Liebeserklärung an ein Blatt Papier
Ich habe Ehrfurcht vor einem leeren Blatt Papier!
Ganz rein und unberührt liegt es zunächst vor mir, bevor ich den Stift aufsetze und schreibend meine Spuren auf ihm hinterlasse.
Ich habe mich nie gefragt, ob ich das Recht habe, es zu benutzen, manchmal sogar zu beschmutzen. Ich bin wahrlich nicht stolz auf jeden Gedanken, den ich aufs Papier bringe.
Vielleicht ist es aber auch umgekehrt und nicht ich bin der Hauptakteur, sondern das leere Blatt.
Vielleicht bringe nicht ich die Gedanken aufs Papier, sondern das leere Blatt mich dazu, den Gedanken sichtbare Gestalt zu geben.
Worte, Bruchstücke, die vorher unsortiert in meinem Kopf waren, werden erst durch die stille Einladung des weißen Blattes Papier zu Gedanken. Gedanken, die es vielleicht auch wert waren, festgehalten zu werden.
Und schon bin ich fast am Ende dieser Seite angelangt schon wieder ist ein Blatt fast gefüllt und scheint mir eine Frage zu stellen: „Weißt du eigentlich zu schätzen, was ich gerade für Dich getan habe?“
„Ja“, denke ich, “und ich habe weder Dir noch Deinen Vorgängern je dafür gedankt, aber ich habe Ehrfurcht vor einem leeren Blatt Papier!“
Aufbruch der Wanderin
Als ich an diesem Morgen erwachte, wusste ich es plötzlich. Heute würde ich aufbrechen, diese Herberge verlassen und meine Wanderschaft endlich fortsetzen. Leicht war mir ums Herz. Ich schaute mich noch einmal im Zimmer um. Es kam mir nun so fremd vor. Ich war hier nur untergekrochen auf meiner Wanderschaft. Der andere Wanderer, mit dem ich dieses Zimmer bislang geteilt hatte, bemerkte, dass ich gehen wollte und fragte erstaunt: „ Du willst schon fort? Wie spät ist es denn?“ „Es ist höchste Zeit!“, antwortete ich. Er schien mich, wie so oft, nicht zu verstehen und fragte nach der genauen Uhrzeit. Ich hatte nichts hinzuzufügen. Es war längst höchste Zeit, ich hätte schon eher gehen müssen. Die Luft in dem Zimmer war verbraucht, reichte nur noch für ihn. „Wir haben es doch schön hier, du musst es nur mit meinen Augen sehen! Du solltest noch ausruhen!“, sagte er, „Ich bin zu erschöpft, um zu bleiben“, sagte ich, „sonst verliere ich meinen Weg aus dem Blick!“ „Aber wo willst du denn hin?“, fragte er, “Draußen wartet nur die Einsamkeit!“„Schlimmer wäre es, am Ende nicht meinen Weg gegangen zu sein, wer weiß schon, was mich dort erwartet?“, antwortete ich.
„Wirst du etwas mitnehmen, wovon du unterwegs zehren kannst?“ „Natürlich“, sagte ich, “die Erinnerungen, denn damit wird mein Weg ja gepflastert!“
Claudia Wiemer, Juni 2005
Tremsen und Kreisel
(Text frei nach dem Muster Ensel und Krete von W. Moers)
Wenn man in Borkensien das Bedürfnis nach vollkommener Harmonie hatte, dann hielt man Tremsensonntag. Seit alters her am letzten Sonntag im April traf man sich in den Straßen der Stadt, um unter rituellen Gesängen die Tremse in den bekannten Borkensier Wind zu hängen. Schon Wochen vorher hatten sich die weiblichen Eingeborenen eines jeden Stammes, von den Borkensiern Nachbarschaften genannt, in kaffeeduftschwangerer Atmosphäre zusammengetan, um die Tremse als Zeichen ihres Zusammenhalts zu basteln: Streifen bunten Eintrachtspapiers wurden dafür um einen Lampenschirm der Verbindlichkeit gewebt und schließlich Heuchel-Ei um Heuchel-Ei zu einer langen Kette aufgeriehen, um das Tremsenwerk zu krönen. Ja, die Eingeborenen waren stolz auf ihren Gemeinschaftssinn. Hier in Borkensien war die Welt noch in Ordnung, hier interessierte man sich noch füreinander und wusste, wer samstags sein Auto nicht gewaschen hatte!
Ein Besuch des Tremsensonntags garantierte auch den von fern einfallenden Großstadtvölkern Einkaufsfreuden in gut bestellter Kauflandschaft, denn an diesem besonderen Tag waren die Geschäfte der Stadt, jedenfalls die, die es noch gab, a l l e geöffnet und was andernorts selbstverständlich erscheinen mochte, sogar zur gleichen Zeit.
Dem einheimischen Borkenkäufervolk beim Zelebrieren seiner Eintracht beizuwohnen, war umso erholsamer, wenn man sich zuvor schon in den zahlreichen Kreiseln der Stadt schwindelig gefahren und sich an der darauf wuchernden Flora berauscht hatte. Hier auf den Kreiseln wuchsen noch Kassklingeltulpen in üppigen, verlockend duftenden Büschen auf einem Bett bodendeckenden, schon leicht vertrocknet wirkenden Ladenhütergrüns.
Und wer des Abends die Stadt nach Tremsengesang und Einkaufsbummel, sich wiederum schwindelig fahrend, verließ, tat dies in dem sicheren Bewusstsein, dass Borkensien sich zu Recht „Kreiselstadt aus gutem Grund“ nannte.
Claudia Wiemer, Mai 2005
Ein Lieblingsbuch aus der Kindheit
Kennt Ihr Seebühl? Seebühl am Bühlsee? Nein? Macht nichts! Als ich zum ersten Mal danach gefragt wurde, kannte ich es auch nicht. Vermutlich, so erfuhr ich damals, gehört Seebühl zu den merkwürdigen Orten, die nur die Leute kennen, die man gerade nicht fragt. Es war mir auch nie wichtig, ob man diesen Ort auf der Landkarte finden kann, sondern, dass es der Ort ist, an dem ich das Lesen lieben lernte. Der Fremdenverkehrsverein von Seebühl, wenn es ihn denn gäbe, hätte mir längst die goldene Gästemedaille verleihen müssen, so oft bin ich schon dort gewesen. Ich war 8 Jahre alt, als ich zum ersten Mal nach Seebühl kam. Die Reise dauerte nicht lang. Gerade so lang, wie man für das Öffnen eines Buchdeckels benötigt. Es war überhaupt das erste Mal, dass ich auf diese Weise reiste. Das ist sehr bequem und vor allem die schnellste Art fort zu kommen. Denn, obwohl ich an einem kalten Wintermorgen aufbrach, kam ich nur einen Augenblick später an einem strahlenden Sommertag in Seebühl an. Mein Reiseführer hieß Erich Kästner und er führte mich durch eine Geschichte, die sich um ein großes Geheimnis rankt und in die ich so eintauchen konnte, als sei ich vom Erdboden verschluckt und nicht nur einen Buchdeckelschlag von zuhause entfernt.
Die Geschichte beginnt in einem Ferienheim Seebühl. Dort begegnen sich zufällig Luise und Lotte, zwei neunjährige Mädchen, kaum älter als ich bei unserem ersten Treffen war. Die beiden entdecken, dass sie Zwillinge sind, die die Eltern bei ihrer Scheidung untereinander aufgeteilt haben. Dieses Geheimnis sollte, wäre es nach dem Willen der Eltern gegangen für alle Zeit ungelüftet bleiben. Doch Lotte und Luise schaffen es mit viel Mut, Licht ins Dunkel ihrer Vergangenheit zu bringen, um am Ende die Pläne der Erwachsenen gründlich zu durchkreuzen.
Bestimmt tue ich meinem Reiseführer mit dieser Kurzfassung Unrecht und ich maße mir auch nicht an, annähernd so zauberhaft erzählen zu können wie er. Denn auch als ich ganze Passagen längst auswendig kannte, kam ich wieder und wieder nach Seebühl zurück. Manchmal nur für ein paar Zeilen oder ein Kapitel, aber oft buchte ich wieder die ganze Reise vom Anfangsbuchstaben bis zum Schlusspunkt und war genauso gefesselt wie beim ersten Mal.
Und so kam es, dass mir die handelnden Personen zu Reisebegleitern wurden, die mir bis heute sehr vertraut geblieben sind: Der Kapellmeister Palffy, Vater der Zwillinge, der sich nicht fürs Familienleben geschaffen fühlte, seine geschiedene Ehefrau Luiselotte ,die es nicht leicht hatte für sich und das verbliebene Zwillingskind zu sorgen, Resi, Palfys Haushälterin, die es mit dem Haushaltsbuch nicht so genau nahm, der joviale Hofrat Strobl und sein Hund Pepi, der manchmal klüger war als die Menschen. Ja, und eine böse Stiefmutter oder besser eine Frau, die es werden wollte, gab es auch. Böse Stiefmütter kannte ich vorher nur aus Märchen und die waren alle namenlos, aber diese hier hieß Irene Gerlach hatte rot gelackte Nägel und eine Adresse: Cobenzlgasse 43 in Wien! Und ich habe die Frau nach besten Kräften gehasst! Das ist wohl das Schicksal jeder bösen Stiefmutter.
Meine Heldinnen waren natürlich Lotte und Luise. Mal identifizierte ich mich mit der einen, mal mit der anderen. Ich habe mir manchmal Luises fröhliches Temperament und ihre Unbekümmertheit gewünscht, aber, nichts hat mich so beeindruckt wie die stille Lotte, als es darum ging die Hochzeit des geliebten Vatis mit Fräulein Gerlach zu verhindern: Mit dem Mut der Verzweiflung wagte sie sich in deren Ankleidezimmer, um der Löwin in der eigenen Höhle ein offene Kampfansage ins frisch geschminkte Gesicht zu schleudern. Seither bin ich ganz sicher: Auch neunjährige Mädchen sind im Kampf um den geliebten Mann schon ernstzunehmende Gegnerinnen!
Im Lauf meiner Kindheit bin ich durch Buchdeckel klappen in viele andere Orte gereist, die ich alle mehr oder weniger lieb gewonnen habe, doch die Eindrücke meiner ersten Reise nach Seebühl haben Spuren in mir hinterlassen, die mir zum Maßstab für den Wert anderer Reiseerlebnisse geworden sind.
Und als ich diesen Text schreiben wollte, habe ich nach langer Zeit wieder das Buch vom doppelten Lottchen in die Hand genommen, klappte den Deckel auf und war wieder in Seebühl. Es hat für mich nichts von seiner Schönheit verloren!
Claudia Wiemer/Dezember 2005