Zögernd und verlegen kommt der junge Mann die Treppe hoch. Er ist blass. Linkisch trägt er einen Blumenstrauß in der Hand, hält ihn auf dem Rücken. Er wirkt nervös und aufgeregt. Mit der anderen Hand streift er sein Jackett glatt und geht noch einmal ordnend durch das Haar. Für heute hat er sich viel vorgenommen! Er weiß, er wird erwartet. Trotzdem geht er nochmals die Treppenstufen hinunter. Einen Moment hält er inne und dreht wieder um. Ganz bedächtig nimmt er jetzt jede Stufe nach oben und steht erneut vor der Eingangstür. Mit der freien Hand berührt er die Klingel, zieht sie jedoch sofort wieder zurück. Das geht zweimal, dann gibt er sich einen Ruck. Er nimmt all seinen Mut zusammen und drückt den Klingelknopf.
Im Wohnzimmer ist es sehr warm. Die Heizung bullert. Die Familie sitzt vor dem Fernseher. Ein spannender Krimi läuft. Die Kriminalfilmmusik heizt geschickt die Spannung an. Der Vater ruht in seinem Lehnstuhl. Auf dem Tisch vor ihm das unvermeidliche Glas Bier. Der Aschenbecher wartet, gefüllt mit frischen Kippen. Vater zieht genüsslich an seiner Zigarette und bläst den Rauch gegen den Fernseher. Mutter und Tochter sitzen auf der Couch zwischen ordentlich aufgereihten gestickten Sofakissen. Beide knabbern an Salzstangen, die sie vor sich aufgestellt haben. Alle folgen gebannt der Fernsehsendung. Mutter knüllt aufgeregt ein gesticktes Sofakissen. Die Türklingel schrillt in die Fernsehstille hinein.
Vater steht behäbig auf, schlufft in seinen Pantinen den langen Flur entlang. Noch einmal zieht er den Rauch der Zigarette durch die Nase und öffnet die Haustür.
Vor ihm steht der blasse junge Mann. Verlegen nestelt er an seinem Jackett und wartet, dass er hereingebeten wird. Der Vater inhaliert noch einmal einen tiefen Zug, gibt ihm hastig die Hand und eilt voran ins Wohnzimmer. Vater sinkt in seinen Lehnstuhl. Der Kriminalfilm steht vor der Auflösung. Die dramatische Krimimusik deutet das an.
In der Wohnzimmertür steht der junge Mann. Die Augen verlegen heruntergeschlagen. Er zupft an seinen Blumen und versucht umständlich, sie vom Papier zu befreien. Niemand spricht. Vater zündet eine neue Zigarette und pafft den Rauch in den Raum. Der Ascher nimmt die nächste Kippe auf. Tochter und Mutter sind inzwischen aufgestanden. Mutter rückt noch die gestickten Sofakissen zurecht. Beide begrüßen den schüchternen Mann und bitten ihn, auch auf der Couch Platz zu nehmen. Der Fernseher läuft weiter. Die Filmmusik steigert die Spannung ins fast Unerträgliche.
Die Sofakissen werden sorgfältig zur Seite gesetzt. Zwischen den gestickten Kissen sitzt nun der junge Mann. Die Tochter nimmt scheu seine Hand. Er lächelt sie dankbar an. Er hatte bisher keine Gelegenheit, seinen Blumenstrauß abzugeben. Nun holt er das nach und gibt verschämt der Mutter die Blumen. Er will einige Worte dazu sagen. Da plötzlich kommt Bewegung ins Wohnzimmer: „Pssst!“ rufen alle drei energisch dem Fremden zu. „Gleich kommt das Ergebnis der Mördersuche, pssst!“ Vater bläst aufgeregt den Rauch gegen den Bildschirm...
H.Bruning,11/2003
An Großmutter erinnere ich mich nur zu gerne. Eine freundliche Frau, die aufregende Geschichten erzählen konnte. An langen Winterabenden vertrieb sie uns die Zeit, legte die Karten und fesselte uns mit manchmal merkwürdigen Erklärungen. Seitdem die alte Standuhr, sie ist ein Vermächtnis unserer Großmutter, bei uns steht, geschehen seltsame Dinge. Sanft schlägt die Stundenzahl. Der Westminsterklang der Uhr hallt nach. Im Haus ist es still. Ich sitze zusammen gekauert in der Sofaecke, vertieft in ein spannendes Buch. So spannend, dass ich es gar nicht weglegen kann. Gierig verschlinge ich Seite um Seite, bin mitten im Geschehen.
Leicht knisternd hebt sich langsam die Zimmerdecke. Sie öffnet sich weit nach oben und überrascht sehe ich in den Himmel über mir. Im gleichen Moment spüre ich, dass sich irgend etwas in meinem Rücken bewegt. Ein entsetzter Aufschrei: „Hilfe, was ist das denn?“ Meine Hand tastet den Rücken ab. „Um Gottes Willen, was tut sich denn da hinten! Was passiert mir da?“ Voller Angst schreie ich los, greife mit der Linken wieder nach hinten und fühle ein weiches Etwas! Verstört drehe ich den Kopf zur Seite und erstarre. „Mir wachsen Flügel! Hilfe!!“ Erst der Linke, dann der Rechte. Deutlich ist zu sehen, wie die Flügel Zentimeter um Zentimeter länger werden. Ich bin verdattert. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich brauche keine Flügel, ich will nicht fliegen! Ich werde mir einen Spiegel holen, damit ich genau erkennen kann, was da so Rätselhaftes abgeht.
Doch schon werde ich abgelenkt, da tut sich noch mehr. Irgend etwas Unerklärliches geht in mir vor, ich fühle, dass die geheimnisvolle Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Mein Körper verwandelt sich in rasendem Tempo. Mir wächst eine schuppige, graugrüne Echsenhaut. Igitt! Selbst der Kopf fühlt sich so ganz anders an. „Was ist bloß geschehen?“ frage ich mich ganz verwirrt. Ich glaube, ich habe die Form eines Drachen angenommen. Skeptisch und bestürzt sehe ich an mir herunter und versuche, die seltsame Haut zu berühren. Jedoch haben sich meine Hände in der Zwischenzeit in fremdartige, Pfotenförmige Gebilde verwandelt, ohne Feingefühl, mit Krallen und Schwimmhäuten. Ich bin fassungslos! Verstört beobachte ich aufmerksam meine Füße! Auch hier eine Verwandlung. Beine und Füße gibt es nicht mehr. Ich starre auf zwei hässliche, kräftige Pfoten mit abstoßenden Krallen.
Unbeweglich sitze ich auf meiner Couch und wage nicht zu atmen. Warum muss denn ausgerechnet mir so etwas passieren? Ich will einfach nicht akzeptieren, was da läuft! Doch bevor ich mich einigermaßen fangen kann, geschehen neue, unglaubliche Dinge.
Bedächtig und schwerfällig hebe ich vom Sofa ab. Durch die Öffnung über mir schwebe ich vorsichtig hinaus, wie magisch gezogen. Zunächst sehr langsam, denn Fliegen war noch nie meine Stärke, dann wird es immer ungestümer. Schnell noch ein kurzer Blick auf unseren Ort, den Marktplatz, die Kirche und das große Kaufhaus. Durch die Wände hindurch sehe ich die Leute, höre jedes Wort, das gesprochen wird. Seltsam! Dann verschwimmt alles wie in Watte gehüllt. Die dichte Wolkendecke nimmt mir die Sicht. Nichts mehr unter mir, nur die wattierte Wolkensteppdecke, die jeden Durchblick verhindert. Rasant und geschmeidig gleite ich als Flugdrache durch die Luft.
Es zieht mich immer weiter nach oben. Meine Flügel schlagen aufgeregt. Ich verliere dabei etwas an Tempo, weil Fliegen eine außerordentlich anstrengende Angelegenheit ist.
H.Bruning/September 2004
Unsere Fahrt durch Umbrien ging dem Ende zu. Wir sahen interessante Städte auf hohen Felsen gebaut, gingen durch verschlafene Dörfer in der Mittagshitze, besichtigten alte Kastelle, Ruinen trutziger Burgen und mittelalterliche Festungen von eigenartigem Reiz, steinerne Zeugen einer bewegten Vergangenheit.
Eine Landschaft, deren Vielfalt und Abwechselung wir genossen, dichtschwarze Pinienwäl-der, saftige Wiesen und endlose Olivenhaine. Die Namen der Städte wie z.B. Orvieto, Spoleto, Assisi, Perugia zergehen auf der Zunge.
Am Fuß des Städtchens Trevi machten wir Rast auf einer Wiese, im Schatten eines uralten Olivenbaumes. Langsam näherte sich uns neugierig ein Eselchen. Zuerst hielt es respektvoll Abstand, jedoch so nach und nach kam es vorsichtig näher, grau, mit zotteligem Fell. Wir teilten unser Brot mit ihm, das es dankbar knabberte. Grizella tauften wir das liebenswerte Kerlchen, weil es uns an eine Kindergeschichte erinnerte. Das Eselchen ging gar nicht von uns weg, stand unbeweglich einige Meter entfernt und sah mit freundlichen, aufmerksamen Augen zu uns herüber. Ich holte Papier und Bleistift hervor und schrieb ein Gedicht. Ein Gedicht für Grizella:
Schön, wie
Er da steht
Grau
Stur und widerborstig
Genügsamkeit und Zurückhaltung
Vortäuschend
Schön, wie
Gesellig er sich
Gibt
Der Einzelgänger
Er ist wie ich
Mein Freund!
Danach nahmen wir Abschied von unserer kleinen Freundin. Grizella, la nostra amica d`Italia!
Die Fahrt ging weiter. Im Autoradio italienische canzoni. Urlaubsstimmung. Eine letzte Nacht noch in der “Contadina”, der alten Bauernkate, dann ging es nach Hause.
H. Bruning,11/ 2003
Szene in einem Zugabteil
Im Zugabteil 1. Klasse. Erstklassig gepflegt. Die Polstersitze in dezentem kleinkariertem Grau sind fleckenlos, keine Kaugummireste auf dem Boden. Im Abfallbehälter verbirgt sich nur ein einsames Apfelgerippe. Geraucht wird nicht, Nichtraucherabteil. Auf der Ablage vor dem Fenster liegt die Tageszeitung, halb ausgebreitet. Die Jalousien am Abteilfenster sind fast heruntergezogen und schützen vor den blendenden Sonnenstrahlen. So sieht man auch leider nicht, wie sich der Zug mit enormer Geschwindigkeit durch die schöne Landschaft schlängelt. Draußen ist heller Tag, hier drin gibt gedämpftes Licht eine wohlige Atmosphäre.
In der Gepäckablage ist ein schwerer Lederkoffer untergebracht, daneben eine schwarze Aktentasche. Einen hellen Popelinemantel hat man quer darüber gelegt.
Ein gepflegter Herr mittleren Alters hat es sich in den weichen Polstern bequem gemacht. Die Krawatte ist gelöst, der obere Kragenknopf steht offen. Er lehnt sich mit geschlossenen Augen zurück und genießt das gleichmäßig schnurrende Fahrgeräusch, das einschläfernd wirkt. Die Zeitung hat er zur Seite gelegt.
Die Abteiltür wird plötzlich geräuschvoll aufgezogen und der schlummernde Reisende brutal aus seinen Träumen gerissen. Ein junger Mann tritt ein. Mit einem kurzen „Tach“ wirft er die Reisetasche temperamentvoll in die Gepäckablage. Seine schwarze Lederjacke kommt mit Schwung hinterher. Den kleinen abgewetzten Tornister packt er zwischen seine Füße. Vorher holt er noch eine Coladose heraus, zieht sie auf und stellt sie auf die Ablage. Tief aufatmend setzt er sich dem Schlummernden gegenüber und greift zur Zeitung, die da aufgeschlagen liegt. Die Beine in den abgewetzten Jeans schlägt er großzügig übereinander und blättert geräuschvoll in der Zeitung.
Die Ruhephase für den Herrn am Fenster ist nun vorbei. Er blinzelt verdutzt und zieht seine Augenbrauen hoch.
Der Reisende: Guten Tag, leise sind Sie ja gerade nicht. Ein bisschen weniger wäre auch gut.
Der junge Mann: Nu lassen Sie`s mal gut sein. Bin auch nicht lauter als jeder andere. Wenn Sie soviel Ruhe brauchen, mieten Sie sich doch ein Abteil für sich alleine!
Sagt es, nimmt einen großzügigen Schluck aus der Coladose und lehnt sich entspannt zurück.
Reisender: Nicht nur laut, auch noch ganz schön unfreundlich. Ich will keine Verallge-meinerung, aber die Jugend von heute hat oft schlechte Manieren.
Der junge Mann guckt nur eben hoch und bleibt mit einem kurzen „Tz“ in der Zeitung vertieft. An einer weiteren verbalen Auseinandersetzung ist er nicht interessiert.
Abermals geht die Tür auf und eine junge Dame steckt den Kopf durch. Das blonde Haar wippt fröhlich und ist ein frischer Kontrast zu ihrer dunklen Kleidung.
Die junge Dame ruft verschmitzt: Hallo! Ist der Platz frei? Darf ich?
Schon ist sie im Abteil, wartet eigentlich gar nicht auf Antwort. Sie zieht ihren Rollkoffer hinter sich her und versucht, ihn in die Ablage zu hieven.
Der Reisende am Fensterplatz springt auf: Darf ich Ihnen behilflich sein? Einen Moment bitte. Ich packe mir das sperrige Ding.
Die junge Dame guckt verlegen: Oh, vielen Dank, das Stück ist ja wirklich schwer. Ein Geschenk meiner Eltern. Die haben nicht bedacht, dass ich damit alleine reise. Es lohnt sich aber nicht, den Koffer hoch zu schaffen, ich fahre nur bis Düsseldorf mit. Da kann er auch im Gang stehen bleiben.
Junger Mann: Ne, ne! Er stört doch nur und Sie haben dann gar keinen Platz.
Zum Reisenden gewandt: Lassen Se mal, is viel zu schwer für Sie, das schaffen Sie nie!
Dann legt er legt die Zeitung zur Seite und greift sich den Rollkoffer: Ganz schön viel drin! Haben Sie Steine geladen? Ist ja verflixt schwer.
Der andere Herr packt mit an und mit vereinten Kräften geht’s dann. Der Koffer ruht nun oben in der Ablage, die helle Wolljacke der jungen Dame wird noch vorsichtig darüber gebreitet. Endlich kann sie Platz nehmen, zupft ihre Kleidung zurecht und rollt den langen bunten Schal zusammen, den sie noch umgelegt hatte. Das kleine Handgepäck hält sie auf dem Schoß fest.
Junge Dame: Es ist unglaublich nett von Ihnen, ich danke Ihnen sehr. Sie sind beide sehr zuvorkommend. Nochmals meinen herzlichen Dank!
Der Reisende setzt sich nicht mehr: Und ich danke Ihnen für ihre Mithilfe, junger Mann, das war wirklich sehr freundlich von Ihnen. Hätte ich nicht gedacht. Bin angenehm überrascht. Die Jugend von heute hat eben viele Fassetten. Ich werde mich jetzt in den Speisewagen absetzen. Bis später dann.
Sagt es, zieht sich die schwarze Aktentasche aus dem Gepäckfach und verlässt mit einem Schmunzeln das Abteil.
Junger Mann: Oh je, jetzt sülzt der aber rum, dabei war das doch ganz selbstverständlich. Ich habe Ihnen echt gerne geholfen. Ein komischer Kauz. Der hat mich vorhin richtig angemacht, als ich nicht so leise ins Abteil kam, wie er sich das wünschte, der alte Großtuer.
Er sagt das leicht hin und schickt ein charmantes Grinsen zur jungen Dame. Die kramt gerade in ihrem Handgepäck und blickt kurz auf. Er nimmt einen tiefen Schluck aus der Coladose und prostet ihr übermütig zu.
Seufzend sagt sie: Es war schon eine wirklich nette Geste von Ihnen Beiden. Ich danke Ihnen sehr. Ohne Ihre Mithilfe hätte ich das Ding nicht in die Ablage gekriegt. Aber meine Reise ist fast zu Ende, ich fahre jetzt nur noch bis zur übernächsten Stadt, bis Düsseldorf mit, die Mühe hat sich fast nicht mehr gelohnt.
Junger Mann: Ich werd` verrückt! Sie wollen uns bald verlassen? Das kommt doch gar nicht in Frage! Sie können doch nicht so einfach aus meinem Leben verschwinden! Kann ich denn wenigstens Ihre Telefon-Nummer oder Ihre E-Mail-Adresse haben? Ich bitte ganz förmlich darum.
Er sieht bedrückt aus und wirft ihr einen flehentlichen Blick zu: Ich weiß, ich bin ein Chaot und gehöre auch nicht hier in die 1. Klasse. Da schleich` ich mich oft rein und stelle mich ganz dumm, wenn ne Kontrolle kommt. Es ist einfach bequemer hier. Mein alter Herr ist nicht so mit Kies gesegnet, da muss ich mich schon selbst durchschlagen.
Zerknirscht wirkt er, reibt seine Hände und sieht nach unten.
Die Tür zum Abteil ist aufgestoßen worden, der Mitreisende aus dem Speisewagen ist zurückgekommen. Einen Teil des Gesprächs hat er noch mitbekommen, er lächelt verhalten. Gleich hinter ihm erscheint auch schon der Zugschaffner.
Der ruft ein freundliches: Guten Tag, Ihre Fahrkarten bitte!
Die Köpfe der Reisenden gehen Richtung Tür und grüßen nickend zurück.
Der junge Mann ist wie erstarrt, verdattert sucht er in seinem Rucksack. Die junge Dame kramt in ihrem Handgepäck und sucht die Fahrkarte. Der Herr aus dem Speisewagen hat seinen Fahrausweis gleich griffbereit in der Seitentasche und reicht ihn dem Schaffner.
Dazu sagt er: Das hier ist meine Karte. Der junge Herr da drüben gehört eigentlich nicht hier in die 1. Klasse, ich hatte ihn gebeten, kurz zu mir ins Abteil zu kommen, wir hatten noch etwas zu besprechen. Er hat nur einen Fahrausweis für die 3. Klasse und wird auch gleich wieder das Abteil verlassen.
H.Bruning,11/03