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VHS-Schreibwerkstatt 2003-2012

Literaturwerkstatt 2013
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Literaturwerkstatt 2015, I, 1–8 (ab 28.1.) s.u.
Literaturkreis „Eliteraten“ 2015, II, 9-15 (ab 6.5.)

Literaturwerkstatt 2016

Literaturkreis 2015, II
9 – 17

Literaturkreis 9, Eliteraten in Bocholt (6.5.15)

Dialoge schreiben

Halt! Bleiben Sie stehen und hören Sie, was für eine erstaunliche Geschichte. Ich weiß nicht mal, mit welchem Ende ich anfangen soll. Es ist einfach unwahrscheinlich.

(DANIIL CHARMS)

Fische (Chr.Reinig)

Ein Fisch biss in einen Angelhaken. Was flatterst du so hektisch herum? fragten ihn die anderen Fische. Ich flattere nicht hektisch herum, sagte der Fisch an der Angel, ich bin Kosmonaut und trainiere in der Schleuderkammer. – Wer´s glaubt, sagten die anderen Fische, und sahen zu, wie es weitergehen sollte. Der Fisch der Angel erhob sich und flog in hohem Bogen aus dem Wasser. Die Fische sagten: er hat unsere Sphäre verlassen und ist in den Raum hinaus gestoßen. Mal hören, was er erzählt, wenn er zurückkommt.
Der Fisch kam nicht wieder. Die Fische sagten: Stimmt also, was die Ahnen uns überliefert haben, dass es da oben schöner ist als hier unten. Ein Kosmonaut nach dem anderen begab sich zum Training in die Schleuderkammer und flog in den Raum hinaus. Die Kosmonauten standen in Reih und Glied und warteten, bis sie drankamen.
Am Ufer saß ein einsamer Angler und weinte. Einer der Kosmonauten sprach ihn an und fragte: O großer Fisch, was weinst du, hast du auch gedacht, dass es hier oben schöner ist?
- Darum weine ich nicht, sagte der Angler, ich weine, weil ich niemanden erzählen kann, was hier und heute geschieht. Achtundfünfzig in einer Stunde und kein Zeuge weit und breit.

Absage (Reinhard Lettau)

Ein Herr tritt auf Manig zu. „Gefällt ihnen dieser Löffel?“ fragt er. Er hält den Löffel hoch.

Manig schüttelt den Kopf. „Wirklich nicht?“ fragt der Herr. Dann nimmt er Manig bei der Hand. Sie kommen zu einem Tunnel. Hier im Dunkeln, bleibt der Herr stehen, zieht Manig zu sich, zeigt ihm den Löffel und fragt: „Auch nicht im Tunnel?“ – „Der Löffel gefällt mir auch im Tunnel nicht“, sagt Manig, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.

Beide stehen jetzt auf einer Hochebene. Um sie der Wind. Sie stehen nebeneinander, die vier Füße in einer Reihe. Zwischen ihnen erhebt sich der Löffel.

Der Herr wendet seinen Kopf mit einem Ruck nach rechts, so daß dieser genau über seiner Schulter steht. Die Augen wandern zum Löffel, dann zu Manig zurück.

Wie wär´s?“ fragt der Herr. „Auch hier nicht“, antwortet Manig.

Und mit einem Ball dazu?“ fragt der Herr. Er zeigt den Ball.

Sie sitzen auf einem Baum. Unter ihnen wogende Wipfel niedriger Bäume, entfernt die See.

Auch dann nicht“, sagt Manig. „ Überhaupt niemals.“

 

Einzig der Baumbestand ändert (GERHARD MEIER)

Vor den Häusern die Vormittage

und hinter den Häusern die Nachmittage

und hinter den Häusern die Kieswege

und vor den Häusern die andern Wege und in den Häusern die Blattpflanzen

und vor den Fenstern die Blütenpflanzen, an den Wänden Porträts.

 

Pflaumenbäume gabs,

es gibt sie noch heute.

Vor den Bauernhäusern die Brunnen gabs

vereinzelt noch heute.

Unter den Pflaumenbäumen die Schatten gabs

so gestern so heute.

Der Dinge zu harren gabs,

wir kennen sie heute.

Und Dinge gabs

und gibt sie noch heute,

einzig der Baumbestand ändert.

Vor den Häusern die Vormittage

und hinter den Häusern die Nachmittage

und in den Häusern Porträts.

Abriss, ein Hauswechsel (g.n.)

Ein Planer tritt auf uns zu. „Gefallen Ihnen die alten Fabrikruinen", fragt er. Wir schütteln den Kopf. „Wirklich nicht?“ fragt der Planer. Dann nimmt er uns bei der Hand und zeigt auf ein hohes Gebäude. Wir betreten einen großen Saal. Hier im Angesicht der kahlen Wände bleibt er stehen, schaut uns in die Augen und fragt: „Auch hier im Innern nicht?“ „Die Fabrikräume gefallen uns auch im Innern nicht“, sagen wir, nachdem die niedrige Decke und die vielen Stützsäulen uns die Sicht nehmen. Dann stehen wir auf dem Dach im Wind. Der Planer hebt ruckartig seinen Kopf, seine Augen leuchten uns an. „Wie ist es?“ fragt der Planer. „Auch jetzt nicht“, sagen wir. „Und mit einem Glaspavillon zum Feiern?“ Er hebt die Arme, hebt an zum Tanz über die Häuser von Bocholt. „Nein, nein, auch dann nicht. Niemals geht das“, rufen wir und steigen in einer langen Reihe die Stiegen hinab, ohne uns umzusehen.

Bocholt ändert (g.n.)

Vor den Bäumen die Straßen,

hinter den Bäumen die Radwege,

hinter den Radwegen die Hauseingänge,

vor den Hauseingängen die Blumentöpfe,

vor den Fenstern die Gardinen,

hinter den Zimmerwänden Planer.

 

Pläne zu erwarten gab`s,

wir kennen sie heute.

Bäume gab`s, ein paar gibt`s noch.

Bäche gab`s, es gibt sie noch immer.

 

Gestern ist nicht heute,

sagen die Planer.

 

Neben den Straßen die Häuser,

hinter den Häusern Ruinen.

Neben Ruinen Pläne und Skizzen.

 

Versprochen, sagen die Planer,

Bocholt ändert

dies und das

 

Vielleicht kommst auch du,

denn hier wird aufgetischt.

 

Ein Tischwortwechsel (g.n.)

Ein Mensch sitzt planend an einem Tisch. „Gefällt Ihnen die Sitzmöglichkeit?“ frage ich. Er schüttelt den Kopf. „Mögen Sie hier denn nicht sitzen?“ „Ich plane zu Tisch“, ruft der Mensch. Ich trete näher heran, da schreit der Mensch: „Hier wird nicht aufgetischt“. Ich öffne ein Fenster neben dem Tisch. „Dies ist kein Tisch zum Sitzen, nein, zum Planen sitze ich hier.“ Ich gehe ganz nahe an den Sitzenden heran und flüstere in sein Ohr: „Du brauchst eine Tischordnung für deine Skizzen“ „Gehörst du etwa zu meiner Tischgesellschaft?“ brüllt der Mensch mich an. Ich versuche es mit einem stillen Tischgebet: „Oh Mensch, gib mir einen Platz an deinem Tisch, dass ich mündlich und schriftlich zeugen kann von der Pein des Miteinander-Planens an einem gemeinsamen Tisch.

Da steht er auf, der planende Mensch, von seinem Tisch und spricht mit einer endgültig abweisenden Stimme: „Du bist nicht mein Tischgenosse. Noch niemals wurde jemand satt von Worten, die in den Wind gesprochen oder auf Papier geschrieben wurden .“

 

Die Kahle Sängerin (1950, Eugène Ionesco, 1912 – 1994)

Ein absurdes Stück. Es spiegelt die Unfähigkeit der Menschen zu kommunizieren, ihre Erstarrung in konventionellen Floskeln und sinnlosem Tun. Die Absurdität findet sich sowohl in der Form des Stückes als auch im Inhalt. Es ist ein „Antistück“, das nicht nur den Umgang der Menschen miteinander und ihre Sprache, sondern auch das Theater in seiner klassischen Form parodiert.

(Das Ehepaar Martin sitzt sich gegenüber.)
Er: Verzeihen Sie, Madame, doch es scheint mir, wenn ich mich nicht irre, als wären wir uns schon einmal irgendwo begegnet.
Sie: Mir auch, Monsieur, mir scheint, als wäre ich Ihnen schon einmal irgendwo begegnet.
Er: Habe ich Sie nicht zufällig in Manchester gesehen, Madame?
Sie: Das wäre sehr gut möglich. Ich bin aus Manchester gebürtig Aber ich erinnere mich nicht sehr gut, Monsieur. Ich wäre außerstande zu sagen, ob ich Sie dort gesehen habe oder nicht!
Er: Mein Gott, wie seltsam! Ich bin auch aus Manchester gebürtig, Madame!
Sie:Wie seltsam!
Er: Wie sonderbar[...]Er: Seit ich in London eintraf, chère Madame, wohne ich in der Bromfieldstreet 19, in der 5. Etage, in der Wohnung Nr. 8.
Sie: Wie sonderbar! Und welch ein Zusammenspiel! Ich wohne ebenfalls im fünften Stock in der Wohnung Nr 8, cher Monsieur!
Er: Vielleicht haben wir uns dort gesehen?
Sie: Das ist gut möglich, doch ich entsinne mich keineswegs, Monsieur.... Ich habe eine Tochter, sie ist zwei Jahre alt, blond; sie hat ein weißes und ein rotes Auge, und sie heißt Alice ...
Er: Wie seltsam! Und welch ein Zusammenspiel! Wie sonderbar! Meine Tochter auch ...
Sie: Dann ist es ja vielleicht die gleiche?
Er: In diesem Fall chère madame, steht es außer Zweifel: Wir haben uns bereits einmal gesehen, und Sie sind meine eigene Gattin ... Elisabeth, ich habe dich wieder!
Sie: Donald, mein Liebling!

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Ein gerahmtes Kippfenster - Kipplige Erinnerungen (g.n.)

(Die Eliteraterischen starren auf ein Handy, ein ipad oder einen PC.)
a: Verzeihen sie, meine Lieben, doch es scheint mir, wenn ich mich nicht irre, als hätten wir uns schon einmal irgendwie verabredet.
b: Mir auch, mir scheint, als hätte ich mich mit iIhnen schon einmal irgendwie verabredet.
c: Gehe ich recht in der Annahme, dass wir uns schon einmal irgendwie festgelegt haben?
d: Das wäre sehr gut möglich. Aber ich erinnere mich nicht sehr gut. Ich wäre außerstande zu sagen, ob wir uns am 8.7. treffen oder nicht!
e: Mein Gott, wie seltsam! Ich bin ganz konfus!
a: Wie seltsam!
b: Wie sonderbar!
c: Mein Nachwuchs ist bei Anne immer herzlich willkommen.
d: Wie sonderbar! Und welch ein Zusammenspiel! Mein Anhang darf na klar gerne mitkommen zur Katja.
e: Vielleicht haben wir uns gar nicht verabredet?
a: Das ist gut möglich, doch ich entsinne mich keineswegs. Ich habe ein Kindkind und muss vielleicht nicht dabei sein.
b: Wie seltsam! Und welch ein Zusammenspiel! Wie sonderbar! Mein vierbeiniger Zuwachs...
c: Dann ist es ja vielleicht der gleiche?
d: In diesem Fall steht es außer Zweifel: Wir haben uns bereits einmal verabredet, wir sind die eliteraterischen Konfusionisten. Wir werden uns am 8.Juli bei Katja wiedersehen!
A-b-c-d: Wie wunderbar! Wie wir uns freuen! Geschlossenes Kippfenster, notierter Termin im Sonnenrahmen bei 34°, „Amazing grace“!

 

Literaturkreis 10, Eliteraten in Bocholt 10.6.15

 

Satire von Jonathan Swift (1667–1745

A Modest Proposal, eine Satire von von 1729

Ein bescheidener Vorschlag,
wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am Besten benutzt werden können.

"Spaziergänger in unserer großen Stadt Dublin oder Reisende auf dem Lande müssen leider oft den traurigen Anblick genießen, daß sie die Straßen, Häfen u. s. w. von Bettlerinnen gefüllt sehen, denen drei, vier oder sechs zerlumpte Kinder folgen, um jeden Reisenden mit Almosenbitten zu belästigen. Diese Mütter werden, anstatt daß sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten können, gewissermaßen zur Herumstreiferei gezwungen, damit sie Nahrung für ihre hülflosen Kinder erlangen. Letztere aber werden Diebe, sobald sie größer sind, weil ihnen Arbeit fehlt, oder sie nehmen fremde Kriegsdienste, vielleicht zum Schaden Englands, oder verkaufen sich als Taglöhner nach den Kolonien.

Wie ich glaube, sind alle Parteien darüber einstimmig, daß diese ungeheure Zahl von Kindern auf den Armen, auf dem Rücken oder hinter den Fersen ihrer Mütter und oft ihrer Väter, bei den jetzigen beklagenswerthen Zeiten und bei dem Zustande des Königreichs eine Hauptbeschwerde neben vielen andern bildet. Wer also eine zweckmäßige, wohlfeile und leichte Methode ausfindig machen kann, diese Kinder zu gesunden und nützlichen Gliedern des Staates umzubilden, wird sich ein so hohes Verdienst um das Publikum erwerben, daß [30] man ihm mit Recht eine Statue als Retter der Nation aufstellen könnte.

Mein Plan ist weit davon entfernt, sich allein auf die Kinder der Bettler von Profession anwenden zu lassen; er ist von weit größerer Ausdehnung, und wird alle Kinder von gewissem Alter umfassen, deren Eltern zur Ernährung derselben eben so wenig befähigt sind, wie die Bettler in den Straßen.

......

Ich gestehe in der Aufrichtigkeit meines Herzens, daß kein persönliches Interesse mich bewogen hat, jene nothwendige Maßregel zu befördern. Mein einziger Beweggrund ist das Wohl meines Vaterlandes, die Vermehrung des Verkehrs, die Versorgung der Kinder, die Erleichterung der Armen und die Erhöhung des Vergnügens für die Reichen. Ich selbst habe keine Kinder, durch die ich einen einzigen Heller mir zu erwerben hoffen könnte, mein jüngstes ist nämlich 9 Jahr alt und meine Frau über die Jahre der Fruchtbarkeit hinaus."

Zunächst schildert Swift die Lage aus der Sicht der Reisenden in Dublin, die sich von den Bettlerinnen belästigt fühlen könnten: „Es ist ein melancholischer Anblick für alle, die in dieser großen Stadt umhergehn oder im Lande reisen, wenn sie die Gassen, Straßen und Türen der Hütten voller Bettlerinnen sehn, hinter denen sich drei, vier oder sechs Kinder drängen, alle in Lumpen, die jeden Vorübergehenden um ein Almosen belästigen.“ Diese Gedanken führte er mit weiteren Worten fort: „Einige Leute von verzagter Natur sind in großer Sorge um jene ungeheure Anzahl Armer, die bejahrt, krank oder verkrüppelt sind; und man hat mir gegenüber oft den Wunsch ausgesprochen, ich möge meine Gedanken darauf richten, welchen Weg man einschlagen müsse, um das Land von einer so schweren Last zu befreien; ...“

Zur Lösung von Überbevölkerung, Armut und Kriminalität in Irland schlägt er darin vor, irische Babys als Nahrungsmittel zu nutzen und durch Export nach London Profit daraus zu schlagen: „Denn diese Ware eignet sich nicht für den Export, da das Fleisch zu zart ist, um sich selbst in Salz lange zu halten, obschon ich vielleicht ein Land nennen könnte, das mit Freude unsre ganze Nation auch ohne Salz aufessen würde.“ Vollständiger Text der Satire: Ein bescheidener Vorschlag – Wikisource 



Literaturkreis 11, Eliteraten in Bocholt (8.7.15)

Sprache als optisches und akustisches Kunstwerk

1. „Sprachskulpturen

Sprachskulpturen entstehen in einem vielschichtigen Prozess: Worte und Phrasen werden z.B. aus Zeitungen herausgetrennt, neu zusammengefügt und zunächst auf zuvor unterschiedlich bearbeitetes Papier geklebt. Die so entstandenen Texte durchlaufen daraufhin einen hörbar gemachten Interpretationsvorgang, der scheinbare Lücken mit erweiternder Assoziation füllt und anschließend (mithilfe von Stereoeffekten und Verzerrung) in Raumklang überführt wird. Der Hörer soll auf diese Weise in den Text hineingezogen werden, so dass auf Grund des „Textraumes“ in seinem Kopf eine Sprachskulptur entstehen kann.

Für Georges Perec ist der erste Raum, ja vielleicht der „Grundraum“ ein ganz besonderer, nämlich das unbeschriebene Blatt bzw. eine Seite. Es hat eine bestimmte Grösse, man könnte auch ausrechnen wie viel Holz für dieses Blatt benötigt wurde etc. Auch wenn das Blatt erst mal nur weiss und leer ist, beginnt es zu leben, sobald es mit Wörtern gefüllt wird:

« Ich schreibe : ich bewohne mein Blatt Papier, ich statte es aus, ich durchlaufe es. »

Georges Perec: „Träume von Räumen" („E

 

Der mexikanische Künstler und Schriftsteller Ulises Carrión hat 1975 erstmals in einem Essay „die neue kunst des büchermachens“ definiert. In mehreren Kapiteln legt er dar, „was ein buch ist“, wobei er näher auf die Rolle von „prosa und dichtung“, „raum“, „sprache“, „strukturen“ und „das lesen“ eingeht. Englische Version

 

Anregungen zur eigenen Gestaltung:

 

Schreibe eigene Texte oder Zitate auf vorher bearbeitetes Papier (Beispiele: Menü – Textskulpturen, Collagen von Herta Müller: Herta MüllerWikipedia, herta müller vater telefoniert mit den fliegen

 

Papierkunst (Bücher als künstlerisches Material in Bredevoort „Papieren boekfestival“ und als Künstlerbuch, Grass „Zunge zeigen“)

Schrift als Bild (China8), Visuelle und konkrete Poesie


2. Beispiel Michael Fehr

Kurz vor der Erlösung“ (Literaturpreise des Kantons Bern, Nomination für den Franz-Tumler-Literaturpreis 2013) besteht aus ganzen 17 Sätzen, die jeweils Geschichten von Menschen zur Weihnachtszeit erzählen: Geschichten, in denen die Figuren, jede auf ihre eigene Art und Weise, zur Erlösung finden; Geschichten, in denen kuriose Ereignisse stattfinden. Während in der Hauptstadt die Glocken der Kathedrale schlagen, entdeckt ein Bauer im Stall ein „lustiges Zigeunerpaar“. Zur gleichen Zeit stimmt ein Männerchor in der Gaststube ein Lied an. An einem anderen Schauplatz folgt ein König einem Sternenschweif, ein mutmaßlicher Fischer trinkt einen über den Durst und städtische Musiker heitern das Volk vor der Kathedrale inmitten eines Schneesturms auf – so blickt Fehr in narrativen Momentaufnahmen von Ort zu Ort. Am Ende jeder Geschichte besinnen sich seine 17 Protagonisten jedoch allesamt auf Harmonie und stimmen ein Halleluja an.

In «Kurz vor der Erlösung» kann der Leser mitverfolgen, wie Fehr seine pulsierenden «Sprachskulpturen» auftürmt, raffiniert mit den Stilmitteln der Repetition und Variation arbeitet, mit Vorliebe Phrasen, Floskeln und Helvetismen auf ihren semantischen Kern abklopft und so an Sprachschrauben dreht, die Wortmasse knetet und modelliert.


Erster Satz

Der Bauer

Buta no Shogayaki (Michael Fehr)



Die gesprochene Sprache steht für Fehr im Vordergrund; Artikulation ist für ihn die Suche nach Bedeutung, Akzent, Rhythmus und Melodik jeden einzelnen Wortes. Michael Fehr inszeniert die Literatur als Partitur im Klang der Sprache – er befreit also das Wort von der Konserve der Schrift. So entstehen stark rhythmisierte, repetitive Wortkaskaden, die an kein zwingendes Ende kommen.Michael Fehr zielt mit seinen «Wortwaschungen» vor allem darauf: die sprachlichen Elementarteilchen zu einem klingenden Werk zusammenfügen, abgenutzte Wörter so zu «reinigen», dass sie in urtümlichster Form erstrahlen und die «Schönheit von gelungenen Sprachpatterns retten».

Stilübungen:

Schreibe ähnliche Texte der „sprachlichen Einkreisung“ mit den Stilmitteln der Repetition und Variation mit Phrasen, Floskeln und „fremdsprachigen“ Zitaten.

 

Jubilate - om mani padme hum

I.

Schaut er hinaus

die Welt

sieht er

Tag und Nacht

hum“

brummt er

Omm“

summt er

das“

sagt er

das mani padme“

meint er

mit mantra-keim om

bin ich unsterblich

im om mani padme

knotenfrei“

singt er

ommmm“

II.

Jubilate Exultate

om mani padme

wort aller worte

süßes wort

nie befleckt

nie berühret

nie verführet

als himmelstau in mein gemüt

gegen gift

gegen schlangenbiss

hum

das süße wort

stark und mild

mit zung und mund

zu aller stund

ganz wundersam

admirabel

0m mani padme hum

III.

Schaut er hinaus

schaut die leidige

also leidende

die knöttrige

missmutige

also missstimmige

die miese Welt

im Blick drin

also mittendrin

im Herzen

also ganz darin




nicht mehr erträglich

also tödlich

abscheulich

also schließt er die Augen

nicht mehr sehen,

nicht mehr fühlen

das lichte Leidige

im Herzen

verknotet hart

also tödlich verkrebst

also sterblich

ein wortloses Ende

günter neuenhofer




Literaturkreis 12, Eliteraten in Bocholt (15.7.15)


Räume – literarisch beschrieben


Beispiele:



Träume von Räumen (Georges Perec, 1936- 1982)


1967 trat Georges Perec der Gruppe l’Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle) bei. Diese internationale Literaturgruppe bestand aus Literaten und Mathematikern. Sie wurde durch den Mathematiker François le Lionnais und von dem Schriftsteller und Dichter Raymond Queneau 1960 gegründet. « La Disparition » war Georges Perecs erster « oulipischer » Roman, der sich durch das Fehlen des Vokals « e » innerhalb des gesamten Textes auszeichnet. Es folgten weitere kleine Werke und unter anderem « Espèces d’espaces » 1974, übersetzt « Träume von Räumen ».

Es ist kein klassischer Roman, es ist eine raffinierte und äusserst spannende Ansammlung und Aneinanderreihung von Aufzählungen, Texten, Papierschnipseln, Kurzessays und Sprachexperimenten. Man spürt den « oulipischen » Einfluss und lässt sich mitreissen in eine Welt voller Räume, die Georges Perec für sich ganz persönlich entdeckt hat.

Für Georges Perec ist der erste Raum, der „Grundraum“, ein ganz besonderer, nämlich das unbeschriebene Blatt bzw. eine Seite. « Ich schreibe : ich bewohne mein Blatt Papier, ich statte es aus, ich durchlaufe es. » Aber auch ein Bett ist nach Georges Perec ein Raum, egal in welcher Form und auf welcher Seite man es auch benutzt,

Es gibt viele weitere Überlegungen von Georges Perec, die Zimmer einer Wohnung nicht nur zu analysieren, sondern sie regelrecht zu sezieren. Wir kommen vom «überflüssigen Raum » zu den Themen « Einziehen » und « Ausziehen », aber nicht nur « Türen » und « Treppen », auch « Wände» haben hier ihre elementare Bedeutung. Auch die Straße, das Wohnviertel, das Land sind Räume.

« Der Raum ist ein Zweifel : ich muss ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen ; er gehört niemals mir, er wird mir nie gegeben, ich muss ihn erobern. »


Das papierene Zeitalter (Gerhart Hauptmann)


Ich bin Papier, du bist Papier.

Papier ist zwischen dir und mir,

Papier der Himmel über dir,

die Erde unter dir Papier.

Willst Du zu mir und ich zu dir:

hoch ist die Mauer von Papier!

Doch endlich bist du dann bei mir,

drückst dein Papier an mein Papier:

So ruhen Herz an Herz wir!

Denn auch die Liebe ist Papier –

und unser Hass ist auch Papier.

Und zweimal zwei ist nicht mehr vier:

Ich schwöre dir, es ist Papier.




Beton

(R.D.Brinkmann,1962-70)

 

Sonntags

Beton die Herzkammern

davon angefüllt der

Schlaf in lichtlosen

Räumen woher

kein Kindsschrei.

kommt für immer

eingemauert Gebete

sprengen nicht

die Kapseln geborgen

ruhn sie hier sonntags

Beton die hohen

Räume Dome

hochhinauf im Innern

schalldicht ruhn

die Embryos

der Haufen

grau die Nachgeburt

ruhn im Beton

ruhn im Gedicht

hier still

sonntags

Beton


Blaues Zimmer

(Hans Georg Bulla, 1981)

Gleichmäßig das Muster der
Tapete. Zehn Finger reichen
für den Abzählvers, dann

beginnt die Wiederholung.
Ich bleibe stehen in der
Tür, den Rahmen hart im
Rücken. Als könnte ich zu
atmen vergessen für ein paar
Augenblicke.
Nichts verzerrt der Spiegel
in der Ecke, einfach kommt
zurück die Antwort. Er lässt
mich nicht allein in dieser
kleinen Lähmung.

 

Literaturwerkstatt 13 (12.8.15)


ORTSBESCHREIBUNGEN IN PROSATEXTEN

Volkslieder zeichnen sich durch formale Schlichtheit aus. Ihr Versmaß ist nicht auf ein bestimmtes Schema festgelegt. Im Deutschen besteht die typische Volkslied-Strophe aber meist aus vier, manchmal auch aus sechs Zeilen, die immer gereimt sind und mit drei oder vier Hebungen recht kurz sind.


Franz Kafka

1. (Franz Kafka, Der Kübelreiter, 1917)
Verbraucht alle Kohle; leer der Kübel; sinnlos die Schaufel; Kälte atmend der Ofen; das Zimmer vollgeblasen von Frost; vor dem Fenster Bäume starr im Reif; der Himmel, ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will. Ich muß Kohle haben; ich darf doch nicht erfrieren; hinter mir der erbarmungslose Ofen, vor  mir der Himmel ebenso, infolgedessen muß ich scharf zwischendurch reiten und in der Mitte beim Kohlenhändler Hilfe suchen.

2. (Franz Kafka, Großer Lärm, 1912)
Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt, durch das Vorzimmer Wort für Wort  rufend, ob des Vaters Hut schon geputzt sei, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt noch das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstür wird aufgeklinkt und lärmt, wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem Singen einer Frauenstimme und schließt sich endlich mit einem dumpfen, männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir von neuem ein, ob ich nicht die Tür bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.

3. (Franz Kafka, Die Verwandlung, 1912) ….
„Was ist mit mir geschehen?“, dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinander gepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender -, hing das Bild, das er vor kurzem aus seiner illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar…..
Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. „Wie wäre es, wenn ich…“
Und er sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte. „Himmlischer Vater!“, dachte er. Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber…

I.
Schon an der Tür hatte er den Geruch bemerkt. An den Wänden, an der Decke und auf dem Boden kroch er fast sichtbar auf ihn zu, griff nach ihm, hüllte ihn ein. L. lief, ja sprang die Treppe hoch, atemlos, weil er nicht wagte zu atmen, schloss die Zimmertür hinter sich, riss den Fensterflügel auf und gierte nach Atemluft. Dann ließ er sich aufs Bett fallen, nahm seine Kopfhörer und schloss die Augen. Er wollte sich ablenken, bewegte seinen Kopf im Rhythmus der Bassgitarre und setzte die Worte mit geschlossenen Lippen gegen sein schwindendes Bewusstsein.
 II.
Verbraucht alle Sonne; leer der Kopf; sinnlos das Leben; Kälte atmend die Fenster; das Zimmer gefüllt mit Phrasen. Ich muss gehen, wohin ich will; weg von den Litaneien der Prediger; weg von den Angeboten;  vor mir leer der Himmel, hinter mir schreiend mein Leben; ich muss weg; ich muss atmen; der Dunst der Nebelwelten würgt in meiner Brust.
 III.
L. sitzt in seinem Zimmer im Haus seiner Tante. Durch Spalten an der Tür ziehen Schlieren, dringen in seine Haare, in seinen Pullover, in seine Haut, unter die Fingernägel, in sein Blut, seinen Kopf. Er kann nicht mehr atmen, nicht mehr denken.
 IV.
Was ist mit mir? Da ist ein Zimmer. Vor mir ein geöffnetes Fenster. Ich liege auf einem Bett, höre Worte, geschrieen, höre Musik. Auf dem grauen Teppichboden liegt mein Anorak. Ein Stuhl. Auf dem Tisch steht eine Dose Coke. L. öffnet und schließt die Augen. Ein Auto fährt vorbei. Wie wäre es, wenn er durchs Fenster stiege, um die Tür zu umgehen? Warum kann er die Tür nicht einfach öffnen? Ein Spinnennetz über ihm, von einer Wand zur anderen. O Gott, denkt er, ich kann mich nicht bewegen. Schnell schließt er die Augen. Das Blut pocht in seinem Kopf, in seinen Ohren die Bassgitarre. Könnte er,  dürfte er durch die Tür, über die Treppe nach unten, hinaus…. Bei diesen Gedanken fällt er in einen tiefen Schlaf.
(g.n.)

4. Theodor Fontane

Effi Briest ( 1895), Erstes Kapitel


In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen, weiß gestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing - die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.
Auch die Front des Herrenhauses - eine mit Aloekübeln und ein paar Gartenstühlen besetzte Rampe - gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten…..

Irrungen, Wirrungen (1888)
…..
Frau Nimptsch selbst aber saß wie gewöhnlich an dem großen, kaum fußhohen Herd ihres die ganze Hausfront einnehmenden Vorderzimmers und sah, hockend und vorgebeugt, auf einen rußigen alten Teekessel, dessen Deckel, trotzdem der Wrasen auch vorn aus der Tülle quoll, beständig hin und her klapperte. Dabei hielt die Alte beide Hände gegen die Glut und war so versunken in ihre Betrachtungen und Träumereien, daß sie nicht hörte, wie die nach dem Flur hinausführende Tür aufging und eine robuste Frauensperson ziemlich geräuschvoll eintrat. Erst als diese letztre sich geräuspert und ihre Freundin und Nachbarin, eben unsre Frau Nimptsch, mit einer gewissen Herzlichkeit bei Namen genannt hatte, wandte sich diese nach rückwärts und sagte nun auch ihrerseits freundlich und mit einem Anfluge von Schelmerei: "Na, das is recht, liebe Frau Dörr, daß Sie mal wieder rüberkommen. Und noch dazu von's 'Schloß'. Denn ein Schloß is es und bleibt es. Hat ja 'nen Turm. Un nu setzen Sie sich ... Ihren lieben Mann hab ich eben weggehen sehen. Und muß auch. Is ja heute sein Kegelabend."



Haus 1 (Beschreibungen im Stil Fontanes)

Dort, wo die Hindenburgstraße auf die Steinstraße trifft, von der Post her kommend, nur 20 m seitwärts der Pfarrkirche, schaut man auf den runden Balkon und das helle Eckhaus, das in den 30er Jahren des 20 Jh`s vor ein älteres Wohnhaus in dunklem, rheinischem Klinker gebaut worden ist, und in früherer Zeit sozusagen den modernen Mittelpunkt des Dorfes bildete neben dem älteren Mittelpunkt auf der anderen Seite, wo die Kirche, die Brauerei Hannen-Alt und einige Kneipen, in denen sich die Schützenvereine St. Hubertus und St Andreas und der Männergesangverein trafen, sich um einen Marktplatz gruppierten. Seitwärts zur Kirche hin fällt der Blick auf eine dunkle Mauer, die den Einblick in einen Innenhof verbirgt, aber nicht die grellen Töne einer sich überschlagenden, hellen Stimme und die manchmal heraus gebellten Worte einer Mannes. Vielleicht war die Mauer, die eher auf einen Gefängnishof hinzuweisen schien als auf einen erholsamen Garten oder einen Kinderspielplatz, wie ein gnädiger Vorhang, der die intime Seite des Familienlebens den Blicken der Vorübergehenden entzog.

Haus 2 (günter neuenhofer, Februar 2008)
Zur Rückseite des seit einem Jahr bewohnten Hauses fiel greller Sonnenschein auf die Terrasse und den Wiesenhügel, auf dem sich das Haus erhob, während nach der vorderen Eingangsseite hin die Höhe des breiten Daches einen Schatten auf den gepflasterten Zugangsweg und über die Sträucher und Hecken der schmalen Grünanlage und auch über den breiten Eingang, an dessen Seite eine Theatermaske aus Kreta hing, warf. Etwa sieben Schritte seitwärts, der Richtung der östlichen Seitenwand entsprechend, standen mächtige Rhododendronsträucher vor einem hohen Maschendrahtzaun, hinter dem zwischen einigen uralten Kopfweiden am Uferrand des Sandbaches der Blick auf einen rötlichen Spazierweg fiel, auf dem jeden Morgen die Frauen und Herren Hundebesitzer ihre Lieblinge ausführten. Von der entgegengesetzten Seite des Hauses tönten von Zeit zu Zeit die Bässe eines Autoradios herüber, nicht gedämpft von der hohen Tanne und den hohen Lebensbäumen, die das Haus gegen Blicke von der Straße abschirmten. Die Südseite des Hauses – eine mit einer riesigen Agave, einigen Blumenkübeln und Gartenstühlen besetzten Terrasse – gewährte bei Sonnenschein einen vorzüglichen Sommerurlaub, zumal man, wenn die Sonne allzu heiß nieder brannte, sich unter eine ausfahrbare Markise zurückziehen konnte, so dass dieser Platz ganz besonders von der Hausfrau bevorzugt wurde, was sie auch heute wieder genoss, obwohl sie hier manchmal den Blicken der Nachbarn preisgegeben war, was ihr aber nichts auszumachen schien, da sie freundlich mit einem „Hallo, Hallo“ hinüber grüßte, als sich das obere Fenster des gegenüberliegenden Hause öffnete und ein Mann mittleren Alters mit einer Zahnbürste in der Hand erschien und sich kräftig die Zähne bearbeitend gegen die Morgensonne hin stellte, während er sich recht wohl zu fühlen schien.

s. Internet: Erzähltes Wohnen: Literarische Fortschreibungen eines …



Literarische Neuwortbildungen (Neologismen)


„Losigkeit“

1.) Blankenburg, Zustandsbericht eines Leselosen (Herman Burger, 1986)

Liebe Herrin von und zu Blankenburg, Freundin des Herzens,höchste Legistin, Dank zunächst für das fortwährende Lesen, gerade ich, der Leselose, und hiermit ziehe ich einen blutigen Dolch aus tiefem Papier, kann ermessen, was es heißt, im Schlossgut des Simmentals, in der Parkumfriedung, unter Ulmen und Kirbeln, also noch diesseits der Baumgrenze, geschützt vom Wildstrubel und den Spillgerten, kurz in den Büchern zu leben, umso mehr als der Unterfertigte selber einmal Buchstabe war, und die Einladung, in Ihrer Bibliothek zu nächtigen, in Ihrem Innersten, ja dort, dem Blumenparterre gegenüber, die Wasserkunst in den Ohren, mein Krankenlager, mein Siechengeliger
aufzuschlagen im Duft des Saffian- und Oasenziegenleders Ihrer Gesamtausgaben, sozusagen angefächelt vom Rockblitzen der Weltliteratur, diese Offerte baronesslicher Großzügigkeit –
einschließlich eines als Ambulanz getarnten Büchercamions zur Überführung meiner Pillenleiche nach Blankenburg, o wie klar der Name vor stahlblauem Himmel – hat mich Ihrer Hochwarmherzigkeit entgegengepflügt, dann aber auch nach unten gespatet in den Kerker meiner Leselosigkeit.

Der "Leselose" muss sich ganze Bibliotheken imaginieren, um seinen "Morbus lexis" zu überwinden. Der niederschmetternde Befund der Depression hindert ihn daran, Texte, die einer adeligen Dame und Schlossbesitzerin als kostbar gebundene Bände rund um die Uhr zu Gebote stehen, als belebende Elixiere in sich einzuschlürfen.

2.) „Losigkeit“ (Lessness, Samuel Beckett, 1970) 24 Textgruppen von insges. 120 Sätzen

Trümmer wahre Zuflucht endlich zu der seit jeher durch soviel falsche. Weiten endlos Erde Himmel ineinander alles lautlos regungslos. Graues Gesicht zwei blaßblau kleiner Körper Herz schlägt einsam aufrecht. Erloschen aufgesprungen vier Wände auseinander wahre Zuflucht ausweglos.
Ruins true refuge long last towards which so many false time out of mind. All sides endlessness earth sky as one no sound no stir. Grey face two pale blue little body heart beating only up right. Blacked out fallen open four walls over backwards true refuge issueless. (1)
Verstreute Trümmer und Sand durcheinander aschgrau wahre Zuflucht hohler Kubus lauter Licht schiere Weiße Flächen spurlos alles entfallen. Seit jeher nur graue Luft zeitlos Schimäre das schwindende Licht. Aschgrauer Himmel Abglanz der Erde Abglanz des Himmels. Seit jeher nur dies Beständige Traum die schwindende Stunde.
Scattered ruins same grey as the sand ash grey true refuge. Four square all light sheer white blank planes all gone from mind. Never was but grey air timeless no sound figment the passing light. No sound no stir ash grey sky mirrored earth mirrored sky. Never but this changelessness dream the passing hour. (2)

………………………………….
Wörter werden wie abstrakte Farbtupfer und musikalische Elemente verwendet, die sich als Motive wiederholen und neu gemischt werden, und so entsteht ein ästhetisch wahrnehmbares „Wortkunstwerk“, dessen inhaltliche Seite nur assoziativ erfasst werden kann. s. Literaturwerkstatt 2014, 6

 

Literaturkreis 14 (19.8.15)

Metaphern, Neologismen und Chiffren


Die Metapher wird traditionell als wichtigste der rhetorischen Figuren betrachtet. Nach älterer Auffassung handelt es sich um einen abgekürzten Vergleich bzw. eine Ersetzung des 'eigentlichen' durch einen 'uneigentlichen' Ausdruck nach dem Kriterium der Entsprechung bzw. der Ähnlichkeit. So ist seit Homer die Metapher vom Löwen für einen kämpfenden Helden üblich.
s. schreibwerkstatt/litkreis13.html

Neologismen bei August Stramm (Expressionist, 1874-1915)
Bekannte Stammwörter werden in neue Wortformen überführt. Typisch sind auch ungewohnte Pluralformen, Änderungen des Genus und der Rektion
"Absolut" heißen Metaphern, die uns keine über-individuellen Verstehensansätze mehr bieten, sie sind CHIFFREN, Bilder ohne Eigentlichkeitsgrund (im Sinne von "eigentlich meint das Bild dies oder das ..."). Sie erwecken vielfältige Assoziationen, eine bestimmte Aussage kann nicht festgehalten werden. Chiffren sind Verschlüsselungen von Sinn, die einen Gegen-Sinn oder Eigen-Sinn vermuten lassen. Der „Hermetismus“ (<ital. Ermetismo= dunkler Stil) knüpft an den französischen Symbolismus des 19. Jahrhunderts an und stellt Klangeffekte sowie die dunkle Gefühlssymbolik der Texte über die Sinngebung.

Untreu (August Stramm, 1915)

Dein Lächeln weint in meiner Brust
Die glutverbissnen Lippen eisen
Im Atem wittert Laubgewelk!
Dein Blick versargt
Und
Hastet polternd Worte drauf.
Vergessen
Bröckeln nach die Hände!
Frei
Buhlt dein Kleidsaum
Schlenkrig
Drüber rüber!

Neologismen und Chiffren bei Paul Celan (1920-1970)

SCHWARZ,

wie die Erinnerungswunde,
wühlen die Augen nach dir

in dem von Herzzähnen hell-
gebissenen Kronland,
das unser Bett bleibt:

durch diesen Schacht mußt du kommen –
du kommst.

Im Samen-
sinn
sternt dich das Meer aus, zuinnerst, für immer.

Das Namengeben hat ein Ende,
über dich werf ich mein Schicksal.

Paul Celan: Schwarz. In: Atemwende. Previous post - walter-benjamin-bluemchen - Tumblr

FADENSONNEN (Paul Celan)

Fadensonnen
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

Psalm (Paul Celan, aus: Die Niemandsrose, Gedichte, 1963, 1998)
…..
Ein Nichts

waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn

 

Neologismen in Übersetzungen

Stefano D’Arrigo / Moshe Kahn (übers.): Horcynus Orca

Mit dem ersten Satz sind Ort und Zeit der folgenden rund 1450 Seiten des Romans angelegt: „Die Sonne ging auf seiner Reise viermal unter, und am Ende des vierten Tags, welcher der vierte Oktober 1943 war, erreichte der Matrose ’Ndrja Cambrìa, einfacher Oberbootsmann der ehemaligen Königlichen Marine, den Landstrich der Feminoten an den Meeren zwischen Skylla und Charybdis.“
Etwa 2000 Neologismen enthält die Übersetzung. Ein Neologismus, sagt der Übersetzer, müsse als neue Wortschöpfung erkennbar und unmittelbar verständlich sein - wie schlapphäbig zum Beispiel.

Finnegans Wake,

das letzte Werk des irischen Autors James Joyce. Der Roman entstand in den Jahren 1923 bis 1939
Joyce prägt eine eigene Sprache, indem er englische Wörter neu zusammenfügt, umbaut, trennt, oder auch mit Wörtern aus dutzenden anderen Sprachen mischt, z.B. in
überlangen Kofferwörtern „Ten Thunders“ („Zehndonner“, nach dem in Finnegans Wake vorkommenden Wort „bababadalgharaghtakamminarronnkonnbronntonnerronntuonnthuuntrovarrhounawnskawntoohoohoordenenthurnuk“, das aus den Wörtern für Donner in zehn verschiedenen Sprachen zusammengesetzt ist, von Madagassisch bis Gotisch.

s.a. Schreibwerkstatt 2013

 

Literaturkreis 15 „Eliteraten“ (26.8.15)

Minimalistische Kunst bzw. arte povera

1.
Morgen / Mattina (G.Ungaretti 1888-1970, Übersetzung: Ingeborg Bachmann)

Ich erleuchte mich / M`illumino
durch Unermessliches / D`immenso


2. Elfchen (11 Wörter in 5 Zeilen), 2. Japanisches Haiku (5-7-5 Silben in 3 Zeilen)
3. Wortspiel, eine rhetorische Figur, die hauptsächlich auf der Mehrdeutigkeit, Verdrehung, Umdrehung (dem Sinne nach) oder sonstigen Wortveränderungen beruht.

4. Die Verse der Volksliedstrophe sind meist alternierend, es besteht aber Füllungsfreiheit, d. h. einer Hebung können auch zwei Senkungen folgen. Der Zeilenanfang kann sowohl auftaktig (jambisch) als auch auftaktlos (trochäisch), das Ende betont (männlich) oder unbetont (weiblich) sein. Mit drei oder vier Hebungen ist der Volksliedvers relativ kurz. Eine Volksliedstrophe besteht meist aus vier, manchmal auch aus sechs Versen, die immer gereimt sind (Kreuz- oder Paarreim).

Frank Wedekind: Altes Lied

Es war einmal ein Bäcker,
Der prunkte mit einem Wanst,
Wie du ihn kühner und kecker
Dir schwerlich träumen kannst.

Er hatte zum Weibe genommen
Ein würdiges Gegenstück;
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Sie waren viel zu dick.

Ingeborg Bachmann: „Früher Mittag"
…......
Sieben Jahre später
fällt es dir wieder ein,
am Brunnen vor dem Tore,  
blick nicht zu tief hinein, die Augen gehen dir über.

Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
die goldenen Becher aus.
Die Augen täten dir sinken.

5. TÜRKISCHE POESIE

Das Gedicht ist auf der Straße / Lyrik-Festival "Soundout" in Berlin - Kultur - Süddeutsc

"La poésie est dans la rue!" ("Die Poesie ist auf der Straße") - ins Türkische übertragen ("şiir sokaktadır", "şiir sokaklardadır", "şiir sokakta!").

Arslans Slogan "Defteri kapat, şiir sokakta!" "Schließ das Heft, das Gedicht ist auf der Straße!"
s. ein anonym geleiteter Twitteraccount "şiir sokakta!" und den Hashtag #şiirsokakta



Literaturkreis 16 „Die Eliteraten“ (14.10.15)

Lyrik als akustische Kunst: Versmaß, Rhythmus, Klangfiguren, Wiederholung, Variation

1. Gottfried von Straßburg, Prolog (244 Verse) zum Versroman „Tristan“ mit 20 000 Versen (1210)

Gedaehte mans ze guote niht,
von dem der werlde guot geschiht,
sô waere ez allez alse niht,
swaz guotes in der werlde geschiht.(
V. 1-4)

Gedächte man nicht derer im Guten,
von denen der Welt Gutes geschieht,
dann wäre es alles wie nichts,
was Gutes in der Welt geschieht.

Der Prolog des `Tristan` von Gottfried von Straßburg

 

2. Wallace Stevens (1879 – 1955, USA) gilt als einer der großen Dichter der Vereinigten Staaten und hat viele spätere Dichter beeinflusst.

Stevens’ eindrückliche, oft an die Grenzen der Verständlichkeit rührende Bildlichkeit und seine hochartifizielle Sprache gestatten ihm, zeitgenössische philosophische Probleme in prägnante Metaphern zu verwandeln und sie, immer auf der Ebene des Bildes, experimentellen Lösungen zuzuführen. Ein Großteil seiner Gedichte lebt von der Gegenüberstellung der Entfremdung, Einsamkeit des modernen Menschen und der unmittelbaren ästhetischen Erfahrung, aus denen Kunst und Naturbetrachtung hervorgehen können.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Kollision von Imagination und Realität, des Bewusstseins und der wirklichen Welt.
Wallace Stevens: Der Mann mit der blauen Gitarre http://www.planetlyrik.de/wallace-stevens-der-mann-mit-der-blauen-gitarre/2013/01/ WALLACE STEVENS - Original and translation




WALLACE STEVENS The Man with the Blue Guitar, 33 Teile mit je 3-8 Doppelversen
(
On Pablo Picasso, The Old Guitarist, 1903)

I

The man bent over his guitar,
A shearsman of sorts. The day was green

They said, "You have a blue guitar,
You do not play things as they are."

The man replied, "Things as they are
Are changed upon the blue guitar."

And they said then, "But play you must,
A tune beyond us, yet ourselves,

A tune upon the blue guitar
Of things exactly as they are."

II


I cannot bring a world quite round,
Although I patch it as I can.

I sing a hero’s head, large eye
And bearded bronze, but not a man,

Although I patch him as I can
And reach through him almost to man.

If to serenade almost to man
Is to miss, by that, things as they are,

Say that it is the serenade< br>
Of a man that plays a blue guitar.

IV


So that's life, then: things as they are?
It picks its way on the blue guitar.

A million people on one string?
And all their manner in the thing,

And all their manner, right and wrong,
And all their manner, weak and strong?

The feelings crazily, craftily call,
Like a buzzing of flies in autumn air,

And that's life, then: things as they are,
This buzzing of the blue guitar.

I

Der Mann über seine Gitarre gebeugt
So etwa wie ein Schneider. Der Tag war grün.

Sie sagten: „Du hast eine blaue Gitarre,
Du spielst die Dinge nicht, wie sie sind.“

Der Mann erwiderte: Die Dinge, wie sie sind,
Werden auf der blauen Gitarre verwandelt.“

Da sagten sie: „Aber spiele - du mußt -
Eine Weise, die uns übertrifft und uns doch entspricht,

Eine Weise auf der blauen Gitarre
Von Dingen, genau wie sie sind.“

II

Ich kann keine ganz runde Welt zustande bringen,
Auch wenn ich sie zusammenstopple so gut ich kann.

Ich besinge eines Helden Kopf, großes Auge
Und bärtige Bronze, aber keinen Menschen,

Auch wenn ich ihn zusammenstopple, so gut ich kann
Und dadurch fast einen Menschen schaffe.

Wenn spielen - fast zum Menschen hin -
bedeutet, die Dinge, wie sie sind, zu verfehlen,

Dann sagt, es ist die Serenade
eines Menschen, der eine blaue Gitarre spielt.

IV

Das ist das Leben also: Dinge, wie sie sind?
Es sucht sich seinen Weg auf der blauen Gitarre.

Eine Million Menschen auf einer Saite?
Und ihre ganze Art und Weise in dem Ding.

Und ihrer ganze Art und Weise, richtig und falsch,
Und ihrer ganze Art und Weise, schwach und stark?

Die Gefühle rufen verrückt, verschlagen,
Wie ein Summen von Fliegen in herbstlicher Luft,

Und das ist das Leben also: Dinge, wie sie sind,
Dieses Summen der blauen Gitarre.

Interlinearübersetzung von Karin Graf

Beachte die klanglichen Elemente, den Rhythmus, die Wiederholung eines Wortes innerhalb einer Strophe oder eines ganzen Gedichts, wobei der jeweils andere Kontext dieses Wort ‚umfärbt’.

s. schreibwerkstatt/2012-I: Text „Der Leser“ ( Wallace Stevens, 1879-1955)



Literaturkreis 17 „Die Eliteraten“ (21.10.15)

Lyrik als akustische Kunst: Versmaß, Rhythmus, Klangfiguren, Wiederholung, Variation


3. Paul Celan (929-1070, (aus: Mohn und Gedächtnis, 1952) (Internet: Sind die Gedichte Paul Celans entschlüsselbar? | Yah)


Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:

es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.

 

4. Jan Wagner (1971-) · Lyrikline.org


herbstvillanelle

den tagen geht das licht aus
und eine stunde dauert zehn minuten.
die bäume spielten ihre letzten farben.
am himmel wechselt man die bühnenbilder
zu rasch für das kleine drama in jedem von uns:
den tagen geht das licht aus.
dein grauer mantel trennt dich von der luft,
ein passepartout für einen satz wie diesen:
die bäume spielten ihre letzten farben.

eisblaue fenster - auf den wetterkarten
der fernsehgeräte die daumenabdrücke der tiefs.
den tagen geht das licht aus,
dem leeren park, dem teich: die enten werden
an unsichtbaren fäden aufgerollt.
die bäume spielten ihre letzten farben.
und einer, der sich mit drei sonnenblumen
ins dunkel tastet, drei schwarzen punkten auf gelb:
den tagen geht das licht aus.

die bäume spielten ihre letzten farben.

Eigentlich eine Terzanelle (Villanelle +Terzine): 5 Terzette + 1 Quartett, fünfhebige Jamben, Wiederholung des 1.u.3. Verses, urspr. nur 2 Reime.



2015, I

Literaturwerkstatt 1  (28.1.2015)

Einen Essay schreiben zum Thema „fließen“

Der (oder das) Essay  (literarischer Versuch) unterscheidet sich von and­ren literaris­hen Zweckformen wie Bericht und Traktat durch die betonte Subjektivität der Auffassung und v. a. durch die lockere Art der Behandlung des Themas.

Die essayistische Methode ist eine experimentelle Art, sich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das Wichtigste ist jedoch nicht der Gegenstand der Überlegungen, sondern das Entwickeln der Gedanken vor den Augen des Lesers. Zuweilen ist es auch schlicht eine stilisierte, ästhetisierte Plauderei.

Beispiel: Michel de Montaigne, Essais, 1580, „Wie mein Geist mäandert, so auch mein Stil“

 „Wie verschiedenartig bewerten wir doch die Dinge! Wie oft ändern wir unsere Vorstellun-gen! Was ich heute meine und glaube, meine und glaube ich aus innerster Überzeugung: All meine Kräfte stehn mir mit allem, was sie vermögen, dafür ein. Keine Wahrheit könnte ich mit größerer Inbrunst mir zu eigen machen und bewahren als diese. Ich bin ganz von ihr eingenommen, ich bin es wirklich. Und dennoch: Ist es mir nicht widerfahren – und das keineswegs nur einmal, sondern hundertmal, tausendmal und alle Tage -, dass ich mir hernach mit denselben Kräften und derselben Inbrunst irgendeine andere Wahrheit zu eigen machte, die ich inzwischen auch wieder als falsch verworfen habe?“

Es gibt überhaupt kein Dasein, das beständig wäre –weder das unsre ist es, noch das der Dinge. Samt Verstand rollen und fließen wir wie alle sterblichen Wesen ohne Unterlass dahin. So lässt sich nichts Sicheres von einem aufs andere schließen, befinden sich Urteilende wie Beurteiltes doch in fortwährendem Wechsel und Wandel."

DADA – Wortkunst - Klangtexte -

Aufgabe: Wörter und Buchstaben aus dem Wortfeld „fließen“ musikalisch umarbeiten zu einem Klangtext, der Fließvorgänge darstellt oder imitiert.

Kurt Schwitters (1887-1948) URSONATE costis.org  


„Sonata - Klingstück“: 1.


Fümms bö wö tää zää Uu,

                                         pögiff, 
                                                     kwii Ee.

  1

Oooooooooooooooooooooooo,

6

dll rrrrr beeeee bö
dll rrrrr beeeee bö fümms bö,
     rrrrr beeeee bö fümms bö wö,
             beeeee bö fümms bö wö tää,
                        bö fümms bö wö tää zää,
                             fümms bö wö tää zää Uu:

Beispiele im Internet:

5

- Ursonate im Video:  tonal und visuell, Primiti Too Taa - YouTube (Ed Ackermann/Colin Morton)
- sound poetry (http://epc.buffalo.edu/sound/soundpoetry.html) Hugo Ball u.a.
- Martina Pfeiler Poetry goes Intermedia: US -Lyriks.
- s.a. Lautgedichte von Hugo Ball  VHS-Bocholt März 2012

Im Fluss der Gedanken (g.n.)

Wie überraschend, ja unverständlich ist doch das Handeln der Menschen! Da sagt jemand, er mache es so und nicht anders, weil er es für richtig hält. Er hat es vor Zeugen beteuert, so soll es sein, so soll es werden. Wir alle erwarten, er oder sie werden entsprechend den Worten handeln. Schön wäre es, aber es läuft anders. Glaubte der Mensch tatsächlich, er würde wie gesagt handeln? Was er heute sagt, würde auch morgen gelten? Nein, er hat nicht bedacht, dass er die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann, ja, dass sich die Situation ändern kann. Das Gesagte hat plötzlich dann keine Geltung mehr. Wie überraschend! Diese Wandlung können wir nicht verstehen - meinen wir. Da stehen die gesagten Worte gegen das, was wir tun. Ein Widerspruch? Ein Vertrauensbruch?

Ich kann mit Menschen, die mal das sagen und dann mal das sagen, die etwas sagen und etwas anderes tun, nicht umgehen, weil ich sie nicht einschätzen kann. Meinen sie wirklich, was sie sagen? Werden sie ihre Meinung ändern? Wann werden sie ihre Meinung ändern? Ich weiß es nicht.

Kann es auch sein, dass ich meine Meinung ändere? Das kommt vor. Aber wie können wir dann miteinander auskommen, wenn wir unseren Worten und unseren Handlungen nicht vertrauen können? Wir schauen uns an, wir hören uns zu und wissen nicht, wie es gemeint ist. So oder etwa so?
 
Die Welt versinkt in Chaos. Wir stehen erschüttert in einem Strudel und sind ratlos. Worauf kann ich mich sicher verlassen?

Da bin ich mit meinen Gedanken in eine Sackgasse geraten. Ich fließe dahin, du fließest dahin, unsere Welt fließt dahin.Nur eins ist sicher, ich weiß nicht sicher, was ist und was kommt. Aber ich weiß, dass ich lebe mit den Dingen im Fluss der Dinge und dass ich das als meine Gedanken in Worte gefasst und hier niedergeschrieben habe.

Meine Worte, das sind meine Inseln im Fluss des Lebens.

Essayistisch (K.P.)

Es fließt mir nicht gerade aus der Feder bei diesem Essay zum Thema „Fließen“! Genau genommen stelle ich augenblicklich  bei mir fest,

dass es in meinem Kopf hakt, so als wären meine Gedanken nicht gerade mitgerissen. - Ich stelle fest - Aha! Da haben wir es!

 Wie bitte schön soll denn etwas in Gang kommen, wenn ich fest stelle? So kommen wir der Sache auf jeden Fall schon näher,

denn Fließen hat zu tun mit Bewegung, mit Veränderung. Und da mich das Schreiben hier nicht sehr bewegt, endet der Text.



Klang-Assoziationen zum Thema "fließen" (K.P.)

N,

N.

           N,

           N!

                    N,

                    N,

                    N,

                    Ne.

                               N,

                               N,

                               N,

                               Ne!

N,

N,

N,

Ne,

Neß!

              Neße,

              Neße,

              Neße,

              Neße!

                             Neßei,

                                Neßeil,

                                  Neßeilf...

                                                      …ffffffffffffffffff

                                                                                 f

                                                                                   l

                                                                                    o

                                                                                       w   o  l   f      

 

 

Literaturwerkstatt 2  (4.2.2015)

Die Sinnlichkeit von Sprache (Klangtexte)

Beispiele:
Ernst Jandl (kleine jandl-ei.htm) - Koeppel: „Starckdeutsch“ Texte in einer Kunstsprache - Dieter Schnebel: Laut-Gesten-Laute, Körper-Klänge

M.Kloeppel, Starckdeutsch

Der Berliner Maler Matthias Koeppel (*1937) persifliert politische und gesellschaftliche Be -und Gegebenheiten mit deutlich kritisch-ironischem Unterton. Er ist Mitbegründer der Künstlergruppe »Schule der Neuen Prächtigkeit«.

Zum Verstehen musst Du die Texte laut lesen.

Arr, di Arr; di Arrckitucktn -
jarr, di sünd tautul pfarrucktn.
Pauhn onz euburoll Quaduren,
vo se gurrnücht henngehuren.
Vn demm Hurz büsz ze denn Ullpn
snd di Häusur steitz di sullpn.
Duch di Arrckitucktn tschumpfn:
Onzre Pauhörrn snd di Tumpfn!
Olle zullte mon kastruren,
düßße auff ze pauhin huren;
odur stott ünn rachtn Winkuln
se dönn pauhin, wi se pinkuln.

Hullondüsche Tumautn
Harrlüch! – dönckst tu, gauffßt die rauten
Glantzind pfröschn Totumauten.
Duch peim Ößßn marckstde dunn,
dißß monn gurnüxx tschmarckn kunn;
Sünd’z nonn Gorcken, sünd'z Tumautn, –
Üst öss garr oin Heunarbrautn,
pfrösch oss Hullondt ümmporturt?
Hart monn düch woll arnngeschmuurt?

Ormer Manne

Wann däm Woibe gäht ez schlächt,
Iss zem Monn se ungerächt:
Sull är staupesauken, Buzzen,
Tarf koin Birre mär varbuzzen.
Unt zu alläm Üpervluzs
Stroicht se im dän Wohlkenuzs -
Büld däs Jammärs is ze sähen:
Muzs är binkeln gor im Stähen!

kleine jandl-ei.htm

Ernst Jandl – schtzngrmm ( ernst jandl schtzngrmm.mpg - YouTube)

schtzngrmm
schtzngrmm
t-t-t-t
t-t-t-t
grrrmmmmm
t-t-t-t
s——c——h
tzngrmm
tzngrmm
tzngrmm
grrrmmmmm
schtzn
schtzn
t-t-t-t
t-t-t-t
schtzngrmm
schtzngrmm
tssssssssssssssssssss
grrt
grrrrrt
grrrrrrrrrt
scht
scht
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
tzngrmm
tzngrmm
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
scht
scht
scht
scht
grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
t-tt


privater marsch

schmackel
schmackel
bunz
bunz
schmackel
schmackel
bunz
schmackel
schmackel
bunz
bunz
schmackel
schmackel
bunz
schmackel
bunz
bunz
bunz
schmackel
bunz
bunz
bunz
schmackel
bunz
bunz
bunz
schmackel
bunz
schmackel
bunz
schmackel
bunz
bunz
schmackel
bunz
bunz
bunz



leise unruhe

an ruhigen tagen
sitzen und fragen:
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
geht es immer so weiter?
ach ginge es doch immer so weiter

wanderung

vom vom zum zum

vom zum zum vom

von vom zu vom

vom vom zum zum

von zum zu zum

von zum zu zum

vom zum zum vom
vom vom zum zum


und zurück


Spruchtexte („Dummheit siegt – gegen die Dummheit kein Kraut gewachsen ist“ und „Arbeit macht das Leben süß/Arbeit macht Arbeit/Macht macht das Leben süß…süß leben macht das Leben süß – süß leben, macht das Arbeit.“)

Dieter Schnebel (* 14. März 1930 in Lahr/Schwarzwald) ist ein deutscher Komponist und Musikwissenschaftler.

Werke: Laut-Gesten-Laute, Körper-Klänge und Die Maulwerker, im Jahr 1985 uraufgeführt.
Maulwerke (1968-74) – der Mund arbeitet, wird tätig nicht nur in der Nahrungsaufnahme (und Liebesgabe und –nahme), sondern auch im Lautieren, wo Klänge geäußert werden, welche von einfachem Ausdruck bis zu Sprache und Musik reichen.

Dieter Schnebels Musik-Sprach-Konzept ("Zungenreden", 1956-60, Glossolalie 61, 1960-65) zählt zu den Klassikern der Sprachkomposition (erste Studioaufnahme durch Mauricio Kagel: WDR Köln 1962. Durch die Montage erforscht Dieter Schnebel hier die musikalischen Potentiale von Sprachverwirrung und  -überlagerung mit dezidierten (selbst-) ironischen Untertönen. Experimentelle Musik in der Hauptschule.s. „Gesums“

 

 

Literaturwerkstatt 3  (18.2.2015)

Journalistische bzw. literarische Kleinformen und Stilmittel

Glosse, Essay, Kolumne, Feuilleton (franz. „Blättchen“, Kulturteil einer Zeitung) sind kurze journalistische Kleinformen, die sich von Kommentar und Leitartikel durch den polemischen, satirischen oder feuilletonistischen Charakter unterscheiden.

Die Causerie (lat. causa „(Ur)Sache“; frz. causer „plaudern“) ist eine unterhaltsame, gebildete Plauderei in literarischer oder geselliger Gestalt, zwanglos einer Sache auf den Grund gehend.

Stilmittel:

Ironie: Behauptung, die nicht der wahren Einstellung oder Überzeugung des Sprechers oder Schreibers entspricht. - A hat einen Stapel Geschirr fallen lassen. Daraufhin sagt B: „Prima machst du das!“ übliche Warnung für Publizisten: Ironie versteht der Leser nie. Deshalb Ironie-Reservate in Zeitungen (Glosse).
Ironiezeichen z.B. im Internet
- Emoticons als Ersatz für begleitende Mimik (z. B. ;-)
- Inflektive (unflektierter Infinitiv ohne Endung, auch Comic/Erikativ genannt -  seufz, gähn, quiiietsch, bremssss!) als Gestik-Ersatz (z. B. *grins*, *zwinker*) - *sichwegduck*, *lieb-anlächel* - InDenSeeSpring - in_den_See_spring
- Pseudo-HTML- oder BB-Codes<ironie>Ja, natürlich!</ironie>
-
Versalschrift: zur Hervorhebung als Alternative zur Satzbetonung (z. B. NEIN, wie kommst du denn DARAUF?)
- doppelter Zirkumflex ^^ (der das japanische horizontale Emoticon für lächeln/grinsen ist)
s. Liste von Abkürzungen (Netzjargon) 

Hyperbel:  Übertreibung, über das Glaubwürdige hinaus
- Warum schaust du also auf den Splitter im Auge deines Bruders, beachtest aber nicht den Balken in deinem eigenen Auge? - todmüde, - ein Meer von Tränen

Klimax („Treppe“ oder „Leiter“): stufenartige, meist dreigliedrige Steigerung von Ausdrücken
- Das war so, das ist so und das wird immer so sein. (Aus dem Refrains der russischen
Nationalhymne
), - Ich kam, sah und siegte. (Cäsar: Veni, vidi, vici)
Antithese („Gegenbehauptung“) - Heute sind wir noch am Leben. Morgen werden wir sterben. - Das Haus ist nicht rot, denn es ist blau.
Metapher: bildliches Sprechen, ein Vergleich ohne „wie“
- Kamel - Wüstenschiff
- Das Feuer der Liebe – klischeehafte M.
- Die Kuh vom Eis kriegen – Sprichwort

Parallelismus („Nebeneinanderstellung“): aufeinander folgende gleiche Satzarten haben dieselbe Abfolge ihrer Satzglieder (Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbial etc.)
 -Sie hören weit, sie sehen fern. E.Kästner

Epiphora: Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Ende aufeinander folgender Verse oder Sätze.
-Mir geht es gut. Meinem Vater geht es gut. Dem Rest meiner Familie geht es gut. Allen geht es gut.

Anapher: Wiederholung am Anfang von Versen und Sätzen
- Wie ermüdend, geliebt zu werden, wahrhaft geliebt zu werden! Wie ermüdend, das Objekt emotionaler Belastungen eines anderen zu sein! F. Pessoa.



Literaturwerkstatt 4  (25.2.2015)

Präsentionsformen für die Lesung am 24.4.2015

Porno und Kunst
(Materialien: Reliefs des Bildhauers Lenk, Fifty Shades of Grey, Der Gemüsehändler..., „Lust“ von Elfriede Jelinek, Vulgärerotik bei Günter Grass)

I. Gibt es Grenzen zwischen Kunst und Porno?

- Das Relief des Bildhauers Lenk mit dem Titel «Ludwigs Erben» bildet unter anderem deutsche Spitzenpolitiker und Top-Manager zum Teil unbekleidet und in anzüglichen Posen ab….Lenk betonte, er wolle mit seinem Werk die seiner Ansicht nach ans Obszöne grenzenden Verstrickungen zwischen Macht und Geld widerspiegeln. Es gehe ihm «um den alten und den neuen Feudalismus. Und es geht darum, dass die Demokratie schwächelt», sagte der Künstler. Daher habe er diese Zustände bildlich als «Politiker-Gruppensex» dargestellt. "Wenn es um ihre Privilegien geht und darum, dem Bürger das Geld aus der Tasche zu ziehen, dann halten sie sich alle die 'Stange'. Politik ist viel pornografischer als jede Kunst." Er brauche sich für sein Werk «nicht zu rechtfertigen». Schließlich sehe man die Politiker in der Wirklichkeit «selten so glücklich» zusammen, "ganz nach dem Motto 'Koalieren und Kopulieren'.

Der Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann (alles Peanuts) sitzt nackt, die Finger zum legendären Piece-Zeichen erhoben mit dem schwörenden Dieter Zetsche von Daimler sowie Volks- wagen-Tycoon Ferdinand Piech und Medienmogul Leo Kirch und EX- Vorstandschef von EnBW Utz Claasen gleich Dagobert Duck (Micky Maus) im Geldbad, während es über ihnen die Freudenmädchen mit Schild „Hartz VI” treiben.

Die nackten Politiker (EX- Finanzminister Hans Eichel, Ex-Bundeskanzler Gerd Schröder, Bundeskanzlerin Angela Merkel, der bayerische EX- Ministerpräsident Edmund Stoiber und FDP-Chef Guido Westerwelle sind Teil des Lenk-Triptychons mit Thema „Ludwigs-Erben”, das seit September 2008 in Größe 11 mal 3,50 Meter am örtlichen Rathaus von Ludwigshafen/Bodensee hängt.

s. Was ist schön? Philosophie IV: Ästhetik und Auszüge aus meinen Berichten über Indien Die erotischen Tempel von Khajuraho und Tantrische Rituale

- Gogbot - Festival #EROTEC, Enschede 2013 GOGBOT 2013 - #EROTEC - YouTube

II. Gibt es literarische Qualitätskriterien bei Pornotexten?

Seit siebzehn Jahren vergibt die angesehene Zeitschrift «Literary Review» den Bad Sex Award an Autoren «achtbarer zeitgenössischer Romane»,. Die ungeliebte Auszeichnung für die schlechteste literarische Sexszene ging dieses Jahr an Jonathan Littell. Der Träger des Prix Goncourt stach dabei andere nominierte Grössen wie Philip Roth, John Banville, Paul Theroux und den schreibenden Rockstar Nick Cave aus.

Litell, ein französisch-amerikanischer Doppelbürger, sorgte mit seinem Roman «Die Wohlgesinnten» im Jahr 2006 für eine literarische Sensation. Der Roman beschreibt den Holocaust aus der Sicht eines Täters und wurde über 1 Millionen Mal verkauft. Dies anerkannte auch die Bad Sex-Jury, welche den Roman teilweise als «Werk eines Genies» bezeichnete.

Doch eine mythologisch inspirierte Szene erregte das besondere Missfallen der Jury. Darin wird die weibliche Vulva mit dem Haupt der Gorgonen gleichgesetzt, «ein unbeweglicher Zyklop, dessen einziges Auge niemals blinzelt». Litell fährt fort: «Wenn ich nur hart werden könnte, dachte ich, dann könnte ich meinen Schwengel wie einen im Feuer gehärteten Stock dazu benutzen, diesen Polyphem zu blenden, der mich zum Niemand gemacht hat. Mein Schwanz blieb jedoch unbeweglich, als wäre er zu Stein erstarrt.»

Materialien: ein schlichter Softtext, ein metaphorisch aufgeladener Text, ein parodierender Text und vulgärerotische Texte

1. Aus "Fifty Shades of Grey" Geheimes Verlangen (E. L. James). Die junge Studentin Anastasia Steele lässt sich auf eine Sadomaso-Affäre mit einem Milliardär ein. In Teil 2, Shades of Grey, Gefährliche Liebe verlobt sich das ungleiche Paar. – Teil 3 startet mit der Hochzeit.

Fifty Shades of Grey: Die besten Passagen • WOMAN.AT

Er bläst sanft auf mein Geschlecht. O Gott ... „Wie schön.“
Er zieht zärtlich an meinem Schamhaar.
„Vielleicht sollte das doch bleiben.“ „Bitte“, flehe ich.
„Es gefällt mir, wenn du mich anbettelst, Anastasia.“ Ich stöhne auf.
„Wie du mir, so ich dir, ist normalerweise nicht mein Stil, Miss Steele“, flüstert er, während er weiter auf meine Scham bläst. „Aber Sie haben mir gerade großes Vergnügen bereitet, und dafür sollen Sie belohnt werden.“ Ich höre sein anzügliches Grinsen in seiner Stimme, und während ich bei seinen Worten erschaudere, umkreist seine Zunge langsam meine Klitoris. Meine Oberschenkel hält er mit den Händen fest.
„Ah!“, seufze ich, als mein Körper sich unter seiner Zunge aufbäumt.

2. Aus "Der Gemüsehändler und das Mädchen im roten Mantel", Kap.24 (B.Oehmen)

...Seine Hände fühlten sich verwaist an ohne den Kontakt zu ihrem Fleisch, doch ein Aufflammen zwischen seinen Beinen ließ ihn alles vergessen, was sich nicht zwischen seinen Beinen befand. In einem Rausch aus blattgoldenen Wipfeln und verwischtem Stöhnen sah er auf Emmas Kopf herab, sah, wie sich sein aufgerichtetes Schwert in ihrem Mund bewegte, sah ihre rosafarbene Zunge, ein wildes, unerschrockenes Tierchen, das die hochempfindliche Spitze erklomm und umspielte, einsog und wieder herausfließen ließ, sah ihre gesenkten Lider, das Spiel der Schatten auf Haaren und Schultern, Reflexe gesprungenen Glases voller Wein aus Trauben der Sphären weit jenseits dessen, was ermessen werden kann.

...Und kein furchterregender Engel stellte sich ihm entgegen, im Gegenteil, die Welle trug ihn, er stieß, von seinem übermenschlichen Drang getrieben, in sie hinein, die vor Lust wimmerte und trug sie mitsamt ihrer Scherbenflut durch das Dröhnen hindurch in die Sicherheit einer Explosion.


3. Aus "Lust" (Elfriede Jelinek)

Pornographie als Gefängnis Elfriede Jelineks Lust im ...

...Er spaltet ihren Schädel über seinem Schwanz, verschwindet in ihr und zwickt sie als Hilfslieferung noch fest in den Hintern. Er drückt ihre Stirn nach hinten, dass ihr Genick ungeschickt knackt, und schlürft an ihren Schamlippen, alles zusammengenommen und gebündelt, damit still aus seinen Augen das Leben auf sie schauen kann. (L17) Parodierung der männlichen Gewalt

...Er beißt die Frau in die Brust, und dadurch schießen ihre Hände nach vorn. Das weckt ihn nur noch mehr auf, er schlägt sie auf den Hinterkopf und hält ihre Hände, seine alten Feindinnen, fester. Auch seine Knechte liebt er nicht. Er stopft sein Geschlecht in die Frau. Die Musik schreit, die Körper schreiten voran. Die Frau Direktor gerät etwas aus ihrer Fassung, deswegen hat die Birne ja auch solche Schwierigkeiten beim Glühen. (L21)

...Der Mann erschafft, vom Winde emporgeweht, die Frau, er zieht ihr den Scheitel und wirft ihr die Beine auseinander wie welke Knochen. Er sieht Gottes tektonische Verwerfungen an ihren Oberschenkeln, sie machen ihm nichts aus....Der Mann führt sie ins Bad....Er greift in ihrem Gebüsch herum, damit er endlich einsteigen kann und nicht auf die Nacht verwiesen werden muss. Ihr Laub, ihre Zweige biegt er auseinander. (L24)

Weitere Texte: Kostenlos Probelesen - Bücher Leseprobe www.buecher-leseprobe.de/romane.html

4. Vulgärerotik bei Günter Grass, "Blechtrommel" bis "Ein weites Feld" - FreiDok - Albert ... S. 207.

Das Register der Vulgärerotik zählt laut Th. Angenendt zu den besonders auffälligen Merkmalen des Prosastils von G. Grass. Es findet sich sogar in Kapitelüberschriften (beispielsweise „Der Arsch der dicken Gret“) wieder. In der Danziger Trilogie macht Grass vom Register der Vulgärerotik regen Gebrauch.

In der Blechtrommel werden die regelmäßigen sexuellen Zusammenkünfte von Jan Bronski und Oskars Mutter vom Erzähler äußerst direkt und ohne Filter im Sprachregister dargestellt: Mama und Onkel Jan trafen sich fast jeden Donnerstag in einem auf Jans Kosten gemieteten Zimmer der Pension in der Tischlergasse, um es eine Dreiviertelstunde lang miteinander zu treiben.

Der Butt, 6: Also legten wir uns, wie wir uns jederzeit umarmt umbeint haben. Mal ich, mal sie oben. Gleichberechtigt, auch wenn Ilsebill meint, das Vorrecht der Männer, einzudringen, werde kaum ausgeglichen durch das weibliche Kümmerrecht, Einlass zu verweigern.

Katz und Maus, 40: Kinder staunten im Kasperletheater: [...] sein Schwanz stand so sperrig, dass die Eichel aus dem Schatten des Kompaßhäuschens herauswuchs und Sonne bekam.

 

 

Literaturwerkstatt 5  (4.3.2015)

Sprechgesang und das Motiv "Fließende Tränen"

1. Rap kommt aus der afroamerikanischen Kultur: rap, „Plauderei, Unterhaltung“, ist ein schneller, rhythmischer und markanter Sprechgesang in der populären Musik.

Ein Rapbeat ist meistens so strukturiert, das sich folgendes Textschema ergibt:

1. Part - 16 Zeilen - Hook (Refrain) - 8 Zeilen,
2. Part - 16 Zeilen - Hook - 8 Zeilen,
3. Part - 8 oder 16 Zeilen

Zeile (auch "Line" oder "Bar“): Satz, welcher zwischen 2 Taktschläge steht.

Reime: Doppelreim (Feuermelder – Steuergelder), Dreifachreim, Vierfachreim etc.

Tag: Das letzte Wort einer Zeile wird 4-8mal wiederholt und ist dabei an das eigentliche Reimwort angehängt.

Vortrag: Doubletime: Der Rapper rappt mit doppelter Geschwindigkeit, auch Tripletime.

2. Motiv „Fließende Tränen“  (s. Internet: Abstract Tränen in der modernen Kunst – Edoc)

Die täglich gebildete Menge an Tränenflüssigkeit ist schwer abzuschätzen, da ein Teil der Tränen verdunstet und ein anderer Teil durch die Tränenwege abfließt. Die Angaben schwanken zwischen einem Gramm[1] und einem halben Liter[2] Tränenflüssigkeit täglich; Einigkeit besteht aber darin, dass die Produktion durch Reize wie Fremdkörper im Auge, Kälte sowie beim Weinen und beim herzhaften Lachen um ein Vielfaches ansteigt. Auch der reflexartige Vorgang des Gähnens ist häufig mit vermehrter Produktion von Tränenflüssigkeit verbunden.

Darwin: „Es möchte scheinen, als ob die Tränendrüsen in den Individuen etwas Übung erfordern, ehe sie leicht zur Tätigkeit erregt werden können“, so dass also Säuglinge erst ab etwa drei Wochen zum Weinen imstande sind.

Tränen“ in der Literatur:

Heinrich Heine: „Aus meinen Tränen sprießen viel blühende Blumen hervor, und meine Seufzer werden ein Nachtigallenchor.“

Wenn zwei voneinander scheiden
So geben sie sich die Händ
Und fangen an zu weinen
Und seufzen ohne End.

Wir seufzten nicht Weh und Ach!
Die Tränen und die Seufzer
Die kamen hintennach
. („Lyrisches Intermezzo“)

Im „Othello“ heißt es „Oh Teufel! Könnte die Erde sich von Weibertränen schwängern, aus jedem Tropfen wüchs’ ein Krokodil.“

Rainer Maria Rilke („Tränenkrüglein“, 1923):

Was mit den Tränen geschieht? Sie machten mich schwer,
machten mich blinder und machten mich schillern am Buge,
machten mich brüchig zuletzt
und machten mich leer.

J. W. v. Goethe: "Trost in Tränen"

Wie kommts, daß du so traurig bist,
Da alles froh erscheint?
Man sieht dirs an den Augen an,
Gewiß, du hast geweint?“

Und hab ich einsam auch geweint,
So ists mein eigen Schmerz,
Und Tränen fließen gar so süß,
Erleichtern mir das Herz…..

….Und mit Entzücken blick ich auf,
So manchen lieben Tag;
Verweinen laßt die Nächte mich,
Solang ich weinen mag.


Tränen“ in der Musik in der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs im Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“, in der Alt-ArieErbarme dich mein Gott, um meiner Zähren willen“, in Wolfgang Amadeus MozartsWenn der Freude Tränen fliessen“ aus „Die Entführung aus dem Serail“ oder auch in Georg Schumanns sechsstimmigem Chor „Tränenküglein“.

Schlager: „Tränen lügen nicht“ von Michael Holm und „Es geht eine Träne auf Reisen“ von Salvatore Adamo.

Sprichwort: „Ungeweinte Tränen lassen die Seele rosten.“ ... „Wer sich gegen fließendes Wasser stemmt, weil er Standpunkte hat, verursacht Wirbel.“ (J.Meisner)



Literaturwerkstatt 6

Übungen zur Präsentation der selbst geschriebenen Texte

Zusammenstellung und Layout eines Textheftes

Materialien

Beispiel "Satirische Kolumne": Wie Wasser wirklich wirkt, MARCUS ROHWETTERS (Die Zeit, 5.3.15) wöchentliche Einkaufshilfe



....Wenn Lebensmittel einen Beipackzettel tragen müssten (so wie Medikamente), könnte man viel mehr über ihre Wirkungen und Nebenwirkungenerfahren. Etwa bei Mineralwasser: Mineralwasser ist eine farb-, geruch- und oft geschmacklose Flüssigkeit. Sie wird zum Stillen von Durst eingesetzt, seltener zur Haarwäsche. Typische Darreichungsformen sind Glas- oder Plastikflaschen mit einem Inhalt von 0,25 bis 1,5 Litern. Mineralwasser wirkt

harntreibend und aufstoßend, sofern es mit Kohlensäure versetzt wurde. Sinnvoll ist der Konsum, sofern Ihr Leitungswasser Spuren von Blei enthält. Fragen Sie Ihren Vermieter.

Zu Risiken und Nebenwirkungen: Häufig (in mehr als 10 von 100 Fällen) enthalten die Flaschen ein echtes Vintageprodukt, das bis zu 120 Millionen Jahre alt sein kann, so wie Perrier, aber erst kurz vor dem Ablauf des aufgedruckten Mindesthaltbarkeitsdatums verkauft wird. Gelegentlich (in 1 von 100 Fällen) führt Mineralwasserkonsum zum schleichenden Verlust des gesunden Menschenverstandes. Anfangs überschätzt man seine Sinne und

glaubt, Mineralisierungen herausschmecken zu können. Später meint man, ohne Vulkansteinfilterung aus den französischen Alpen nicht überleben zu können. Im Endstadium kauft man bei Vollmond abgefülltes und über Edelsteinen verwirbeltes Mineralwasser, um sich einer schleichenden Vergiftung durch fremde Geheimdienste zu entziehen.

Immer (in 100 von 100 Fällen) belastet Mineralwasser das Haushaltsbudget stärker als Leitungswasser, wobei die Spanne vom 67-Fachen (Aldi-Hausmarke) bis zum 2833-Fachen (Fiji-Quelle) reicht. Mineralwasser ist keine Kassenleistung. Allerdings können leere Flaschen immer noch als Blumenvasen dienen.

Lyriknachrichten

Jan Wagner: Regentonnenvariationen

giersch

nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen – darum
die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch
wie ein tyrannentraum.

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm  rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weißes wider-

standsnest emporschießt. hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

Der Giersch ist ein krautiges Gewächs, von Gärtnern gefürchtet, weil in seinen unterirdischen Ausläufern kaum zu vernichten. Wagner bereitet der unerschöpflichen Lebenskraft dieser Pflanze einen lyrischen Triumph. Die Pointe: Es geschieht in einem Sonett, einer strikten Gedichtform. Doch deren Disziplin wird überspült durch das klangliche Schäumen: "als gischt, der ohne ein geräusch / geschieht, bis hoch zum giebel riecht, bis giersch / schier überall sprießt, im ganzen garten giersch". Der Reim, der zum Sonett gehört, ist hier durch lautliche Anähnelung ersetzt, für die die Bezeichnung Assonanz noch zu streng wäre: "giersch" auf "keusch", "schuld" auf feld", bis es in den identischen Reim, ein dreifaches Versende mit "giersch" ausläuft. Man kann nicht anders, als die Meisterschaft des 1971 geborenen Dichters zu bewundern.



Diskussionsthema "Kitsch"

DIE ZEIT Nº 43/2012:
Achtung, sehr süß!  Lange war Kitsch ein Schmähwort. Heute erobert kitschige Kunst von Hundertwasser, Jeff Koons oder Gerhard Richter die Museen.
s. Diskussionsseite

Literarische Beispiele (s. Deutscher Kitsch, Walter Killy)

Fernher rauscht das Meer in die holde Stille, der Wind regt sanft das starre Laub. Ein mattseidenes Gewand, elfenbeinweiß und golden bestickt, umfließt ihre Glieder und lässt einen zartgeschwungenen Nacken frei, auf dem die feuerfarbenen Flechten lasten…

Noch brannte kein Licht in Brunhilds einsamem Gemach, - die schlanken Palmen ragten wie dunkle phantastische Schatten aus ihren kostbaren chinesischen Kübeln empor, die weißen Marmorleiber der Antiken glänzten gespenstisch dazwischen und an den Wänden verschwanden die Bilder in ihren breiten mattschimmernden Goldrahmen.“

An meim Hauserl steht a Bankerl da sitz i gern und trink mein Wein /
 und mein Blick geht oft hinüber in den Nachbargarten nei, / denn die Aussicht ist so schön wenn sie auf der Leiter steht / und beim Kirschen pflücken mir den Kopf verdreht.“
  (Wildecker Herzbuben)

Kitsch steht (nach Wiki) zumeist abwertend gemeinsprachlich für einen aus Sicht des Betrachters minderwertigen, sehnsuchtartigen Gefühlsausdruck.

Kitsch wird als etwas Gefährliches eingestuft, weil die damit verbundenen Euphemismen, Verharmlosungen, Vorurteile, Klischees und Illusionen genau jene Doppelbödigkeit fördern, die für den Einzelnen wie für das Kollektiv letztlich zum unausweichlichen Dilemma führen und Konflikte jeder Art den Boden bereiten. „Kitsch hat immer etwas mit Verlogenheit zu tun.“


Die als kitschig bezeichneten Empfindungen nennt die Kritik: Konfliktlosigkeit, Kleinbürgerlichkeit, Massenkultur, Verlogenheit, Stereotypisierung, Zurückgebliebenheit, Wirklichkeitsflucht, falsche Geborgenheit oder etwa dümmlich Tröstende(s)


kitschen (Straßenschmutz oder Schlamm zusammenkehren, klatschen und klitschen) im Sinne von „zusammengeschmiertem Dreck“.

Eine Sonderform bildet der sogenannte Nippes (franz. für „weiblicher Putz“), auch Nippsachen genannt; darunter werden kleine dekorative Kunstgegenstände von oft minderer Qualität subsumiert, die beispielsweise „als Zimmerschmuck zum Aufstellen auf sogenannten Nipptischchen“ dienen. Beispiele für Nippes sind Putten- bzw. Engelsfigürchen aus Porzellan oder kleine Vasen ohne praktische Funktion

Am 10. und 17.3.2010 haben wir uns im VHS-Kurs Bocholt schon einmal mit dem Thema beschäftigt (Formale Kriterien zum Kitsch und Kriterien zur literarischen Wertung von Texten).



Literaturwerkstatt 7 (18.3.15)

kitschig oder/und künstlerisch



Porno, Kitsch oder Kunst???



Text-Beispiele: "Rap" und Beckett

Wollen wir engelmanisch rappen? https://www.youtube.com/watch?v=RmGHW4b2OVY  Vorsicht, seid kritisch. Die Rapperin Julia Engelmann spielt gekonnt ein sentimentales Klischee vor. Da ist Bettina doch viel besser und echter.

Julia Engelmann in ganz naiver Weise klagend und ratend über Liebe, Lebensmut und verpasste Gelegenheiten:

Eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können….Ich denke zu viel nach, ich warte zu viel ab, ich nehme mir zu viel vor und ich mache davon zu wenig. Unser Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft uns auf. Ich halte mich zu oft zurück, ich zweifele alles an, ich wäre gerne klug, allein das ist ziemlich dämlich… Mein Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft mich auf. Ich würd gern so vieles sagen, aber bleibe meistens still, weil, wenn ich das alles sagen würde, wär das viel zu viel. Ich würd gern so vieles sagen, aber bleibe meistens still, weil, wenn ich das alles sagen würde, wär das viel zu viel.

Samuel Beckett's "Not I"

Können wir in fast unfassbarer Beckett-Manier und in einer Fetzen-Sprache über menschliche Grundsituationen schreiben? Beckett hat in seinem Text „Nicht Ich“, den unsere liebe, wagemutige Eliteratin Marie Luise mit ihrer Theatergruppe zur Aufführung bringen will, die Präsentation seines Textes auf eine Frauenstimme und einen großen sichtbaren Mund reduziert. Ein Maulwerkstück! Die Zunge, die Zähne und die Lippen bringen Worte hervor. Der menschliche Körper bleibt unsichtbar. Das ist eine exklusive, eliterarische Form des Theaters.

Video zu „Not I“
mit Lisa Dwan Samuel Beckett's Not I: Lisa Dwan mouths off – video - The ...

Becketts “Fließtext”:

MOUTH: . . . . out . . . into this world . . . this world . . . tiny little thing . . . before its time . . . in a godfor– . . . what? . . girl? . . yes . . . tiny little girl . . . into this . . . out into this . . . before her time . . . godforsaken hole called . . . called . . . no matter . . . parents unknown . . . unheard of . . . he having vanished . . . thin air . . . no sooner buttoned up his breeches . . . she similarly . . . eight months later . . . almost to the tick . . . so no love . . . spared that . . . no love such as normally vented on the . . . speechless infant . . . in the home . . . no . . . nor indeed for that matter any of any kind . . . no love of any kind . . . at any subsequent stage . . . so typical affair . . . nothing of any note till coming up to sixty when– . . . what? . . seventy?. . good God! . . coming up to seventy . . . wandering in a field . . . looking aimlessly for cowslips . . . to make a ball . . . a few steps then stop . . . stare into space . . . then on . . . a few more . . . stop and stare again . . . so on . . . drifting around . . . when suddenly . . . gradually . . . all went out . . . all that early April morning light . . . and she found herself in the--– . . . what? . . who? . . no! . . she! . . [Pause and movement 1.] . . . found herself in the dark . . . and if not exactly . . . insentient . . . insentient . . . for she could still hear the buzzing . . . so-called . . . in the ears . . . and a ray of light came and went . . . came and went . . . such as the moon might cast . . . drifting . . . in and out of cloud . . . but so dulled . . . feeling . . . feeling so dulled . . . she did not know . . . what position she was in . . . imagine! . . what position she was in! . . whether standing . . . or sitting . . . but the brain– . . . what?. . kneeling? . . yes . . . whether standing . . . or sitting . . . or kneeling . . . but the brain– . . . what? . . lying? . . yes . . whether standing . . . or sitting . . . or kneeling . . . or lying . . . but the brain still . . . still . . . in a way . . . for her first thought was . . . oh long after . . . sudden flash . . . brought up as she had been to believe . . . with the other waifs . . . in a merciful . . . [Brief laugh.] . . . God . . . [Good laugh.] . . .

(1972 geschrieben. Dauer etwa 15 Min.)



Literaturwerkstatt 8 (8.4.15)

Übungen zur Präsentation der selbst geschriebenen Texte

Zusammenstellung und Layout eines Textheftes

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Flusslandschaft

Die Wahrheit der Worte, die Wahrheit der Bilder sind im Fluss. Nur fließend gibt es die Wahrheit, fließend in Bildern und Worten.

Das Eindeutige ist vieldeutig in Worten und Wortbildern.

 

Bilder fließen aus vielen Quellen.

Klarheit braucht viele Worte.

 

Buchstaben schwimmen auf. Worte spülen zu Sätzen.

Sätze fließen zu Inseln, bilden Strudel.

Bedeutungen fließen.

Das Leben fließt.



Winterfluss

Worte gefrieren zu Farben, siehst du rot, siehst du grün, blau, gelb,

alles fließt, zerfließt,

fließt zusammen, auseinander,

Wortwelten, wir mittendrin,

meine Bilder, deine Bilder,

Wortbilder zwischen uns.



Wortunwetter reißen mit,

Du wirst geflossen, wir werden geflossen, wir sind geflossen,

stürzen den Wasserfall hinab,

kann sein, könnte sein, ist gewesen.

In einem Krieg, in den Tod.



Beobachte den Fluss, registriere den Wasserstand,

Finde dich im Fluss.

Du fließest flüchtig.

Fließend geflossen.

Zerfließend verflossen.

Hier eine Pfütze,

dort das Meer.

Wo ist einWeg?

 

Wortfluss

wie ich glaubte aber erst nachher erkannte mir sagte es ist nicht wie gestern da ist etwas das stimmt nicht das Gesagte das ich glaubte im Wortlaut den ich gehört einige Wörter laut gesagt wie gehört wie ich es fühle besser wie ich es spüre mich erhebe in der Luft mich sehe schlecht gesagt fließt es wenn ich spüre plötzlich in der Nähe das Rauschen aufleuchtende Träume andere Gewissheiten da ist etwas das anders ist erstarrt ich habe nichts dergleichen ich sage es wie es kommt ohne zu glauben