Arunachal Pradesh – Indien
19.3. – 3.4.2005
Fotos von Christa Neuenhofer


Landschaft zwischen Along und Pasighat

Tourverlauf und Tagebuchnotizen (45 Seiten incl. 30 Fotos)

Übersichtskarte

Detaillierter Ablauf des Myoko-Festes mit Tondokumenten
Myoko – The Great Festival of the Apa Tani (engl. Version)

Blut und Opfer in der christlichen Religion

s.a. Bericht zur ersten Reise durch das nördliche Arunachal

20.3. Sonntag
Wir sind vom heimatlichen Borken über London, Kalkutta und Guwahati bis Tezpur in Assam 29,5 Stunden unterwegs.
Regen und Gewitter in der Nacht. Es ist schwül-heiß.

21.3. Montag
8 Uhr Abfahrt bei Regen, zwischen Teegärten, in denen die Teepflückerinnen trotz Regens arbeiten.

An der Grenze von Arunachal fahren wir nach der Kontrolle unseres Permits durch ein hohes Tor mit dem Symbol der Sonne. Wir sind im „Land der aufgehenden Sonne“. Schlagartig ändert sich das Aussehen der Häuser und der Menschen.

Zunächst kommen wir ins Gebiet der Nyishi. Stelzenhäuser aus Bambus mit Palmdächern begrüßen uns. Oft wohnen die Nyishi in Langhäusern für sechs Familien. Über eine Veranda kommt man in einen fensterlosen Raum, in dessen Mitte und im hinteren Teil sich je eine Feuerstelle befindet. Küche und Schlafzimmer sind abgetrennt. An der Rückseite führt eine Tür nach draußen. An der rechten Seite, wo die Mithunschädel hängen und Kalenderblätter, steht neuerdings oft ein Fernseher.

Die traditionelle Kleidung der Frauen besteht aus einem Rock mit breiten Querstreifen bis zum Boden. Auf dem Kopf tragen sie einen Blumenkranz, früher aus Bambus, heute aus Stoff, im Ohr einen Holzpflock und über den Schultern einen schmalen Schal. Die Männer dagegen tragen kurze, längsgestreifte Röcke, dazu eine Haube mit dem Schnabel eines Nashornvogels, mit Zweigen, Vogelfedern und Metallband, im Ohr einen Ring.


Stöckchen stehen für Stimmen und Argumente.

Am Straßenrand erleben wir eine Gerichtsverhandlung der Nyishi über einen Landzwist. Mit Stöckchen werden vom Dorfvorsteher die jeweils für eine Seite sprechenden Stimmen auf dem Boden ausgelegt. Das ist eine Form der Demonstration von Argumenten oder bei Handelsgeschäften auch eine Veranschaulichung von Objekten, die bei vielen Stämmen zu finden ist.

Besuch der Nyishi-Siedlungen Lichi, Dath und Besuch von Itanagar, der Hauptstadt von Arunachal

Die historischen Ruinen von Ita-fort (ruin of Mayanpur) bestehen aus  Resten von vier Toren und einer alten Festungsmauer aus dem 13./14. Jh, der Zeit der Ahomkönige. Die Backsteinmauer wurde von Leuten zum Hausbau genutzt oder musste einem Bauviertel weichen.

Außerdem gibt es noch die eher provinziellen Museen „Archeological Museum“, in dem Fundstücke aus der Indus-Harappa-Kultur und aus früheren Zeiten aufbewahrt werden und das „State Museum“, das meist geschlossen ist.

Während unserer Besichtigungen regnet es immer wieder.

22.3. Dienstag
8 Uhr Abfahrt bei Regen
Wir fahren eine Nebenstrecke, durch die sich die Entfernung von 148 km um 50 km verkürzt. Unterwegs besuchen wir das Nyishi-Dorf Patchu mit typischen Langhäusern auf ungewöhnlich dicken Pfosten (etwa 50 cm Durchmesser).Nachdem wir einen Pass von 1745 m überquert haben, kurven wir endlos hinab und wieder hinauf in das Hochtal der Apatani auf 1570 m Höhe. In Ziro, dem Hauptort der 30 000 Apatani, regnet es wieder und ist kälter als im winterlichen Deutschland.


Blick von Hari über die Reisfelder

Die Apatani

Die 30 000 Apatani wohnen in einem geschlossenen Hochtal, umgeben von den Völkern Nyishi und Hill Miri, und lehnen bis heute eine Heirat mit anderen Stammesangehörigen ab. Eine „Fremdheirat“ bedeutet Ausschluss von allen traditionellen Riten. In dieser Isolierung konnten sich bis heute archaische Sitten erhalten, die als Weltkulturerbe unter den Schutz der UNESCO gestellt werden sollen.

Apatani, die aus entfernten Städten zu Besuch kommen, können mit dem offiziellen Bus fahren oder mit eigenen Mopeds und Autos, obwohl die Schlammwege in den Dörfern meist nicht befahrbar sind.

Die Apatani-Sprache, verwandt mit den Sprachen der Pasi, Padam, Minyong und Mishing, kennt keine Schrift. Da sich die Apatani-Sprachen in den 9 Dörfern phonetisch unterscheiden, ist die Schreibung der Namen sehr unterschiedlich. Die meisten Volksstämme benutzen die lateinische Schrift, obwohl sie in den Schulen die Hindi-Sprache und -schrift lernen müssen.

Obwohl es die Klasse der Sklaven heute offiziell nicht mehr gibt, haben wir in den meisten Familien dunkelhäutige Dienerinnen aus Bangladesh und Assam beobachten können, die als Dienstmädchen tätig sind. Die übrigen Sozialklassen -  einfache Bürger, Adelige und adelige Führer -  haben auch heute noch Bedeutung.

Die moderne Zeit zeigt sich bei Dächern aus Aluminium, die mehr und mehr die Stroh- und Bambusdächer ablösen und bei einzelnen Häusern, die für die Stelzen, den Boden und für Mauerteile das Material Zement genutzt haben. Das Innere der Häuser bleibt aber meist durchgehend traditionell. Ohne offene Feuerstellen im Haus ist wohl kein Apatani-Haus denkbar, obwohl die einfachen Übernachtungshäuser für Touristen europäischen Wohnvorstellungen entsprechen.

Überrascht haben uns die Fernseher in vielen primitiven Bambushäusern. Mehrfach haben wir auch DVD-Abspielgeräte erlebt. Einmal lief eine Tanz- und Gesangs-CD gleichzeitig mit einem traditionellen Priestergesang. Eine Frau filmte sogar mit ihrer Videokamera Szenen der Myoko-Prozession und zeigt sie uns am nächsten Tag.


In der Werteecke steht jetzt neben den Mithunschädeln oft ein Fernseher.

23.3. Mittwoch
Myoko-Fest in Hari

Detaillierter Ablauf des Festes

4.10 Uhr aufstehen, um den Beginn der Zeremonien zur Opferung der Schweine mitzubekommen.
s. Ausführliche Beschreibung des Festverlaufs

An diesem Tag erleben wir schockierende Opferungszeremonien. Darauf waren wir nicht vorbereitet und so etwas hätten wir nicht für möglich gehalten. Nirgendwo in der vorbereitenden Reiseliteratur werden diese Vorgänge beschrieben. Auch Fürer-Haimendorf, der 1944/45 mit seiner Frau 18 Monate bei den Apatani gelebt hat, erwähnt diese Riten nicht.

Er beschreibt einerseits die dauernden Konflikte zwischen den Volksstämmen der Region, den Nyishi, Miri und Apatani, die Menschen und Tiere entführen, um Lösegeld zu bekommen, die töten und Häuser verbrennen, andererseits verklärt er die Apatani als humanes Volk, die in kriegerischer Umgebung eine „Insel des Friedens“ darstellen. Ähnlich hat schon der Teepflanzer Crowe 1889 sie als „peaceful und harmless“, als „inoffensive savages“ beschrieben. Solche Charakterisierungen sind wohl vor 50 Jahren bei Vergleichen zwischen dem Volk der Apatani und anderen, benachbarten, kriegerischeren Völkern entstanden.

Mein Bild von der Kultur der Apatani ist durch die alltäglichen blutigen Opfer von Tieren auf der einen Seite und durch die Gastfreundlichkeit auf der anderen Seite bestimmt. Wir hätten es nicht für möglich gehalten, dass in der heutigen Zeit noch in solch archaischer Weise Tiere zu Tode gebracht werden. Mit Schaudern haben wir Skulpturen und Bildhandschriften der Maya in Mittelamerika gesehen, die darstellen, wie Menschen bei lebendigem Leib die Herzen heraus gerissen werden. Genau diesen grausamen Tötungsvorgang haben wir beim Myoko-Fest bei der Opferung von Schweinen erlebt.


Der Assistent des Priesters schneidet die Brust des lebendigen Schweins auf, bohrt mit einem Arm einen Weg durch die Organe und reißt das Herz heraus.

In der Auseinandersetzung mit dem gefühllosen Töten innerhalb eines religiösen Rahmens ist mir die Bedeutung des Blutopfers und des Blutes auch im jüdisch-christlichen Kulturkreis bewusst geworden. Dabei ist festzustellen, dass die symbolisch verstandene Blutmetaphorik in den christlichen Opferhandlungen auch heute noch gebraucht wird.

s. Blut und Opfer in der christlichen Bibel, Opfermesse und Opfermahl der Katholiken

Bei der Mutter unseres Guides
Die Seelen der Lebenden wohnen in Bambuskörbchen.

Am Spätnachmittag besuchen wir Koj Mamas Elternhaus und tauschen mit seiner Mutter einige Geschenke aus. Wie andere wohlhabende Apatani hat die Familie anstelle der Bambusböden und –wände Betonwände gesetzt und ein dauerhaftes und feuersicheres Dach aufgesetzt. Die Inneneinrichtung des Hauses ist mit den Bambushäusern identisch. Im hinteren Teil hängen an der Wand Bambusgebilde, die an Familienmitglieder erinnern, die für längere Zeit das Haus verlassen haben. Auch für Koj Mama wurde vor einer längeren Reise vom Priester ein Bambusgebilde aufgehängt, nachdem mit einem Ei-Orakel die günstigste Reisezeit festgestellt wurde.

Vater und Großvater von Koj Mama waren Priester. Erst in jüngerer Zeit hat sich ein Cousin während eines Studiums entschlossen, auch Priester zu werden. Er vollzieht in der Apatani-Diaspora in Itanagar schon die Riten für seine Stammesangehörigen, obwohl seine Lehrzeit noch viele Jahre dauern wird.

Zum Abendessen bekommen wir Pila, einen schaumig gekochten Reis, mit Pflanzensalz. Auf die dazu üblichen Chilischoten verzichten wir. Diesen Reis essen die Apatani gewöhnlich morgens und nachmittags. Mittags und abends essen sie immer getrocknetes Kuh- und Schweinefleisch.

Nebenan wohnt ein wohlhabender Apatani, was er durch seine 20 Mithunschädel rechts neben dem Eingang und durch die 50 Unterkiefer von Schweinen im hinteren Teil des Hauses demonstriert. Im hinteren Haus befinden sich auf der rechten Seite kleine Körbchen, in die sich die Seelen der hier wohnenden Menschen zurückziehen können.

Innerhalb dieses Hauses sind in Kopfhöhe rundum weiße X-Kreuze zu sehen, die von einem Priester als magische Zeichen gegen böse Geister aufgemalt wurden. Diese Zeichen sehen wir auch unterhalb der Tanzpodien auf Brettern, die zu Anfang des Myoko-Festes von den Familien eines Clans aufgestellt worden sind.


Zeremonienwand im Tempel von Hari

Besuch des Danyi Piilo Tempels von Hari

Die Sonne-Mond-Religion (meist Donyi-Polo) gilt als die traditionelle Religion, in der sich alle animistischen Weltanschauungen wieder finden. Scheinbar finden viele Volksstämme in dieser Religion eine eigene Identität gegenüber den buddhistischen und christlichen Religionen. Das Haus in Hari sah recht neu aus. Im November 2004 ist sogar ein Heft mit Danyi-Piilo-Hymnen gedruckt worden. Vor drei Jahren überlegte auch Koj noch, ob er nicht wie sein Bruder zum Christentum übertreten solle. Aber das hätte bedeutet, dass er von vielen Zeremonien ausgeschlossen worden wäre. Jetzt ist er stolz auf seine Kultur, die nach seiner Auskunft von der UNESCO sogar als Ganzes zum Weltkulturerbe erhoben werden solle.

24.3. Donnerstag
Bula/Bela, Myoko-Fest im Partnerort von Hari
Es regnet den ganzen Tag.

Das Begräbnisfeld von Duta

Die Apatani bestatten ihre Toten im Gegensatz zu den anderen Völkern, die die Toten am Haus begraben, auf einem gemeinsamen Platz. Der Friedhof ist eine kleine Wiese mit drei Bambusgerüsten und vielen Höckern. Einige Kühe weiden hier bzw. drängen sich wegen des Regens in einem Unterstand. Auch Kojs Vater ist hier begraben.Koj zeigt auf einen der vielen Grashöcker.


Friedhof von Duta mit Grabaufbauten, im Hintergrund die Reisfelder der Apatani

Dann erzählt er, wie die Toten in Hockstellung mit ihren besten Kleidern beerdigt werden. Die Hände werden vor der Brust gekreuzt, die Beine angewinkelt und zusammengebunden. So werden sie an Stangen hierhin getragen. Die Stange wird zwischen Arme und Beine geschoben, so dass der Mensch wie üblicherweise die Schweine getragen wird. Sein Gesicht wird dabei mit einem Tuch abgedeckt. Dann wird er mit dem Gesicht nach Osten in ein vorbereitetes Loch gelegt. Verwandte und Bekannte legen mitgebrachte Tücher, Reiswein, manchmal auch gekauften Schnaps, evtl. Pfeife, Zigaretten oder Streichhölzer neben den Toten ins Grab. Es werden keine Speisen hineingelegt. Danach reißen sie aber ein Stückchen Stoff oder einen Faden von ihren geschenkten Tüchern wieder ab, damit die eigene Seele nicht mit dem Toten ins Seelenland Neli, unter der Erde gelegen, wandert. Der Tote wird dann mit Erde bedeckt.

Über dem Grab wird ein Bambusaltar errichtet und vom Priester werden Zeremonien abgehalten. Tiere werden geopfert je nach Bedeutung des Verstorbenen, Hühner, ein Hund, ein Schwein, eine Kuh oder ein Mithun, entsprechend groß und hoch sind auch die aufgestellten Bambusgerüste. Das Gehörn des geopferten Tiers wird an das Gerüst gehängt. Auf dem Friedhof von Duta standen nur sechs Bambusgestelle. An der Spitze eines Gestells war ein Strohkreuz befestigt. Die Gestelle sind manchmal bis zu sechs Stockwerke hoch. An den Gestellen eines Priestergrabes hängen lange Bambusketten mit Gefäßen.


Ausgestopfte Tiere auf dem Grab sollen den Toten ins Jenseits begleiten.

Die Hill Miri bauen ähnliche Grabgestelle. In Raga hingen an einem Grab die Felle einer Wildkatzenart, denen jeweils kleine Kiepen mit Lebensmitteln umgehängt waren. Solche Bräuche finden sich auch bei den Apatani. Diese Tiere sollen den Verstorbenen ins Jenseits begleiten. Auf den Gräbern stehen keine Namensschilder, sie sind anonym, die meisten sind nur als kleine Hügel erkennbar.

Auf dem Gang vom Haus zum Grab besingt eine weibliche Verwandte wichtige Ereignisse aus dem Leben des Toten und beschreibt den Weg zur jenseitigen Welt unter der Erde. Der folgende Text (in Auszügen) handelt von dem gefährlichen Weg ins Jenseits:

Am Anfang, vor langer Zeit, machten die großen Ahnen, Großvater Kiilyi und Großvater Kiilo über den Khempu-Pfad (ein Ritualpodest in Neli) eine Reise nach Neli, dem Land des Todes.

Mutter Nyani von Siichan ging den Siichan-Weg; Vater Nyabo von Myodi den Myodi-Pfad.

Die Würmer gruben Löcher in die Erde, die Affen reinigten den Pfad, die Vögel bereiteten den Weg vor.

Auf dem Weg nach Neli kommen wir nach Hiising, dem ersten Rastplatz am Sindo. Hier lasst uns loben unsere vielen Kunstfertigkeiten, lasst uns rühmen unsere großen Taten. Lasst uns jetzt unsere Taschen öffnen und gut essen.

Wir kommen zum Chayen-Fluss. Aber hütet euch hier vor Gefahren. (Aufzählungen)

Tief im Fluss liegt Chango Sotii, ein Ungeheuer zwischen Erde und Himmel.

Sein Oberkörper ist bedeckt mit dichtem Haar wie ein Vogelnest, sein Unterleib liegt unterhalb der Oberfläche und wühlt die Strömung gewaltig auf.

(nach Koj Mama ein göttliches Riesenmithun, das ein Erdbeben hervorruft, wenn es sich bewegt. Tapfere Krieger berühren es. Wenn es innerhalb weniger Tage nach dem Tod eines einflussreichen Mannes ein Erdbeben gibt, dann wissen die Angehörigen, dass der Verstorbene auch in Neli eine bedeutende Persönlichkeit sein wird.)

Komm jetzt, überquere den Fluss und hab keine Angst. Wir gehen vorsichtig und langsam über die Brust von Chango Sotii. Kommt, ihr Mithuns, kommt auch ihr Kühe, lasst uns den Fluss ohne Angst überqueren…

Jetzt kommen wir zum Adii Ayen Strom, wo wir unsere Kleider und Körper bei verstorbenen Verwandten und Freunden waschen wollen.

In Neli, dem Land unserer Großmütter, binden wir die Mithuns an die gyadi-Pfosten. In Neli, dem Land unserer Großväter binden wir die Kühe an die gyadi-Pfosten. Wir binden sie fest mit Seilen….


Eine Kuh und ein Mithun vor der Opferung

Und jetzt will ich zurückkehren zum Land meiner Leute. Ihr Geister in Neli sollt mich mit so vielen Segnungen bedenken wie Haare eines Mithuns.

Ich will mein Eigentum mitnehmen und unbehelligt ins Land der Lebenden zurückkehren. Ich binde alle Mithuns los. … Ich nehme alle Seile mit, denn sie gehören nicht nach Neli. Ich stecke sie in meinen Rucksack, um Vögel und Ratten binden zu können. Ich nehme sie zurück zu den Lebenden.

Ich habe dich nach Neli geführt und gesehen das Haus in Neli. Aber wohin werde ich jetzt gehen? Ich kann das Essen hier in Neli nicht zu mir nehmen, die große Ernte des fruchtbaren Landes, wo die Hähne krähen und die Vögel singen. Hier müssen wir voneinander scheiden. Ich schließe die Mauer zwischen uns aus Erde und Lehm mit einem Zaun aus gespaltenem Bambus.
(Über dem Grab wird ein Erdhügel aufgeschüttet und ein Zaun errichtet.)

Ich brauche Hilfe zur Sicherheit meiner Seele, um die Seelen meiner Familie, die Seelen unserer Mithuns, unserer Hühner und Schweine beschützen zu können.

(Es folgt eine ausführliche Beschreibung des Rückwegs mit einer allmählichen Annäherung an das Heim.)

Ich komme zurück zu meinem Ehemann, dem Haus meiner Kinder. Die Geister dieses Hauses mögen uns alle beschützen und stärken.

Ich, Rinyo, die Frau von Tamen, bitte die Geister uns zu beschützen und zu stärken. Lasst mich hier bleiben und nicht fort wandern. Lasst mich sicher und gesund in der dokho-Ecke bleiben wie die tibetischen Glocken und die Metall-Platten.

Lass unsere Seele innerhalb unseres Hauses in der hinteren Ecke auf der rechten Seite sicher im Korb bleiben, beschützt von Lyapin Chantun, dem Schutzgeist des Hauses.

Quelle: Neli Toniin ('Going Down to the Land of the Dead'), an Apatani mourning song by Hage Biinyi, female, 70 years, Hari village, 2003. Translation prepared with the assistance of Hage Komo. Aus Der Abschied von den Toten. Trauerrituale im Kulturvergleich. Jan Assmann, Franz Maciejewski and Axel Michaels, 2005

Die gesungenen Texte sind ein gutes Beispiel für die mündliche Überlieferung bei den Apatani, die wie auch die übrigen Stämme keine eigene Schrift haben. (Nur die Khamti brachten aus dem Shan-Staat eine Thai-Schrift mit.)

Direkt neben den Gräbern zeigt uns Koj das wieder aufgebaute Haus des Ethnologenehepaars Fürer-Haimendorf, das1944/45 hier 18 Monate lebte.

Hinter dem Haus liegt eine Landebahn für Flugzeuge, die aber kaum genutzt wird. Ein Schild besagt, dass die Apatani eine Vergrößerung des Flugfeldes ablehnen und nicht gewillt sind, weiteres kostbares Ackerland abzugeben.


Glückliche Kinder in einem Dorf der Hill-Miri

Das Schul-Internat für die neue Elite Arunachals

Das Internat in Nenchalyang wird von Kindern bis zum 13. Lebensjahr besucht. Auch unser Guide hat seine 3 ½ jährige Tochter dort abgegeben, damit sie eine bessere Erziehung erhält mit mehr Disziplin und guten Englischkenntnissen, wie er sagt. Er darf seine kleine Tochter nur einmal im Jahr während der 1 ½ Monate Ferien sehen.

Als wir den Gebäudekomplex betreten, liegen alle Kinder in den Betten. Sie haben nach 9 ½ Stunden gerade eine Ruhezeit. Kojs Tochter gehört zur Kleinkindergruppe und zum Kindergarten. Schließlich ist sie schon um 5 Uhr aufgestanden und hat nach einer „Milchzeit“ ab 6 Uhr, noch vor dem Frühstück, 1 ½ Stunden gelernt, um ab 9 Uhr, nach einer „Ankleidungsstunde“ die Schule zu besuchen.

Die älteren Schüler (5-13 Jahre) der Klassen I bis VI verbringen, nur von einer kurzen Lunchzeit unterbrochen, 5 Stunden in der Schule. Die Kindergartenkinder nehmen zwar nicht am Nachmittagsunterricht teil, aber sie dürfen während dieser Zeit auch nicht spielen, sondern müssen lernen. Nach einer 1 ½ stündigen Ruhezeit haben die Kleinen dann 1 Stunde Zeit zum Spielen, wenn sie nicht noch zu müde sind. Als wir sie besuchen, schlafen sie auch noch in der Spielzeit.

Um 17 Uhr steht „sich waschen“, Fernsehen und „Milchzeit“ auf dem Programm. Aber bereits ab 18 Uhr müssen sie wieder lernen. Sie essen um 20 Uhr und dürfen um 21 Uhr ins Bett, während die Älteren erst um 22 Uhr schlafen gehen. Selbst an Sonn- und Feiertagen ist die Zeit streng reglementiert und enthält auch nur eine Stunde fürs Spielen. Die täglichen Schulstunden werden zu Studienzeiten. Das besondere Sonntagsgeschenk besteht in einer zusätzlichen halbstündigen Ruhezeit und einer halbstündigen Fernsehzeit am Morgen.

Bei einem so wenig kindergerechten Tagesablauf können wir die Kinder nur bedauern. Als wir dieses Programm mit unserem Guide diskutieren und ihm vorhalten, dass das Erziehungsprogramm nicht nur kinderfeindlich ist, sondern auch eine Entfremdung von Elternhaus und Apatanikultur, deutet er erschrocken an, dass er seine 2. Tochter lieber nicht ins Internat stecken wolle, sondern sie von zu Hause aus in die Schule schicken wolle. Später will er dann die Entwicklung der beiden Töchter vergleichen. Wie wir, so ist auch er entsetzt, als er erfährt, dass den Kindern selbst in der Freizeit jede Unterhaltung in der Muttersprache verboten ist. Umgangssprache ist das Englische. Auch in der Schule wird die Apatani-Sprache nicht gepflegt, sondern neben dem Englischen nur Hindi gelehrt.

Der Leiter und Gründer der Schule, der für diese Erziehungsprogramme verantwortlich ist, ist ein Bruder von Koj Mama. Bezeichnend für eine fortschreitende Entfremdung innerhalb der Apatani-Gesellschaft ist auch, dass die Lehrer meist eine Erziehung in christlichen Internaten genossen haben und nun ähnliche Programme für die dorfnahen Internate formuliert haben, die auch von Kindern anderer Volksstämme besucht werden können.

Zwischen 1948-50 wurden von den Apatani und den Hill Miri zweimal lokale Schulen niedergebrannt aus Protest gegen die Anweisungen zum Gebrauch der Assamesischen Sprache. (Calcutta Special Report no. 71, dated 7 Oct. 1950)

Bei den Nyishi


Typisches Nyishi-Langhaus für 6 Familien in Neelam

25.3. Freitag

Im Hotel läuft im Nachbarraum schon ab 6 Uhr der Fernseher. Wie üblich stehen alle Zimmertüren offen. Wir erklären uns diese Sitte aus der Situation der Bambushäuser, die keine Tür zum Verschließen haben und die oft von mehreren Familien bewohnt werden.

7.30 Uhr Tagesfahrt in das Nyishi-Gebiet von Palin in Richtung chinesischer Grenze. Über Jara (1295 m), Talo, Paria, Neelam (1410 m) fahren wir bis Dem auf einer guten Straße, die gerade ausgebaut worden ist. Danach wird die Straße immer katastrophaler und wir schlingern 1 ½ Stunde durch Schlamm und Geröll vorbei an einer wunderschöne Landschaft mit Schluchten, hohen Urwaldbäumen, Farnbäumen und kahl gebrannten Brandrodungsfeldern. Dreimal fahren wir über Pässe von 1700 m. Schwarze Wolken begleiten uns, aus denen immer wieder ein Regenguss aufs Auto prasselt. Häufig müssen wir anderen Fahrzeugen ausweichen, Schlamm spritzt gegen die Windschutzscheibe.

Nachdem wir im hässlichen Palin (550 m) im Government-Bungalow, das wie meist auf einer Anhöhe liegt, unser mitgenommenes Essen eingenommen haben, müssen wir denselben Weg wieder zurück. Diesmal in die untergehende Sonne hinein, die den Urwald in eine dramatische Landschaft verwandelt.

Botanische Infos

Koj zeigt uns den Strauch Tamin, mit dessen Zweigen die typischen Caneschwänze der Apatanis rot gefärbt werden. Das Rohr wird außerhalb des Dorfes (ein Tabu) mit dem Holz gekocht. Die Bewohner trocknen das Holz, um es auf einem Markt zu verkaufen.

Koj weist auch auf die Bütenstände eines Baumes hin, die als Gemüse gegessen werden. Der Strauch Tarko ist für die Bewohner besonders wichtig. Seine Blätter werden verbrannt und die Asche zur Desinfektion genutzt. Nach der Geburt eines Kindes heile die Asche innerhalb einer Nacht den Nabel des Babys.

In diesen Hochregionen wächst auch Rattan cane (Calamus rotang; Peddigrohr oder spanisches Rohr wird aus dem inneren Holz und Flechtrohr aus der glasigen Oberhaut hergestellt.), eine wild wachsende, stachlige Kletterpalme und Faserpflanze, die bis 8 cm dick und bis zu 100 m lang wird. Sie dient zur Herstellung von feinstem Flechtwerk, wovon die fast regendichten Cane-Helme und die Rucksäcke der Bergvölker zeugen.

26.3. Samstag

Wir erleben eine letzte Zeremonie in Haji, in der ein Apatani das Fest seines Lebens (Subu Tanii) gibt und einen Mithun und eine Kuh für das Wohlergehen seiner Familie und seines Clans opfert.

Diese Zeremonie ist nur einmal während eines Lebens möglich. Zwei Priester singen vor den beiden Tieren, während Männer aus dem Clan kleine, zeltähnliche Holzgestelle zimmern, die an diese Zeremonie erinnern sollen. Die Tiere bekommen an diesem Tag keine Nahrung, sondern nur etwas Salz und ihre Hörner werden mit Reisbrei angestrichen. Vor dem Haus des Opfernden lagert eine Unmenge Holz, weil die Familie nach der Zeremonie 15 Tage lang kein Holz schlagen darf. Außerdem muss sie bestimmte Esstabus befolgen, d.h. sie darf kein Gemüse essen, sondern nur Reis und Fleisch.

Das Haus der Familie ist voller Leute, die Nahrung oder Geld als Geschenke bringen. Jedes Geschenk wird aufgeschrieben, weil die Beschenkten bei ähnlicher Situation ein Geschenk im gleichen Wert zurück schenken. Stolz zeigt uns die Hausfrau im Innern ihre Vorräte an Reismehl und Hirse. Wegen seines Aluminiumdaches kann der Rauch zweier Feuerstellen nicht abziehen, so dass der Raum voll beißendem Rauch ist. Unsere Augen tränen. Das angebotene Reisbier lehnen wir wegen der frühen Morgenstunde ab.

Die Hill Miri

Auf unserem Weg nach Dumporijo kommen wir in das Gebiet der Hill Miri.

Die Fahrroute verläuft meist oberhalb von 1000 m. Sobald wir tiefer kommen, tauchen Schwärme von Dim-Dam-Fliegen auf, die empfindliche Beißwunden hinterlassen, die sich entzünden und wie Flohstiche erst nach Wochen abheilen.

In Tamen treffen wir zum ersten Mal auf Hindus, die mit Farbpulver das Frühlingsfest Holi feiern, indem sie sich und Vorbeikommende mit Farbe beschmieren, Lieder singen und tanzen. Die Bergstämme nehmen an diesem ausgelassenen „Karneval“ nicht teil, da es sich um ein reines Hindufest handelt.

Hill Miri-Gräber in Raga mit Wildkatzen, die dem Verstorbenen in der jenseitigen Unterwelt Neli mit ihren Vorratsrucksäcken zu Diensten sein sollen.

Übernachtung im Inspection Bungalow in Dumporijo (270 m) ohne Dusche und warmes Wasser, nur eine Stunde elektrisches Licht. Es regnet die ganze Nacht.

27.3. Sonntag

Vor Daporijo, etwa 20 km vom Übernachtungsort entfernt, platzt ein Autoreifen

Auf dem Markt von Daporijo werden neben Gemüse typische Geschenkartikel der Gebirgsstämme angeboten. Besonders ungewöhnlich sind Metallgegenstände wie Glocken ohne Klöppel und runde Messingbleche, die früher als Zahlungsmittel für Sklaven und Gefangene, und heute als Hochzeitsgeschenke benutzt werden. Meist werden sie dann zur Sicherheit vergraben. Diese „nutzlosen“ Metallobjekte werden zu hohen Preisen verkauft, z.B. sollte eine 12 cm hohe Glocke 10 000 Rupies (200 €) kosten.

Die Tagin

Die Tagin Häuser imponieren  durch ihre hohen Stelzen an Steilhängen. Im schönen Subansiri-Tal besuchen wir eine Reihe Dörfer, die zum Teil nur über Hängebrücken zu erreichen sind.  Die lange Cane-Hängebrücke bei Sippi ist besonders eindrucksvoll.

In Menga, gleich hinter einer Eisenbrücke über den Fluss, befindet sich in einer Tropfsteinhöhle eine Hinduwallfahrtsstätte (Mahashivrathi). Sechs kopfähnliche Gebilde werden als Schlangenköpfe des Gottes Shiva gedeutet. In der großen Vorhöhle betreut ein Brahmane neben einem Shiva-Lingam das Naturwunder. Dieser Tempel ist die einzige Stätte der indischen Viel-Götter-Religion. Den religiösen Traditionen der Volksstämme entsprechen eher die christlichen Gottesvorstellungen.

Im nächsten Ort Mara besuchen wir wieder einen Priester des traditionellen  Sonne-Mond-Kultes. Zunächst zeigt er sich in dem alltäglichen Schurz mit nackten Beinen. Erst als er die Priestertracht anlegt, zieht er eine kurze blaue Hose an. Er entpuppt sich als Schauspieler mit Humor. Zum Abschied schenken wir ihm als Dank für seinen Gesang und seinen Tanz einen Beutel mit Kauri-Schnecken zu Erweiterung seiner mit diesen Scheckengehäusen geschmückten Kleidung.

Damit endet unser Tagesausflug in die kaum zugängliche Gegend, worüber unser Fahrer besonders glücklich ist. Ein Erdrutsch hat den Weg nach Taliha unpassierbar gemacht. Wir kehren um nach Dumporijo. Natürlich im Dauerregen.

28.3. Montag

Die Gallong/Gaalo

Am heutigen Tag fahren wir in die Siedlungsgebiete der Gallong.
Für die 148 km nach Along brauchen wir incl. der Besichtigungen 10 ½ Stunden. Die Höhe der Straße wechselt zwischen 400 und 1000 m. Das Dinner aus Reis nehmen wir wie üblich in einem Circuit-Haus ein.

Früher wurden die Gallong von Engländern der Adi-Völkergruppe zugeordnet und Adi-Gallong genannt. Da dies ein Wort der Adi-Sprache ist, haben sie als neue Bezeichnungen die Namen Gaalo und für ihre Hauptstadt Along den Namen Aalo gewählt. Schließlich hätten sie nicht denselben Vorvater mit den Adi-Völkern. Transparente auf der Straße weisen darauf hin. Trotzdem werden sie noch offiziell Gallong genannt.

Sie wohnen in großen, eindrucksvollen Einzelhäusern aus Bambus. Besonders das Dorf Darka mit seinen Mäusestadeln, die den Mäusestadeln im Wallis/Schweiz wegen der großen Platten zwischen den Stelzen und dem Haus sehr ähnlich sind, erinnert an große Gehöfte im Alpenraum. Die Sperrplatten für die Mäuse sind hier allerdings nicht aus Stein, sondern aus Holz. Koj meint, aus diesem Dorf stammten viele Regierungsbeamte, die dafür sorgten, dass viel Geld hierhin flösse.

In der Mitte der Häuser liegt jeweils ein fensterloser Wohnraum mit Feuerstelle. Außen herum verläuft eine breite Veranda mit einem weit herunter gezogenen Dach, unter dem die die Männer ihre Flechtarbeiten verrichten und die Frauen ihre Webarbeiten.

Im Dorf Tapi bieten die Gallong uns neue Flechtarbeiten an. Als wir sagen, dass wir lieber alte gebrauchte haben möchten, schleppen sie Körbe, einen Rucksack, einen Hut, einen Dao mit Schwert, ein Messer und viele verrußte Küchengeräte herbei. Für eine geplante Arunachal-Ausstellung in Deutschland kaufen wir einige transportable Gegenstände ab.

Das Hotel Anchal Bhawan in Along (255 m) ist recht primitiv, obwohl ein Fernseher und notwendige Mückennetze über den Betten vorhanden sind. Durch einen eigenen Generator für Elektrizität ist der Geräuschpegel sehr hoch.

Am Abend lernen wir auch die Frau unseres Guides kennen, die hier, zwei Tagesreisen von ihrem Mann und ihrer ältesten Tochter entfernt, in einem Regierungsbüro etwas Geld verdient, da Kojs Einkommen sehr unregelmäßig ist und er in den letzten Jahren von dem Reiseunternehmen LIZA für seine Führungen überhaupt kein Geld erhielt. Sie wohnt mit der jüngeren Tochter und einer Angestellten in einem Steinhaus mit Zementboden ohne Heizungsmöglichkeit, verschimmelten Wänden und einigen Stühlen, aber mit einem Farbfernseher. Koj hat sie geheiratet, wie er sagt, weil sie ausgezeichnet weben kann. Ihre Geschenke an uns, eine selbst gewebte Apatani-Jacke und ein Schal beweisen das. Koj sucht dringend nach einer Möglichkeit, solche Webstücke in Europa zu vermarkten.

29.3. Dienstag

Wir fahren durchs Syom-Tal mit breitem Fluss, in dem manchmal breite Flussinsel liegen. Es ist eines der schönsten Täler Arunachals. Langsam steigt es von 250-550 m an.

In den Gallong-Dörfern haben wir wieder einige Mal Gelegenheit, an religiösen Zeremonien teilzunehmen.

In Kabu sitzen viele Menschen im Regenschatten eines Hauses. Die vielen, die auf der Veranda unter dem tief hinunter reichenden Dach des Hauses sitzen, können wir nur hören. Ein halbes Dutzend Männer sind damit beschäftigt, ein Rind auf Palmblättern zu zerlegen, abzuflämmen und zu kochen.  Zwei alte Frauen stapfen durch den Schlamm und erklimmen mühsam eine Leiter, die hinauf auf die Veranda führt. Dort oben sitzt für uns unsichtbar die Oma, für die diese Zeremonie durchgeführt wird. Geku-Zeremonie für ein langes Leben darf nur einmal im Leben durchgeführt werden. Wir werden freundlich willkommen geheißen, wollen aber nicht ins Haus, weil wir noch andere Ziele haben. Einige Jungen haben inzwischen einen Magen der Kuh aufgeblasen und spielen im Regen mit der Hülle Fußball.

Über eine Brücke aus Eisenplatten gelangen wir zum Dorf Paya. Aus einem Haus dringt der Gesang zweier Schamanen. Wir sitzen mit der Familie längere Zeit am Herdfeuer und lauschen den Wechselgesängen, die zur Heilung eines gebrochenen Fußes vorgetragen werden. Der betroffene Hausherr sitzt ebenfalls am Feuer, reibt den Knöchel seines rechten Fußes mit dem Blatt einer Heilpflanze, während vor seinen Zehen ein Bambuszeichen in der Asche steckt.

Der Priester der Bokar in Kaying trägt eine ungewöhnliche Tracht. Der hohe Bambushut und vor allem das bodenlange, rote Gewand sind beeinflusst worden von den Membas, die nahe der tibetischen Grenze wohnen und der lamaistischen Form des Buddhismus anhängen. Auch die Frauen bevorzugen bei ihrer Kleidung die rote Farbe der lamaistischen Mönchsgewänder. Eine Bokarfrau mit kurzer runder Haartracht, die aus einem nördlichen Dorf zu Besuch ist, erzählt uns, dass sie schon mehrfach die tibetische Grenze überquert habe.

30.3. Mittwoch

Topu-Kriegstanz der Minyong

Das Dorf Yeksi liegt hoch über dem Syom-Fluss. Da der Weg wegen des glitschigen Zustandes nicht befahrbar ist, klettern wir eine halbe Stunde hinauf. Das Dorf ist ein einziges Schlammloch. Eine Schar Kinder begrüßt uns, und auf der höchsten Stelle des Ortes, einer Wiese, kommen uns die ersten Krieger mit ihrem malerischen Kopfschmuck entgegen, schwingen ihre Schwerter und bilden eine lange Reihe. Insgesamt sind es 16 alte und junge Männer, die sich rhythmisch zu einer Seite bewegen und dabei zunehmend lauter werden, mit den Schwertern rasseln und mit wildem Gesichtsausdruck mal nach links mal nach rechts schauen. Je Furcht erregender desto besser. Nachdem sie mehrmals im Kreis gegangen, gesprungen und geschlichen sind und dabei immer wieder chorische Bewegungen vollführt haben, - eine ausgezeichnete Choreographie! - bilden sie zwei Gruppen, die mit drohenden Schwertern aufeinander losgehen und dabei nochmals ihren wilden Ausdruck steigern. Eine eindrucksvolle Vorführung!


Topu-Kriegstanz in Yeksi

Beim Gang durch ihr Dorf und zu ihren Häusern springen wir mit unseren schweren Wanderschuhen durch den Schlamm, während sie mit ihren nackten Füßen besseren Halt finden. Mir fällt dieser Gang besonders schwer, da ich starke Magenbeschwerden habe, aber es unmöglich ist, eines ihrer Toilettenhäuschen zu benutzen, zu groß ist die Gefahr, umgeben von den Bewohnern, hinzufallen.

Die Weiterfahrt nach Pasighat ist beschwerlich, geht aber durch herrliche Landschaften. Die letzten 15 Kilometer vor der Stadt führen über eine ganz neue Route durch unberührten Urwald, da der alte Weg im Siang-Tal oft unpassierbar war.

31.3. Donnerstag

Heute lege ich einen Ruhetag ein. Der Arzt im Government-Hospital diagnostiziert eine Viruserkrankung und verschreibt mir Antibiotika. Positiv vermerken wir, dass der Arztbesuch nichts kostet und die Medikamente nur wenige Euros.

Christa berichtet: Überquerung des Brahmaputra auf schmalem Kahn. Später mehrere dramatische Fahrten durch Flussfurten. Der Fahrer gerät in Panik und gibt Vollgas. Mehrere Erdrutsche. Wir rutschen mit heftigem Schlenkern nach links und rechts durch den Schlamm.

Besuch des Adi-Padam Dorfes Siluk: Eine Weberin mit den typischen kurzen, rund geschorenen Haaren zieht mühsam einzelne Fäden in einen Webstoff, um ihn gegen Kälte zu verdicken. Im Haus stehen die „Regenbretter“ der Adi, die durch ihre drei Lagen, zwischen zwei geflochtenen Flächen werden Bananenblätter gelegt, absolut regendicht sind. Diese „Bretter“ schützen den Kopf und den ganzen Rücken. Auf der Veranda liegen Ingwerwurzeln für den Verkauf auf dem Markt.

Im Dorf Aohali: ein Priester führt den Igu-Tanz vor. Da alle jungen Männer und auch seine Assistenten auf den Feldern arbeiten, tanzt und singt er allein, während Koj für uns Videoaufnahmen macht. Als er dem  Priester eine Flasche Rum schenkt, trinkt der den größten Teil sofort aus, zieht dann seine traditionelle Alltagskleidung an und geht aufs Feld, um zu arbeiten.

1.4. Freitag
5 Uhr Abfahrt im Halbdunkel. Nach ½ Stunde stellt der Fahrer einen Defekt im Kühlsystem fest. Rückfahrt zu einer Werkstatt. Die Reparatur dauert 6 Stunden, die wir im Hotel verbringen. Draußen regnet es.

Alle geplanten Besichtigungen müssen ausfallen, damit wir noch die offizielle Fähre am Brahmaputra erwischen. Die Fähre ist aber schon weg, so dass wir ein Privatboot zu einem überhöhten Preis chartern müssen. Zwei Überfahrten erleben wir. Zuerst werden wir zusammen mit unserem schweren Auto und einem Motorrad auf zwei miteinander verbundenen, schmalen Ruderbooten zur anderen Seite eines Flusses gerudert, dann auf einem größeren Kahn in einer Stunde über den Hauptstrom. Im Dunkeln erreichen wir das andere Ufer.

Nach 18 km haben wir die Stadt Dibrugarh erreicht. Bis zum Hotel Natraj, endlich wieder ein schmackhaftes Essen, ein lauter Generator sorgt für Elektrizität. Am Ende der Reise haben auch Christa und sogar Koj Mama Magenprobleme.

2.4. Samstag
Es dauert wieder einmal 40 Minuten, bis wir unser Frühstück erhalten, obwohl wir die einzigen Gäste sind. In solchen Situationen zweifeln wir an der Intelligenz der Inder.

Mehrere Militärposten auf der Straße weisen auf ein spezielles Problem dieser Nordostregion hin. Aus der Zeitung entnehmen wir, dass gestern an drei Stellen in Assam die ULFA, die Unabhängigkeitsbewegung, wieder aktiv war. Vor einem Hotel im Marktcenter von Guwahati explodierte eine Granate, sechs Verletzte. In der Stadt Dibrugarh, aus der wir gerade kamen, wurden ebenfalls vier Polizisten durch eine Granate verletzt. Seit dem Januar meldet die Polizei 30 solcher Vorfälle. Wegen der Wiederkehr des Tages der Erhebung am 7.4. erwartet die Polizei eine Zunahme der Attacken. In Arunachal waren wir außerhalb solcher Gefahren.

Die Fahrt zum Flughafen Jorhat  über eine breite Asphaltstraße zeigt noch einmal einige typische Probleme Indiens. Die Kommunikationswege sind nach europäischen Maßstäben völlig unzureichend. Löcher werden per Hand von Familiengruppen geflickt, kleine Stücke manchmal sogar von Maschinen, aber selbst wenn die Asphaltdecke in Ordnung wäre, dann würden die vielen Tiere, Karren und Menschen auf der Schnellstraße eine Geschwindigkeit von mehr als 80 km ganz und gar unmöglich machen. Dazu kommt ein ohrenbetäubender Lärm, weil jeder Autofahrer in Sekundenabständen hupt; auch wenn nichts vor ihm auf der Straße ist, hupt er aus Gewohnheit. Durch Jorhat geht es nur im Schritttempo vorwärts. Kein Schild verweist auf den Flughafen und die Leute schicken uns mehrfach in die falsche Richtung.

Aber dieses Fahrerlebnis wird noch gesteigert bei unserer 40minütigen Fahrt durch Kalkutta zum Hotel Lytton in der Sudderstreet. Wir erwischen als Taxi einen uralten Ambassador mit durchgesessenen Sitzen, ein Schrottauto, das von einem Fahrer gesteuert wird, der im Kampf mit Bussen und anderen gelben Taxis links und rechts überholt, mehrmals mit einer Vollbremsung zum Stehen kommt, einen Polizisten beschimpft, fast einen Unfall verursacht, weil er die kleinen Autos, die Marutis, Indicas und Tuktuks nicht Ernst nimmt, und Menschen und Tiere gar nicht sieht.

Die Stadt Kalkutta zeigt sich abstoßend hässlich. Der Schmutz, die Verkommenheit der Bauwerke, die Hütten im Abfall, die offenen Kloaken, der Lärm, die Menschenmassen wirken wie ein großes wucherndes Krebsgeschwür. Dazwischen Szenen wie diese, ein nacktes halb verhungertes Kind läuft schreiend über die Straße, eine schmutzige Gestalt krümmt sich neben einem Hauseingang, reihenweise liegen Schlafende auf den Bürgersteigen.

In der Sudderstreet halten sich viele weiße Paare auf. Frauen und Kinder verfolgen uns bettelnd. Die Autos fahren rücksichtslos auf Gehende zu. In der Bücherauslage steht Hitlers „Mein Kampf“ in einer Reihe mit dem indischen Nationalepos Mahabharata, mit der buddhistischen Lehre des Dalai Lama, dem Leben der Mutter Teresa, mit Shakespeare, Kafka, Maupassant, Tolstoi und dem kleinen Prinzen von Saint Exupery. Ein indischer Kosmos! Ein geistiges Chaos.

Das Hotel zwischen heruntergekommenen Häusern ist luxuriös. Wir duschen, essen, schlafen und fühlen uns als reiche Europäer, die das Flugzeug in der Nacht heim trägt in das saturierte, reiche Deutschland.

3.4. Sonntag
London, Frankfurt


Erinnerungen an die Tage in den Bergen Arunachals:
Regen, Kälte, blutige Opfer und nette Menschen

Reisen durch den Himalaja

Richtung Kalkutta Indien 

Worte rollen in  Durchleuchtungsmaschinen,
Düsseldorf Flughafen, British Air.
Stewardessen in Putzfrauenkitteln.
Menschenschlangen vor London-Heathrow.
In Kalkutta Anschlussflüge.

Dazwischen
Länder, in denen Phantasie erstarrt,
Berge voll Schnee in die Täler hinein,
Wälder im fahlen Licht der Neugier,
In denen Worte noch fehlen.

Zwischen den Hin- und Rückflügen
Breitet sich Zweifel aus.

Das Flugzeug aber
Nimmt sie mit, ngika oh
Schamanengebete zum Tod der Tiere,
Hält sie fest ngika oh
in blutigen Händen frische Herzen,

Bilder,
flimmernd im Dunst des Morgens:
Jorhat Airport , Indian Air,
Guerilla tötet Menschen in Assam .
Kontrolle der Pässe,
Afghanistan, Russland, Deutschland.

Worte brennen Weiß zu Schwarz

günter neuenhofer


Der Autor mit einem Nyishi

Zur Übersicht Arunachalreisen

Zur Homepage