Menschen. Sie bekommt viele Einladungen und träumt von Begegnungen. Eines Nachts geht sie traumwandlerisch zur Tür
hinaus und wird von einem Auto überfahren.
Anfang der Geschichte2:
Die graue Ratte
läuft nicht frei in der Wohnung herum, zu sehr fürchte ich ihren Anblick.
An dem Tag, an dem ich von meinem Freund dieses Tier bekam, wusste ich, dass
mein Gefühl für ihn gestorben war. Die Ratte war das Symbol unserer Abneigung.
Ihr langer dürrer Schwanz, ihr Geruch, ihre blitzenden, verlogenen Augen und
ihre aggressiven Sprünge gegen das Gitter des Käfigs ließen meinen Hass auf das
Geschenk mehr und mehr wachsen. Dieser Hass wandte sich auch gegen meinen
Freund. Ich wollte ihn nicht mehr sehen, fand ihn unerträglich. Dieses
abscheuliche Gefühl erfüllte mich mehr und mehr. Wer war ich? Indem ich mich mit meinem Aussehen beschäftigte,
mich in Spiegeln betrachtete, suchte ich auch die Bewunderung und Liebe anderer
Menschen. Ich wollte keine graue Ratte in einem engen Käfig sein.
Cuento3
Eine Frau hat im Sommerurlaub in einer abgelegenen
Waldgegend einen ungewöhnlich gut aussehenden Mann kennengelernt, den sie nicht
vergessen kann. Als sie in ihrer Heimatstadt wieder ihrer Tätigkeit als
Sekretärin einer Holzfirma nachgeht, fallen ihr im Holzlager einige Spinnen
auf. Bei Anbruch des Herbstes sieht sie auch in ihrer Wohnung die Gewebe von
Spinnen. Während des Winters nehmen die Gewebe immer mehr zu. In diesen Geweben
kann sie eine Spinne mit zwei weißen Punkten erkennen. Die Punkte verwandeln
sich nachts in die Augen des Mannes, den sie im Sommerurlaub kennengelernt hat.
Dabei hat sie das Gefühl, dass die Spinne mitten auf ihrer Stirn sitzt. Sie
wechselt die Wohnung und wechselt schließlich das Land. Aber die offene Wunde
auf ihrer Stirn und der Schmerz verschwinden erst, als sie sich in einen
anderen Mann verliebt.
Anfang der Geschichte3:
Paulina liebte Pedro. Er füllte sie aus, ihre Gedanken,
ihren Alltag, ihre Nächte. Sie liebte ihn so sehr, dass sie keine Erinnerungen
mehr an frühere Begegnungen mit Männern hatte. Mit ihm hatte ein neues Leben
begonnen. Pedro hatte sie eines Tages in einem Eisenbahnwagen angesehen und sie
fühlte und sah in seinen Augen die Worte: Mir gefällt das Rot deines Kleides,
mir gefällt das Rot deiner Lippen, mir gefallen deine weißen Zähne, mir gefällt
dein Lächeln in deinen Augen. Da strömte eine wohltuende Wärme über ihr
Gesicht. Alle Angst fiel von ihr ab. Die offene Wunde auf ihrer Stirn schloss
sich und sie fühlte sich leicht und frei wie ein Vogel.
Schreibwerkstatt Günter Neuenhofer, VHS-Bocholt, 29.9.2010
Absurder Humor – Limericks
Zwei daktylische Langzeilen (dreihebig):
1. Person der Handlung mit Ortsnamen, der das erste Reimwort abgibt.
2. Situation, die nicht immer alltäglich
ist.
Zwei anapästische Zeilen (zweihebig):
Die Situation wird absurd.
Schlusszeile: Pointe oder Variation des Anfangs (dreihebig)
Reimschema und Betonung: aa -bb -a
There was a young lady from Riga,
Who smiled as she rode on a tiger.
They returned from the ride
With the lady inside
And the smile on the face of the tiger.
Edward Lear (
1812-1888)
Ein gar tollkühnes Mädchen aus Riga
ritt einst lächelnd aus Spaß auf 'nem Tiger.
Bald zurück von der Tour -
von der Maid keine Spur,
doch es lächelte satt jetzt der Tiger!
Surrealismus-Spiel
-Fünf
Briefumschläge mit den Satzteilen „Der köstliche / Leichnam / wird
trinken / neuen / Wein.“
-Möglichst viele Assoziationen zum Bild
entsprechend den Satzteilen auf Streifen schreiben und in den jeweiligen
Umschlag stecken.
-Je einen Zufallszettel aus einem Umschlag ziehen und zu einem Satz
zusammenkleben. Das solange wiederholen, bis alle Wörter aufgebraucht sind.
-Die besten Sätze auswählen und zu einem Text gestalten.
Bild: Toyen, Am grünen
Tisch, 1945