Schreibwerkstatt Günter Neuenhofer, VHS-Bocholt, 7.3. - 2.5.2012

Klischee und Originalität

Im Zeitalter der Kreativwirtschaft und Kreativdirektoren,  die den Büchermarkt auf eine Stufe mit Waschmittel stellen und im Zeitalter der Schreibschulen mit formelhaften Romanen und verbrauchten lyrischen Bildern stellt sich eigentlich nicht mehr die Frage nach dem Genie mit seiner gottähnlichen Schöpferkraft. Der Schreibende findet sich entweder in einem Wust des schon Gesagten und Geschriebenen oder er zieht sich zurück in seine individuelle Erlebnis- und Sprachwelt. Was zu tun bleibt, ist die künstlerische Gestaltung im Sinne einer neuen Formgebung.

Literarische  Formung durch Textgestaltung bzw. Formatierung

Schreibspiele:  Im Kreis und einzeln
1. Wir sammeln Wörter und Kurzsätze zum Thema  „Was es noch nicht gibt“. Darauf reagieren.
2. Wir sammeln Sprachmaterialien zum Thema „Was es gibt“.
3. Jeder schreibt einen Satz zu einem Thema. – Darauf reagieren. – Den Text gestalten.

Das Wortmaterial wird neu gestaltet z.B. als Prosatext oder als Gedicht, mit unterschiedlichen Buchstaben.

Literarische Beispiele:


Frühjahr (Karl Krolow)

Es gibt noch kein Gras
Zu besingen.

Landschaft, adjektivlos,
in der man
einen Fuß vor den anderen
setzt.

Nur in der Hand gesammelt:
Blau.

Weidenhaar einiger Mädchen.

Die Helligkeit ist frei
von Schatten.
Unruhige Freiheit
der Perspektive:

Frühjahr.

s. die Collagen von Herta Müller aus: Die blassen Herren mit den Mokkatassen

Für ihre dichterischen Collagen bedient sich Herta Müller der Schere und nicht des Stifts: Aus Zeitungen und Zeitschriften schneidet sie einzelne Wörter oder Buchstaben heraus und klebt sie zusammen, bis sie sich reimen. Frei schwebende Sätze in "surrealer Anmut"  entstehen,  wie

 "ICH frage GIBT ES DA kein anderes Tier als DIESE  Mundharmonika AUS Wind".

Hinweis auf die niederländisch-deutsche Ausstellung “Poezien“ im Borkener Stadtmuseum zum Thema „Wort und Bild“.

Analyse mehrerer Niederländischer Gedichte.

Waas (Elen Smits, 2009)

Ik schik de lente in een vaas.
En in een feestlijke waas
komt het weer boven.
Kom jij weer boven.
Voel jij de lente ook?
En dardoor mij.
Of: voel je mij?
En daardoor lente

Hauch

Ich ordne den Frühling in einer Vase.
Und in einem festlichen Hauch
kommt mir die Erinnerung wieder.
Kommst du mir wieder.
Fühlst du den Frühling auch?
Und dadurch mich.
Oder: fühlst du mich?
Und dadurch den Frühling.


(Bouwe Brouwer)

wilde ganzen -
in de achteruitkijkspiegel
een nazomerson

Wilde Gänse -
im Rückspiegel
eine Spätsommersonne

Versnipperde taal (Coby Bos, 2010)

Het is lastig
te verwoorden
wanneer
de taal
versnipperd
is.

Zerschnittene Sprache

Es ist schwer
etwas in Worte zu fassen
wenn
die Sprache
zerschnitten
ist.

www.wordle.net

Wordle ist ein Web2.0 Tool mit dem sich Word-Clouds (Wortwolken) erstellen lassen, dabei
ist der Begriff jeweils umso größer dargestellt, je häufiger er im Text vorkommt.

„Schreiben“ als Thema

Beispieltexte:

Der Leser ( Wallace Stevens, 1879-1955)

Die ganze Nacht saß ich und las,
saß und las, als läse ich in einem Buch
mit düsteren Seiten.

Es war Herbst, und Sternschnuppen
fielen auf die verdorrten Formen,
die sich im Mondlicht duckten.

So saß ich im Dunkeln und las.
Eine murmelnde Stimme sagte mir:
„Das alles fällt der Kälte anheim,

auch die moschusduftenden Trauben,
die Melonen, die zinnoberroten Birnen
im entblätterten Garten.“

Die düsteren Seiten waren leer
bis auf die Spur der brennenden Sterne
am frostigen Himmel.

Czeslaw Milosz (1911 -2004)

ich schreibe auf Wasser ich scheibe auf Sand
aus einer Handvoll geretteter Wörter
aus einigen Sätzen
einfacher Zimmermannsprosa
aus einigen nackten Versen
baue ich eine Arche
um etwas zu retten
aus der Sintflut
die uns überrascht
am helllichten Tag
oder tief in der Nacht
von der Erdoberfläche spült

sonett III (Karl Riha 1935- )

so weit so gut so zart so nett
so viel so kurz so stein so brett
so voll so leer so schwarz so breit
so still so klar so fluß so zeit

so rat so tat so weiß so heiß
so hart so spitz so preiß so fleiß
so spiel so ball so ziel so grell
so kopf so zahl so sinn so hell

so fort so dann so bald so schall
so hieb so stich so spalt so prall
so zier so starr so form so streng

so blut so blitz so ritz so knall
so hall so bild so fuß so fall
so reim so leim so kunst so eng

Sprache und Musik

In der Musik ist ein Ritornell (oder Refrain ) derjenige Teil eines Rondos der im Verlaufe dieses Musikstückes mehrfach unverändert wiederkehrt und durch kontrastierende Zwischenspiele unterbrochen wird. In der Literatur bezeichnet das Ritornell (= Rückkehr für italienisch “ritorno”) eine aus der italienischen Volksdichtung stammende Abfolge dreizeiliger Strophen. Das Reimschema lautet meist a-x-a, seltener x-a-a oder a-a-x. Im ersten Vers wird gern eine Blume angerufen.

Dunkle Zypressen!
Die Welt ist gar zu lustig;
es wird doch alles vergessen.
(Theodor Storm)

Andere Formen von Kurzgedichten sind der japanische Dreizeiler Haiku (5,7,5 Silben), das fünfzeilige Elfchen (1,2, 3, 4,1Wörter), das dreizeilige Sechswort-Gedicht (1,2,3), der zweizeilige, tamilische Kural mit Alliterationen(4,3 Wörter)

patRuka patRatRaan patRinai, yappatRai
patRuka patRu vitaRku

Halte dich fest an dem, der sich hält an nichts.
Festhaltend hörst du auf festzuhalten.
(Kural 350)

Lautgedicht von Hugo Ball (1916)

Die Konzentration des Lautgedichtes liegt auf der klanglichen „musikalischen“ Qualität, die in ihrem Rhythmus und ihrer Tonalität afrikanische Sprachen, kindersprachliche Nachahmungen oder lautmalerische Beschwörungsformeln aufgreift. „Mit diesen Tongedichten wollten wir verzichten auf eine Sprache, die verwüstet und unmöglich geworden ist durch den Journalismus.“

gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori
gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini
gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim
gadjama tuffm i zimzalla binban gligla wowolimai bin beri ban
o katalominai rhinozerossola hopsamen laulitalomini hoooo
gadjama rhinozerossola hopsamen
bluku terullala blaulala loooo

zimzim urullala zimzim urullala zimzim zanzibar zimzalla zam
elifantolim brussala bulomen brussala bulomen tromtata
velo da bang band affalo purzamai affalo purzamai lengado tor
gadjama bimbalo glandridi glassala zingtata pimpalo ögrögöööö
viola laxato viola zimbrabim viola uli paluji malooo

tuffm im zimbrabim negramai bumbalo negramai bumbalo tuffm i zim
gadjama bimbala oo beri gadjama gaga di gadjama affalo pinx
gaga di bumbalo bumbalo gadjamen
gaga di bling blong
gaga blung

Hugo Balls Gedicht wurde von der US-amerikanischen New-Wave-Band Talking Heads vertont und erschien 1979 unter dem Titel I Zimbra.

s.a. „Ursonate“ von Kurt Schwitters


Die Fuge

Die Fuge ist eine beliebte Musikform in der Barockzeit. Gleichzeitig stellt sie eine Kompositionstechnik dar, die die Jahrhunderte überdauert hat. Voraussetzung für die Komposition einer Fuge ist das Vorhandensein von zwei oder mehr selbständigen Stimmen. Grundsätzlich beginnt eine der beteiligten Stimmen allein mit einer kurzen, charakteristischen Melodie: dem Thema. Dieses wird von der als nächstes einsetzenden Stimme auf einer andern Tonstufe  wiederholt, während gleichzeitig die erste Stimme als Begleitung ein gegensätzliches Motiv bringt: Den Gegensatz oder Kontrapunkt.
Eine Fuge umfasst:  2 - 6 Stimmen, 1 Thema , 1 - 3 Gegensätze, 1 Exposition, 1 - 5 Durchführungen und Zwischenspiele, evtl. Coda

„Todesfuge“ von Paul Celan (1920-1970)

Die Todesfuge wird von unterschiedlichen Interpreten als Doppelfuge mit „Wir-“ und „Er-Thema“ oder als Tripelfuge mit dem dritten Thema „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ aufgefasst. Eine weitere Möglichkeit ist die Rückführung auf ein einziges Thema, das in den „Wir-Abschnitten“ formuliert wird, während die „Er-Abschnitte“ einen für die Fuge charakteristischen Kontrapunkt bilden. Dabei wird das Thema im „Wir-Part“ nur geringfügig gewandelt, im Kontrapunkt hingegen wechseln die Motive und verleihen dem statischen Kompositionsprinzip der Fuge einen fortschreitenden Ablauf und eine Entwicklung.[3] Diese mündet in eine, erneut an das Prinzip des Kontrapunkts erinnernde, Gegenüberstellung der abschließenden Verse:

„dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith“
[1]

Ein weiteres musikalisches Prinzip, dessen sich das Gedicht bedient, ist jenes der Modulation. Das „Grab in der Erde“ verändert sich zum „Grab in den Lüften“, zum „Rauch in die Luft“, „Grab in den Wolken“ und „Grab in der Luft“.[4] Laut Ruth Klüger bewirkt das fugenähnliche Kompositionsmuster, dass Hörer und Leser hin- und hergerissen seien zwischen „einer aus den Fugen geratenen Welt und einer, die sich wie eine Fuge zusammenfügt und musikalischen Trost gewährt.“[5] Celan verneinte allerdings, bewusst „nach musikalischen Prinzipien komponiert“ zu haben. Den Titel Todesfuge habe er dem Gedicht erst nachträglich verliehen.

Der zentrale Begriff der hermetischen Lyrik ist die Chiffre, die zusätzliche Bedeutungsebenen einführt, die durch Modifizierungen, Verschiebungen oder neue Fügungen des Autors vom Alltagsgebrauch der Wörter abweicht und für den Leser nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist und manchmal sogar ganz verschlossen bleibt. Vor dem Verstehen des Gedichtes steht eine bewusste „Dechiffrierungsleistung“.

Paul Celans: Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
...........
...........

Das Sonett/die Sonate

In der Barockzeit bezeichnet der Begriff „Sonata“ einfach ein Klangstück, genau wie „Sinfonia“ („sonare“ italienisch: klingen, „σύν“ [syn] griechisch: zusammen und „φωνή“ [phone]: Klang).

Das dreiteilige Schema der Sonatensatzform entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Um 1750 kamen bedeutende Komponisten (Carl Philipp Emanuel Bach, Joseph Haydn) zur Überzeugung, dass die langweiligen zweiteiligen Musikstücke durch den Einschub eines Mittelteils gewinnen könnten. Zudem stellten sie dem Hauptgedanken (Hauptmelodie, Hauptthema) ein kontrastierendes Seitenthema zur Seite.

Online-Einsendung Ihres Gedichts für den Wettbewerb der
Brentano-Gesellschaft

Sie können Ihr Gedicht über das unten folgende Online-Formular direkt per E-Mail an uns senden. Einsendeschluß ist der
01. Oktober 2012.

Ihr Gedicht schreiben Sie in das große Textfeld. Bitte beachten Sie, daß Ihr Gedicht nicht länger als 20 Zeilen sein darf. Nach jeder Verszeile drücken Sie die Return-Taste. Strophen trennen Sie durch eine Leerzeile.

In der neuen Ausgabe der "Frankfurter Bibliothek" gibt es drei Klassen. Wählen Sie die Kategorie, für die Sie das Gedicht einsenden wollen. Wählen Sie Klasse A mit frei wählbarem Thema, Klasse B für das Thema "Das Licht" oder Klasse C für das Thema "Das Währende".

Mit dem Abschicken des Formulars bestätigen Sie zugleich, daß Sie die Teilnahmebedingungen akzeptieren. Es darf für den Wettbewerb nur ein einziges Gedicht eingesendet werden. Sie erhalten von uns dann eine email zur Bestätigung, daß Ihr Gedichtbeitrag an uns gesendet wurde.

Dialogisieren und in Szene setzen
Wh. vom 12.10.2011

Bilder von Edward Hopper

Die Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper erzählen ihre eigenen Filmgeschichten. Manchmal glaubt man in ihnen Filme zu erkennen, die man gesehen hat; meistens erträumt man mit ihnen Filme, die es nie gegeben hat. Man glaubt Gesten zu sehen, Gesprächsfetzen zu hören, einen Filmausschnitt zu erleben.

1. Schreibe zu einem Hopper-Bild eine Mini-Szene mit Dialog in reduzierter Form, d.h. eine Kommunikation in kürzester Sprachform, z.B. in Einwort- bzw. Zweiwortsätzen und in Ausrufen

2. Schreibe eine kurze Theaterszene zu einem realistischen Alltagsgeschehen (s. Kroetz: Heimarbeit)

3. Erfinde ein symbolisches Tableau mit Landschaft und Personen und schreibe ein Selbst-gespräch bzw. einen Dialog dazu (s. Beckett: Glückliche Tage)

Glückliche Tage (Samuel Beckett, 1960)

Im ersten Akt steckt Winnie, „eine etwa 50-jährige, gut erhaltene Blondine“, bis über die Hüfte in einem Erdhügel, der die gesamte Mitte der Bühne einnimmt. Sie schläft vornüber gebeugt, den Kopf in den Armen, die auf dem Abhang vor ihr ruhen. Erst das lange, durchdringende, zweimal wiederholte Schrillen einer Kingel weckt sie aus ihrem Schlummer. Neben ihr steht eine große schwarze Einkaufstasche, aus der sie im Laufe des ersten Aktes - neben verschiedenen Hygieneartikeln, Schminkutensilien und einer Lupe - auch einen Revolver hervorkramt. Gegen die gleißende Sonne, in die das Stück von Anfang bis Ende getaucht ist, versucht sie sich mit einem kleinen Sonnenschirm zu schützen, der jedoch bald in Flammen aufgeht. Ihr Oberkörper, über dessen nackte Schultern eine Perlenkette hängt, ist bereits so steif geworden, dass sie sich nicht weit genug nach hinten wenden kann, um zu sehen, was in ihrem Rücken vor sich vorgeht.

Im zweiten Akt schaut aus dem „Grabhügel“ nur noch Winnies Kopf heraus, und auch der kann nur noch Mund und Augen bewegen. Hinter dem Hügel - nicht nur für Winnie, sondern (bis auf den Hinterkopf) auch für den Zuschauer meistens unsichtbar - befindet sich ihr Ehemann Willie. Während Winnie fast pausenlos monologisiert, beschränken sich die Beiträge ihres Mannes auf wenige Gesten und Worte. Er liest die Überschriften und Inserate einer alten Tageszeitung, mit der er sich ab und zu kühlende Luft zufächelt, und beantwortet Winnies Fragen einsilbig oder gar nicht. Einmal lässt er sich zu ein paar krächzenden Tönen eines Liedchens hinreißen, dann schweigt er lange, sodass Winnie schon vermutet, er sei gestorben oder taubstumm geworden. Erst in der Schlussminute verlässt er seine Deckung und kommt auf allen vieren, aber in voller Abendgarderobe hervorgekrochen und versucht, begleitet von Winnies Anfeuerungsrufen, den Hügel zu erklimmen, um ihr Gesicht zu erreichen. Vergeblich. Er rutscht ab und bleibt erschöpft, mit dem Gesicht nach unten, ihr zu Füßen liegen. Als er wieder Kraft genug gesammelt hat, um wenigstens den Kopf zu heben, flüstert er ein einziges Mal, kaum hörbar, ihren Namen. Die beiden Alten starren sich lange und reglos an, bis der Vorhang gefallen ist.

1. Szene von "Glückliche Tage".
Schreibe eine ähnliche Szene mit einem Minimal-Dialog!


Anders schreiben
poetisch - experimentell – elitär

Sich auf ungewöhnliche Texte einlassen. Traditionelle Kriterien wie Logik, Erzählkern, Zeitfolge, grammatische Regeln, zurücknehmen. Schreiben als Erschaffen (Poiesis) von Sprachwelten, „poetischen“ Räumen. Meditativer Zugang zu Sprachwerken.

z.B. das „magische“ Sprachgewucher“ und das „Denkflattern“  bei Friederike Mayröcker. Assoziativer Zugang zu den Texten als musikalische Gebilde, die durch Klangfarben und Leitmotive orchestriert sind.

s. www.neuenhofer.de/guenter/schreibwerkstatt vom 23.11.2005 Text aus dem Hörspiel „Fünf Mann Menschen“ von Jandl und Mayröcker,1967 (Preis der Kriegsblinden)

Friederike Mayröcker (aus „Abschiede“)

Plötzlich, ein Auseinanderklaffen der Bilder, im schütteren Wald, im Winkel des Waldes, Sie ließen es allzusehr in der Schwebe,…so dass ich von neuem die Richtung verlor. Ihre Tagseite Nachtseite, und als hätten sie mich in eine ratlose Verwirrung gestürzt…im schütteren Wald, beim Einhängen und Abbrennenlassen der Sprühkerzen im unbelaubten Geäst, plötzlich das Licht, ein Auseinanderklaffen der Bilder, als wollten sie  mich ablenken.“ (1978-1980)

Traditionelle Erzählweisen
Die ersten Sätze einer Erzählung

Beispieltexte:

Mark Twain (1835-1910): DIE GESCHICHTE EINES INVALIDEN (http://www.sterneck.net/literatur/twain-invalide/index.php)

Ich sehe aus, als wäre ich sechzig und seit langem unglücklich verheiratet. Mein Aussehen ist aber nur auf meine miserable Gesundheit und eine traumatische Erfahrung zurückzuführen, schließlich bin ich Junggeselle und erst einundvierzig. Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst, deshalb wird es Ihnen sehr schwer fallen, mir zu glauben, dass ich vor knapp zwei Jahren ein gesunder und rüstiger Mann war, ein Mann aus Eisen, ein richtiger Athlet! Das ist die Wahrheit. Noch merkwürdiger als mein Zustand ist, wie ich meine Gesundheit verlor: Ich verlor sie beim Aufpassen auf eine Kiste voller Gewehre während einer Zugfahrt über dreihundert Kilometer in einer Winternacht. Das ist die reine Wahrheit und ich werde es Ihnen erzählen.

Peter Zeindler: Die Meisterpartie (1989)

Gerhard Brenner spürte die Vibrationen unter seinen Füßen. Er schaute auf die große Bahnhofsuhr.  Mitternacht. Dann erfasste ihn auch das anschwellende Geräusch des einfahrenden Zuges. Er griff nach seiner braunen weichen Ledertasche und ließ sich im Strom der Reisenden, der sich träge in Bewegung gesetzt hatte, mittreiben. Die schwere Lokomotive donnerte an ihm vorbei. Die Fenster der Waggons waren schwarz verhängt. Ein Geisterzug. Wie im Krieg dachte er und scherte nach rechts aus, als ihm das Gedränge zu dicht wurde. Er verstärkte den Griff seiner Rechten, in der er den Diplomatenkoffer trug.
Wagen 271. Abteil 53.
Als er den Fuß auf die Stiege setzte, drang der scharfe Geruch von Urin in seine Nase. Das Metall der Handgriffe fühlte sich an wie Eis. Der Schlafwagenschaffner nahm die Fahrkarte.....

Aufgaben:

1. Schreibe einen Fortsetzungsabschnitt zu einem Text!
2. Verändere den Inhalt, aber übernimm die Satzstruktur!
3. Formuliere einige Anfangssätze, die neugierig machen. (z. B. „Ich mochte keine grünen Sonnenuntergänge.“)

s. Wider die Schwemme formelhafter Romane und vohersehbarer Lyrik aus dem Seminar. Für "unkreatives Schreiben". (Uncreative Writing von Kenneth Goldschmith) Der unkreative Dichter muss heute jemand sein, der vorgefundenes Material kompiliert und arrangiert, der Alltagstexte zweckentfremdet und in neue Kontexte stellt.

Dramatische Formen ungewöhnlicher Art
Eine „andere“ Form von Dialogen

Beispiele (Auszüge):

Stücke ohne Handlung, ohne Szenenbilder und ohne Requisiten.

Peter Handkes (geb. 1942) Sprechstücke, die nach den Klangelementen der Beatmusik gebaut sind, die Sprache selbst zum Inhalt machen, sind Versuche, auf dem Theater Wirklichkeit durch Sprache zurückzugewinnen. Sie bedienen sich der natürlichen Äußerungsform der Beschimpfung, der Selbstbezichtigung, der Beichte, der Aussage, der Frage, der Rechtfertigung, der Ausrede, der Weissagung, der Hilferufe. Dabei zerstört der Autor den Illusionscharakter auch des modernen Theaterstücks: die Spieler sind die Beobachter, das Publikum ist das Thema. Indem Handke das Theater aufhebt, macht er neues Theater.

1.)

Publikumsbeschimpfung.
(Textauszug)

Sie sind willkommen.

Dieses Stück ist eine Vorrede.

Sie werden hier nichts hören, was Sie nicht schon gehört haben.
Sie werden hier nichts sehen, was Sie nicht schon gesehen haben.
Sie werden hier nichts von dem sehen, was Sie hier immer gesehen haben.
Sie werden hier nichts von dem hören, was Sie hier immer gehört haben.

Sie werden hören, was Sie sonst gesehen haben.
Sie werden hören, was Sie hier sonst nicht gesehen haben.
Sie werden kein Schauspiel sehen.
Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden.
Sie werden kein Spiel sehen.
Hier wird nicht gespielt werden.
Sie werden ein Schauspiel ohne Bilder sehen.

Sie haben sich etwas erwartet.
Sie haben sich vielleicht etwas anderes erwartet.
Sie haben sich Gegenstände erwartet.
Sie haben sich keine Gegenstände erwartet.
Sie haben sich eine Atmosphäre erwartet.
Sie haben sich eine andere Welt erwartet.
Sie haben sich keine andere Welt erwartet.
jedenfalls haben Sie sich etwas erwartet.
Allenfalls haben Sie sich das erwartet, was Sie hier hören.
Aber auch in diesem Fall haben Sie sich etwas anderes erwartet.

Sie sitzen in Reihen. Sie bilden ein Muster.
Sie sitzen in einer gewissen Ordnung. ...


Als Peter Handkes PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG am 8. Juni 1966 im Rahmen der EXPERIMENTA in Frankfurt unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt wurde, stand das Publikum Kopf: Zwischenrufe, Hohngelächter und Versuche der Zuschauer, die Bühne zu stürmen…

2.)

Ernst Jandl: die humanisten
(Textauszug)
 
                  2
m1             (zum publikum gewandt, doch zu sich selbst sprechend)
                  ich hier sein
                  wo sein?
                  ich ich sein
                  wer sein?
                  ich jetzt sein
                  wann sein?
                  ich jetzt hier sein
                  –
                  ich sein mein sprach
                  mein deutsch sprach
                  mein schön deutsch sprach
                  (zum publikum)
                  du wundern mein schön deutsch sprach?
                  sein sprach von goethen
                  grillparzern stiftern
                  sein sprach von nabeln
                  küßdiehandke
                  nicht sprach von häusselwand
                  sein sprach von bühnen
                  sein bühnendeutschen
                  sein von burgentheatern
                  nicht sprach von häusselwand
                  (m2 tritt auf, nähert sich)
                  –
                  mein sprach sein ein loben
                  immer wenn sprechen ich loben den sprach
                  mein sprach sein ein loben
m2             du sein gut sprechen
                  du haben denkenkraft
                  du wortengewalt
……………………

m1            in kunst viel nicht gut sein
                  heut in kunst viel nicht gut sein
m2             deutsch sprach sein kunst
                  sein ein kunstsprach
m1             vaterland sein kunst
                  deutsch sprach und österreich vaterland sein kunst
m2             österreich sein ein kunstland
m1             vaterkunstland
m2             kunstvaterland ...
                  salzenburger fetzenspiele!
m1             burgentheatern!
m2             operan!
m1             schuber und brahmst!
m2             schrammenmusik!
m1             österreich sein ein kunstland!
m2             Bonau zu blau, zu blau, zu blau
m1             sein ein kunstvaterland!
                  -
                  viel kunst heut nicht gut sein ...
                  viel kunst heut nicht viel gut sein
m2             (heftig)
                  sein viel -schmutzen
                  kunst - schmutzen
m1             sein viel viel schmutzen viel
                  viel kunst-schmutzen
m2             sein ich kunst schutzen
m1             du sein und ich sein kunst schutzen
m2             deutsch sprach schutzen
m1             österreich vaterland schutzen
                  schutzen
m2             sein viel viel nicht kunstler
                  sein kunst-schmutzen
                  sein schmutzen
m1             schmutzen finken
m2             schmutzenbacher
m1             pfui gack

3.)

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, 1978 «Kurzwaren»

Für uns ist
Gott Luft. Wir
atmen ihn ein.

Gedichte
wo man sie nicht erwartet. 

Gedichte
auf Unterwanderung unterwegs
man kann sich nicht schützen.

Das Gedicht entstammt dem jüngsten Lyrikband von Klaus Merz, «Aus dem Staub», erschienen 2010 im Haymon Verlag. Der Aargauer wurde im Januar 2012 mit dem Basler Lyrikpreis geehrt. Am 3. Juni wird er einen weiteren renommierten Preis entgegennehmen können: den Hölderlinpreis der Stadt Bad Homburg.

Aufgaben: Schreibe im Stil der obigen Autoren eigene Texte zu den Themen "Schreiben als Kunst", "Malen als Kunst" und "Winterfrühling".

Zum Thema "Sprache und Rhythmus"

Leseprobe Nora Gomringer - Mein Gedicht fragt nicht lange

Wenn ich dich frage
Ob du mal meine Hand halten würdest
Nur so
Nur so zum Spaß
Nur so, damit es nicht so kalt ist
Dem kleinen, dem Ring-, dem Mittel-,
dem Zeige-,
dem Daumenfinger
Nur so, weil ich dann aufhöre zu fragen
Sagst du sicher
Nein
Weil du das immer sagst
Wenn ich dich frage
Ob du mal meine Hand halten würdest
Nur so
Nur so zum Spaß
Vor den anderen
Vor den anderen Mädchen, den anderen
Jungs, den anderen eben
Wenn du mal meine Hand halten würdest
Nur so
Nur so zum Spaß
Wäre das ja auch kein Spaß mehr
Kein einfaches Warmhalten von Dau-
men-, Zeige-,
Mittel-, Ring- und kleinem Finger
Dann wäre das ja
Das wäre dann ja einer Bitte entsprechen
und das wäre
Schlecht
Schlecht wäre das
Schlecht wäre das, dem Wunsch nach-
kommen, der
Bitte entsprechen
Ganz schlecht
Vor den anderen, den anderen, den ande-
ren eben
Ich bin gar nicht mehr glücklich
Nicht mehr glücklich mit dir, nicht mehr
glücklich mit
mir
Ja, ganz unglücklich mit dir, ganz un-
glücklich mit mir
Ganz schlecht
Ganz schlecht und unglücklich bin ich
Kein Spaß
Ja, ich weiß
Das ist kein Spaß mit kalten Fingern"
.

Günter Grass:  "Was gesagt werden muss", 

Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.

…….

Eigene Texte

Einige Kursteilnehmer nehmen wie im letzten Semester eine Einladung der freien Malergruppe KÖ 10 an, geben sich den Namen "Eliteraten" und tragen selbst geschriebene Texte zum Thema "Winterfrühling" vor.

ELITERATEN

Öffentliche Lesung von Gedichten und freier Prosa zum Thema WINTERFRÜHLING

30.5.2012

nein o nein

ich bin nicht der sprecher
den du hörst
ich bin es nicht
nicht ich
ich
bin nicht
wie ich bin nicht wo noch was
ich bin ein irgendwie und stehe hier

wer findet mich
mein ich
wer sieht mich irgendwie und wo
die stimme zwischen wänden
verstuhlt verstellt
im abseits nimm mich wahr
hier bin ich nicht
der irgend wie
das ich

wer kennt denn mein gesicht
mein ich
im winter
es wird verborgen bleiben
im frühling

das märchen von meinem ich
geschrieben vom nicht ich
irgend wann und wie und wo
erzähle ich nicht
noch erfinde ein ich
ein ich nicht ich

aus meinem mund hier
die wörter im raum
die ich höre unsäglich
die fehlen meinem ich
meine ich denn hier

bin ich nicht
ich
eliterarisch

günter neuenhofer

Ausstellungssprachstücke

Dies ist eine Hinführung

Sie sind gekommen zur midissage
wir öffnen eröffnen neu
mit winterwortlingen
neuen frühwinterworten

Sie sind gekommen und hören
wortgesänge
unsägliche malwortkunst

Sie sind gekommen und hören
freiwortkünstler
unsägliche transformkunst

Sie sind gekommen und sehen und hören
florische büningkunst gemalt und  gewortet
paarisch gewilmt
mumbeckisch geschröert
spogahnt gekünstelt
gegastet mit haaklag
und oemmelot

Wiwifrüntelag mumpaarbeck
haawifrühnter spobüfrüh
flomarcowin karlind
imfiwin frühling
frilinfi winwin
winterfrühling

wir

sprachkunstfinder
kunstsprachsprecher

wir sind hier
hier sind wir
wir sein hier
wo wir sind

wir sind wir
sein sprecher
wer wir sind
wir sind wir
sein wortdreher

wann sind wir
wir jetzt sein hier
hier sind wir

wie wir sind hier
verwortet wir sind
in winterfrühlingkunst
verwortet antwortlich in worten
verwunderlich gewortet


wir entdecken verdeckeltes
wir decken auf gedecktes
wir entdeckeln
aufdeckend verdeckeltes
entdecken wir


wir firnissen nicht
entdeckeln
wir kratzen auf den firnis
wir entfirnissen
wir die definisseure
der midissage

Unser sprachsprechen
unser sprachwunder
wir spalten zwiespalten
den winterfrühling

zum hören für hörer
zum sehen für sehörer und hörseher
frühwinterling winterlingsalat
frühsalat
bocholtsalat
maisalatblüten

Maikunst
hier blüht Bocholt
hier in kunstfarbe
in kunstsprechfarbe
hier im bocholter farbkunstraum

hier mit malsprachkunst
bocholter frühmalkunst
bocholter wintersprachkunst
bocholter heimatkunst
bocholter stadtkunst

hier in bocholt entdecken
mensch entdecken
morla uraltmensch
in bocholt entdecken

auf regen kommt sonne
sonne nordwest
freiheit entdecken
für wintermenschen
freiheit skiheil
mit hunden
gefühlt in farben
unverliebt in den frühling
scheiden im winternebel
nach arabien
nach regen kommt sonne

Einer aus dem Städtchen Bocholt, Münsterland, NRW, stellte ungern Gestücktes aus, hatte aber schon mit vielen Wörtern gepuzzelt, jetzt machte er beim Malwortmaitanz sein Maul auf und schrie gestückelte Maulwerklaute. Solltest du und die anderen nicht mitlachen, könntest du dabei auch wörtlich weinen.

günter neuenhofer