Eine Reise durch das südliche Arunachal

21. Dezember 2003 – 06.Januar 2004


Wancho aus Bonia mit der typischen Maskentätowierung

Begegnungen mit den Volksstämmen und ihrer Kultur im östlichen Himalaya

I. Teil: In Tirap und Changlang ( 17 S., 19 Fotos)

- Bei den Noctes und Wanchos
- Einblicke in die Kultur der Wancho - Nagas
- Die Dörfer der Tangsas

II. Teil: Im unteren Dibang -Valley und in Lohit ( 16 S., 18 Fotos)

- Die Idu-Mishmis: Tiger und Affe als Brüder der Menschen, Die Rolle der Frau in der Kultur der Idus
- Bei den Digaru-Mishmis: Die magischen Rituale eines Schamanen-Priesters

III. Teil: In Assam, s. II. Teil

- Der Vishnu-Krischna-Kult in den Satras auf der Insel Majuli

Tourverlauf und Karte ( 3 S.)

I. Teil:

1. Tag, 21. Dezember 2003, Sonntag,
Frankfurt – Delhi mit Kuwait Airlines

Ein Alptraum Christas in der vorhergehenden Nacht nahm einige Schwierigkeiten der Anreise vorweg. Zug verpasst. Eine Nachzahlung der Zugermäßigung von 50% bleibt uns erspart. Das Flugzeug der Kuwait Air hat 1 Std Verspätung. Im Flugzeug sitzen wir noch 2 Std wegen technischen Schadens. In Kuwait herrscht am Transitschalter Chaos. Das Personal scheint überfordert. Der Flug wird wieder um 2 Std verschoben, weil in Delhi dichter Nebel. Dieses Szenario gibt uns einen kleinen Vorgeschmack der Schwierigkeiten, die uns beim Rückflug mit Kuwait Air erwarten.

2. Tag, 22. Dezember 2003, Montag, Delhi

Nach einer angenehmen Nacht im Luxushotel Radisson besichtigen wir bei Nebel und Kälte das sehenswerte Tribal-Museumsdorf, den Tempel des kuriosen, Alkohol trinkenden Gottes (Bhairon Mandir) und des Tribal-Marktes Dilli Haat mit vielen regionalen Speisen und kunsthandwerklichen Dingen. Wir kaufen zwei Schals, weil es immer kälter wird.


Ein Gott, dem Alkohol geopfert wird.

Unsere Reiseagentur meldet, dass es zu Schwierigkeiten kommen könne, weil die assamesische Unabhängigkeitsbewegung ULFA als Reaktion auf die militärischen Aktionen in Bhutan gegen ihre Ausbildungslager die Straßen in Assam blockiere und mit Angriffen auf Bhutanesen zu rechnen sei.

3. Tag, 23. Dezember 2003, Dienstag, Flug Delhi-Gauwahati-Dibrugarh 10 -13.40 Uhr. Autofahrt nach Dibrugarh – Khonsa

Unsere beiden Begleiter, der mongolische Rumo vom Stamm der Idu-Mishmi und der dunkelhäutige Lalan, ein Hindu aus Bihar, erwarten uns und erklären, dass die Straßen zu befahren seien und vom Militär geschützt würden. Für die Autofahrt von Dibrugarh nach Khonsa, 126 km, benötigen wir fünf Stunden. Vor der Grenze zum Tirap verläuft die Straße durch einen imposanten Urwald, aber sie wird auch fast unbefahrbar schlecht. 19.30 Uhr sind wir in Khonsa, der Bezirkshauptstadt von Tirap, dem Zentrum der kriegerischen Nocte-Nagas (Nocte = Dorfleute), die zwischen den Wanchos im Süden und den Tangsas im Norden siedeln. Die Bezirkshauptstadt dehnt sich etwa 3 km zwischen den Hügeln aus und liegt 1278 m hoch.

In diesem Land der aufgehenden Sonne geht die Sonne jetzt schon um 16.30 unter. Dann ist es dunkel und die Nachtkälte, die unter 10° liegt, legt sich über das Land. Unterwegs werden unsere speziellen Einreisepapiere, die für 10 Tage gelten, zweimal kontrolliert.

Das Circuit House, in dem wir übernachten, liegt 810 m hoch. Die Zimmer sind groß, kalt, schmutzig. Gottseidank gibt es hier Elektrizität, so dass wir hier nicht wie im Nagaland nur Kerzenlicht haben.

4. Tag, 24. Dezember 2003, Mittwoch,
Autofahrt nach Khonsa - Ngissa - Wakka und zurück


Christa zeigt einem Wancho mit Tigerzahnkette beim Weihnachtsfest in Ngissa die Fotoperspektive.
Der Wancho im Hintergrund führt mit Bärenfellhaube, Wildschweinhauern, Nashornvogelfedern und Bambusspitzen in den Ohren einen Tanz vor.

Bei den Nocte und Wancho
Einblicke in die Kultur der Wancho – Naga

Khonsa ist das Zentrum der Nocte, die wie alle Nagastämme im frühen Mittelalter von Myanmar her eingewandert sind. Der Nagastamm der Nocte wohnt zwischen den Wancho und den Tangsa, die ebenfalls zu den Nagastämmen zählen. Das Wohngebiet ist, wie meist in Arunachal, durch zwei große Flüsse begrenzt, den Tisa und den Tirap.

Wir sind besonders an der Kultur der Wancho interessiert, die noch sehr traditionell in ihren abgelegenen Dörfern im Grenzbereich zu Myanmar und dem Nagaland leben. Die Wanchos haben eine Vierklassengesellschaft. An der Spitze steht der Königsclan, die Wangjans. Die unterste Schicht bilden die Wangpan, die Diener. Durch Heirat zwischen den Schichten entstehen die beiden Zwischenklassen.

Berühmt wurden die Wanchos von Nginu 1875 durch ein Massaker an einem Vermessungstrupp, bei dem sie einen britischen Leutnant und 80 Begleiter töteten, weil nepalesische Soldaten über die Grabfigur des gerade verstorbenen Königs gelacht und sie geschlagen hatten. Einen Monat später rächten die Briten die Tat, zerstörten das Dorf und nahmen die Köpfe der Getöteten mit. Im folgenden Jahr brannten sie das Dorf noch einmal nieder.

Die schmale Straße kurvt zwischen 250 und 1620 m durch schöne Gebirgslandschaft. Später fahren wir zwischen waldlosen Hügeln, die zeigen, dass hier der Wald abgebrannt und der Boden mit Grabstöcken bestellt wurde. Bald werden die Hänge steiler, zu steil für eine Brandrodung. Die Berge liegen gestaffelt in mehreren Reihen hintereinander, ganz anders als im sanft hügeligen Nagaland. Über Tisa, eine kleine Siedlung an einem Flussübergang, kommen wir nach Ngissa. Hier sehen wir erstmals halbnackte Männer vom Stamm der Wanchos mit einem Gürtel aus Rattan, von dem ein schmales Tuch als Schurz herabhängt. Ihre Bambushäuser bilden ein lang gestrecktes Rechteck, in denen meist etwa 10 Personen leben. Die fensterlosen Räume haben unterschiedliche Böden. Die ersten Räume mit einem Reisstampfbrett und mit einem offenen Kochfeuer haben einen harten Lehmboden, während der leere Schlafraum einen Schwingboden aus Bambusmatten hat.


Wakka liegt wie die meisten Wancho-Dörfer an mehreren Steilhängen

Unser Ziel Wakka liegt am Ende der Straße, 1350 m hoch. Von hier aus führen nur noch Schmuggelwege nach Myanmar. Die Wanchos sprechen das Wort Wakka anders aus. Sie sagen Gakka, was von ka-ka kommt und den Siedlungsplatz beschreibt, „ein sehr hoch gelegenes Land voller Steine und lockerer Erde, die leicht erodiert“.

Wakka wirkt sehr imposant. Man sieht etwa 700 große Bambusdächer, die rundum fast bis zur Erde reichen. Häuser liegen am steilen Hang eines halbrunden Tales übereinander. Kinder holen in dicken Bambusröhren, die sie auf dem Rücken tragen, Wasser von einer Wasserstelle, während ältere Mädchen in ihren Kiepen Brennholz herbeischleppen. Mit einem Jungen, der etwas Englisch kann, wandern wir durch das Dorf.

Hier gibt es sieben Morungs, Schlafhäuser für die männliche Jugend, in denen noch jede Nacht Jungengruppen schlafen. Früher waren diese Häuser Einrichtungen, in denen die Traditionen weitergegeben wurden und in denen sich während der Kopfjägerzeit eine ständige Wachmannschaft aufhielt. Von der Pubertät ab mussten die Jungen hier schlafen und auch den Wachdienst versehen. Die christlichen Missionare haben dieses Schlafen in Gruppen verboten. Deshalb ist diese traditionelle Benutzung der Morungs ungewöhnlich.

Morung alt und neu

In einem Morung befindet sich immer noch eine große Schlitztrommel, die mit Schlagstöcken bei einem Angriff bearbeitet wurde oder auch andere Nachrichten an die Dorfbewohner übermittelte. Heute dient sie zur Verkündigung der Ankunft einer wichtigen Person, eines Begräbnisses oder des Beginns der Nachtruhe für die Jungen, die im Morung schlafen. Die mittleren Trägerbalken und Querbalken sind meist mit Schnitzereien geschmückt, z.B. menschliche Figuren, Tiger, Reh, Schlange oder Kröte. An den Wänden hängen die Schädel von Mithuns, Wasserbüffeln und Rehen. Auf dem Boden befindet sich immer eine offene Feuerstelle. Zu unserer Überraschung werden wir in einen Morung mit etwa 30 Menschenschädeln geführt, die vor etwa 60 Jahren von den ehemaligen Kopfjägern als Beweis ihrer Mannbarkeit und zur Erhaltung der Fruchtbarkeit von Mensch und Feld ins Dorf geholt worden waren. Das Vorhandensein der Kisten mit Menschenschädeln ist ungewöhnlich, weil die Missionare die Bewohner meist dazu gebracht haben, von dem Glauben an die Kraft eines Kopfes zu lassen und alle Schädel zu beerdigen. Diese Morungs dürfen meist nicht von Mädchen und Frauen betreten werden. Die Mädchen haben private Versammlungshäuser, in denen sie sich mit Jungen treffen und auch in der Nacht schlafen.

Eine weitere Überraschung bedeutet der Friedhof, eine Waldecke am Rand des Dorfes, wo viele kleine, offene Bambushütten stehen, in denen eine Holzpuppe als Bild des Verstorbenen steht. Diese Holzpuppen tragen den gesamten traditionellen Schmuck, die Kleidung, die Waffen und andere nützliche Dinge aus dem Leben des Verstorbenen. Das Gesicht trägt sogar seine Tätowierungen. So kann jeder sehen, welche Ehre ihm im Leben zuteil geworden ist und welches Ansehen er auf Grund erfolgreicher Kopfjagden und von Festgelagen genossen hat. In einem Fall liegen vor einer Hütte auf einem niedrigen Gestell zwei geschnitzte Köpfe, die von Pfeilen durchbohrt sind, um die Seelen der Getöteten von einem unheilvollen Besuch abzuhalten.


Totenpuppe und Foto eines Jungen auf einem Grab in Wakka

Nach dem Tod wird dem Verstorbenen entsprechend der Tradition das Haar kurz geschnitten, der Körper gewaschen und nach Möglichkeit neu gekleidet, Reisbier, Reis und andere Nahrungsmittel werden ihm gegeben. Bevor die Leute den Leichnam zum Friedhof bringen, sagen sie

Der Vater deines Vaters ist dort. Du wirst all deine Vorfahren treffen. Du hast einen Bär getötet, du warst ein Kopfjäger, du hast Schweine getötet. Du nimmst mit dir all das, was du hier gegessen hast. Nimm alles, was du hier gehabt hast. Du hattest viele Dinge. Nimm sie alle mit. Was du nicht im Leben bekommen hast, lass dies für uns zurück. Lass uns Rehe, lass uns den Kampf mit Menschen. Lass uns eine reiche Ernte und viel Reis fürs Reisbier.
(nach P.Dutta)

Dem Verstorbenen wird solange ein Teil jeder Mahlzeit gegeben, bis der Schädel wieder ausgegraben, gereinigt und in ein rotes Tuch eingewickelt unter einem Stein beerdigt worden ist. Diese Schädelbeerdigung wird mit einem großen Fest begangen, bei dem gekochte Fische und Reis dem Schädel gebracht werden mit den Worten

Wir geben dir dies; iss und verlass uns, o Lumpu – Seele. Geh und kehre nicht wieder, auf dass wir dich nicht mehr wiedersehen.

Wir konnten nicht in Erfahrung bringen, inwieweit diese Riten heute noch durchgeführt werden. Aber dieser „alltägliche Umgang“ mit menschlichen Schädeln befremdet Menschen aus westlichen Kulturen doch sehr. In einigen Dörfern wurden oder werden die Schädel jedes Jahr aus den Behältern wieder entnommen und ihnen Reisbier und gekochte Nahrung gegeben. Heutzutage scheinen die Wanchos und andere Nagastämme als Ersatz für menschliche Schädel Tierschädel zu nehmen. Im Nagaland hängen an der Vorderfront des Hauses oft Dutzende von Büffel- oder Kuhschädeln. Hier bei den Wanchos hängen die Schädel meist in allen Größen an den Innenwänden.

Neben den traditionellen, „heidnischen“ Totenhütten stehen auch christliche. In ihnen liegt ein weißes Tuch mit einem roten Kreuz auf dem Boden. An den Wänden hängen auch Kleidungsstücke, und z.B. Medizinfläschchen und Bilder aus der Schulzeit. Die verstorbenen Baptisten haben auf der anderen Seite des Weges ganz schlicht niedrige Steine mit Inschriften aufgestellt. Die Gräber zeigen, dass die Sterblichkeit der Mädchen weitaus größer ist als die der Jungen, denen sicherlich mehr Aufmerksamkeit zuteil wird.

Die Naturreligion der Wancho und der Nocte ist sehr ähnlich. Sie glauben an das höchste Wesen Jauban. Es wohnt in der Erde und hat zwei Seiten. Seine gute Seite bringt Glück und Reichtum hervor und die böse Seite Leid und Elend. In einem Ritual, das meist zweimal jährlich durchgeführt wird, rufen die Priester den Gott Jauban mit folgenden Worten an.

Oh Jauban, wir geben dir Reisbier, bleibe an deinem Ort und komm nicht zu unserem Dorf und füge uns nichts Böses zu. Wir bleiben an unserem Ort in unseren Häusern. Bleibe du an deinem Ort. Sei zufrieden mit diesem Reisbier und gib uns eine gute Ernte und tu uns Gutes.

Oh Jauban, geh zu dem Dorf, wo die Menschen rote und weiße Tücher tragen. Wir haben kein Tuch hier. Deine Frau und deine Kinder rufen dich, bitte geh. Hier gibt es kein Salz. Wir nehmen nur Mais. Geh zu einem anderen Ort, du wirst reichlich zu essen bekommen. Hier sind die Nocte-Berge. Hier gibt es nichts. Geh nach Assam. Vieles gibt es dort. Hier ist alles sehr schwierig. (frei nach P.Dutta, The Noctes)


Mann aus Niausa mit Gesichtstätowierungen und Ohrpflock

Die älteren Menschen tragen hier noch die traditionellen Tätowierungen. Besonders die Frauen mussten sich in ihrem Leben mehrfach der sehr schmerzhaften Prozedur des Einritzens der Haut mit einem Dorn unterziehen. Diese Tätowierungen geben Auskunft über die Clanzugehörigkeit, die Lebensstufen und den sozialen Status. Eine Häuptlingsfrau hat zahlreichere und kompliziertere Muster als andere. Insgesamt musste sich eine Frau viermal tätowieren lassen, meist von einer Häuptlingsfrau. Zum ersten Mal im Alter von 6 oder 7 Jahren aus Anlass der Verlobung wird ein Kreuz über den Nabel tätowiert. Beim Erreichen der Pubertät wird die Wade mit geraden oder Zickzacklinien geschmückt. Bei der ersten Schwangerschaft oder beim Zusammenleben mit einem Mann werden oberhalb des Knies senkrechte Linien angebracht. Die letzte Tätowierung erfolgt im 7. Monat der Schwangerschaft oder nach der Geburt des Kindes. Das Zeichen ist ein M in drei Linien oberhalb der Brust.


Die Königin von Niausa zeigt uns ihren Schmuck, die Perlenanhänger im oberen und unteren Ohr, ihre Perlenkrone und die Strichtätowierungen an den Beinen.

Nach dem Einritzen des Musters mit einem Dorn wurde Russ oder Asche in die blutende Haut eingerieben. Nach drei Tagen wurden dann zerstoßene Blätter eines bestimmten Baumes über die Wunden gelegt. Erst nach 25 Tagen etwa konnte der Tätowierte wieder seinen alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Die Tätowierungen bei Männern zeigen immer ihren sozialen Status und ihre Erfolge als Kopfjäger an. Bei den jüngeren Naga findet sich dieser Brauch nicht mehr. Wenn die letzten Alten in einigen Jahren gestorben sein werden, dann sind ganz wichtige Teile der Nagakultur nur noch auf Fotos zu sehen. Die alten Wanchos sind sich dieser Tatsache bewusst und zeigen die Tätowierungen voller Stolz und lassen sich gerne fotografieren.


Der König von Ngissa zeigt uns seine Tätowierungen auf der Brust und seine Kopfkette, Zeichen erfolgreicher Kopfjagden.

Zuerst wussten wir nicht, sehen die Zähne einiger Frauen vom Betelkauen so dunkel gefärbt aus oder sind die Zähne schwarz angemalt worden. Inzwischen wissen wir, dass sie ihre Zähne mit einem Saft aus gebackenen Bambusstangen lackartig schwärzen. Diese Sitte haben die Naga von den Assamesen übernommen, die diese Sitte wie auch die Männer der Naga nicht mehr ausüben. Wir haben jedenfalls bei den Wancho nur alte Frauen gesehen, die beim Lachen ihre schwarzen Zähne zeigten.


Die Königin von Ngissa färbt die Zähne schwarz.

Fast alle Stammesangehörigen haben rote Münder, rote Zähne und rote Lippen vom Kauen der Droge Betel. In kleinen Bambusbehältern, die auch mal als Ohrschmuck dienen, oder in Blättern eingewickelt tragen sie Stückchen der Areca-Nuss, Betelblätter, Kalk und Sali, eine Kriechpflanze aus dem Dschungel, die sie an Stelle der Areca-Nuss verwenden, bei sich. Diese Mixtur wird von Alt und Jung gekaut. Zwischen den Jugendlichen gilt das Schenken von Sali als eine Liebeserklärung.


Betel kauende Frau aus Wakka mit roten Zähnen

Der Wancho wird geboren mit Alkohol im Mund und stirbt auch so.

Eine andere Droge, die ebenfalls tagtäglich genommen wird, ist das selbst gebraute Bier aus Reis, Hirse oder Tapioka. Viele Ältere leben, wie unser Guide sagt, vom Reisbier. Bei religiösen Zeremonien, bei Besuchen, bei Hilfeleistungen und bei gemeinsamen Arbeiten wird immer Reisbier erwartet. Mehrmals mussten wir ein Glas kosten. In den Häusern gibt es einen hinteren Bereich, wo immer Reisbier hergestellt wird. Der Reis wird gekocht, Hefe hinzugefügt, am nächsten Tag Wasser zugesetzt und am dritten Tag wird der Alkohol herausgefiltert. Danach wird wieder Wasser zugesetzt und am nächsten Tag gefiltert. Die dritte Pressung ist die schwächste. Die Reste bekommt das Schwein oder sie werden selbst gegessen. Die Herstellung des Tapioka Biers ist ähnlich. Immer wieder sehen wir, wie der Großvater oder die Hausfrau auf der Terrasse sitzen und Tapioka-Wurzeln in kleine Stücke schneiden, die gekocht und zwei Tage fermentiert werden.

Die Feste drehen sich meist um den Anbau von Hirse und Reis. In Wakka werden 16 Feste gefeiert, zur Bestimmung eines neuen Brandrodungfeldes, zum Abschlagen der Bäume und Sträucher, zum Säen, zum Bau von Feldhütten, zum ersten Wachsen, beim Erscheinen der ersten Blätter, zum ersten Essen der Körner, bei der ersten Ernte, beim Abmähen, beim Heimbringen der Ernte usw.. Beim Essen der ersten Hirse wird von einer alten Frau eine Nachtzeremonie abgehalten, bei der Reis, Reisbier und Fleisch geopfert werden. Während sie das Reisbier auf die Feuerstelle schüttet, sagt sie:

O Feuerstelle, o Kochtopf, du sollst keinen Hunger verspüren, dein Magen wird immer voll sein. Du bist größer als die Familienmitglieder. Trockenreis, Arum, Hirse werden sich nicht so schnell erschöpfen. Das wird weiterhin so sein.

Da die nächste Krankenstation und der Arzt weit entfernt sind, und fast alle Volksstämme glauben, dass Krankheit von bösen Geistern, speziell vom Erdgott oder vom Himmelsgott, verursacht worden ist, gehen die Bewohner zum Medizinmann, der zusammen mit dem Priester den Geist identifizieren soll, der die Krankheit verursacht hat, um ein entsprechendes Opfer zu verrichten. Der Priester bewegt sich mit einem Hühnchen um den Kranken. Dann untersucht er die Hühnchenleber und befestigt sie mit einem Bambusspieß an das Dach des Hauses.

Ein altes schamanistisches Ritual bei Kopfschmerzen besteht darin, dass Eierschalen zu Puder zerstoßen werden und dann über die Stirn gerieben werden. Bei Magenschmerzen wird etwas Opium mit Wasser gemischt und getrunken. Bei sehr starken Magenschmerzen werden drei Kieselsteine in einem mit Wasser gefüllten Bambusrohr kräftig geschlagen. Dieses Wasser wird dann als Medizin getrunken. Bei Gelenkschmerzen kann eine Paste aus bestimmten Dschungelblättern und Exkrementen von Hühnern gründlich in die Gelenke eingerieben werden bzw. sollen Stücke von einem Trockenfisch und Fleischteile von Mithun und Schwein in eine mit Wasser gefüllte Bambusröhre gegeben werden. Dann sollen noch drei kleine heiße Steine hinzugefügt werden und alles geschüttelt werden. Danach soll der Kranke den Dampf inhalieren. Bei Husten nehme man einige Stücke Ingwer und einige Körner schwarzen Pfeffers. Bei Fieber eine Hühnerbrühe mit Salz. Bei Lepra kennen sie nur die Abtrennung des Kranken von den Gesunden. Keiner soll mit ihm essen und trinken. Gegen diese Haltung wenden sich viele Plakate in der Bezirkshauptstadt mit den Hinweisen, dass Lepra nicht ansteckend und heilbar sei.

Auf einem niedrigen Bergrücken gegenüber dem Dorf Wakka befindet sich ein Militärlager. In dem Inspektorhaus vor dem Dorf wärmen wir unser vorbereitetes Essen auf. Von hier aus geht der Blick über einen Berg auf die höheren Berge in Myanmar. Dort auf der anderen Seite der Grenze leben ebenfalls Wanchos. Mehrere Dörfer wurden von den Leuten aus Wakka gegründet und sind noch heute dem König von Wakka tributpflichtig. Mit dem Dorf Takan gibt es einen regen Grenzhandel über schmale Pfade. Von Wakka aus werden Salzblätter nach Myanmar gebracht und von dort Kleider und Opium mitgenommen.

Circuit House, Khonsa.

5. Tag, 25. Dezember 2003, Donnerstag. Weihnachten.
Autofahrt nach Khonsa – Tupi – Longo – Tisa – Ngissa – Longding (1000 m)

Das Weihnachtsfrühstück ist so widerlich wie alle Tage: wieder Eier mit pappigem Toastbrot und übersüßer Marmelade. Christa schenkt unserem Guide und dem Fahrer je eine chinesische Teetasse. Es erfolgt keinerlei Reaktion, kein Dankeschön, kein Wort. Es war wohl ein verfehltes Geschenk.

Auf dem ersten Teil unserer Fahrt durch Nocte-Dörfer sehen wir am Giebel einiger Häuser Papierlaternen in Sternform. Sie weisen auf das christliche Weihnachtsfest und auf christliche Bewohner hin. Bereits im ersten Dorf Tupi treffen wir auf Männer, die gerade einen Büffel geschlachtet haben und auf einer Terrasse das Fleisch zerteilen, während die Frauen Gemüse für das Mahl vorbereiten. Hier trifft unser Guide einen Mitschüler wieder, der ebenfalls in der katholischen Internatsschule gelernt hat und Katholik geworden ist. Die religiöse Toleranz der Stämme zeigt sich in dem Nebeneinander verschiedener Religionen, christlicher Sekten und des traditionellen Kultes. In einem Haus sehen wir einen Hausaltar, auf dem sich neben magischen Flüssigkeiten und einem Bild des Hindugottes Krischna mehrere Bilder der christlichen Gottesmutter und des göttlichen Sohnes befinden. Unser Guide erzählt, dass seine Eltern noch Anhänger des traditionellen Stammeskultes seien, er aber Katholik. Jeden Morgen können wir beobachten, wie er vor der Abfahrt im Auto ein Gebet spricht und ein Kreuzzeichen macht. Dieses Dorf kenne er bereits, weil er vor 10 Jahren in diesem Dorf gepredigt habe. Das Dorf sei seit 11 Jahren katholisch. Begleitet von den Honoratioren gehen wir durch das Dorf bis zu den neu angelegten Teegärten des reichsten Mannes. Dieser gut gekleidete Mann bewohnt natürlich nicht mehr eine Bambushütte, sondern ein festes, kaltes Betonhaus mit Licht und Fernseher. Vor dem Haus hat er sogar einen Spielrasen und einige Blumenbeete. Ganz ungewöhnlich für diese Gegend.

Auch in Longo, dem nächsten Dorf, mischen sich die Religionen. Oberhalb der Straße wohnen vorwiegend Katholiken und unterhalb im alten Ortsteil wohnen Baptisten. Hier geraten wir wieder in umfangreiche Vorbereitungen für das Weihnachtsessen. In großen Töpfen wird Schweinefleisch gekocht, während nebenan von einer kleinen Bühne laute unweihnachtliche Musik ertönt. Man wartet auf den Prediger und lädt auch uns zur Feier ein. Wir wollen aber lieber das alte intakte Dorf mit den großen breiten Palmdächern ansehen. Wie traditionell üblich treffen wir am Dorfeingang auf den Friedhof. Die Gräber sind mit einem Bambuszaun umgeben, haben aber keine Dächer wie in Wakka und auch keine Totenpuppen. Ein Grab tut sich dadurch hervor, dass hier die gesamte Garderobe des Mannes auf Bügeln hängt, und ein Koffer, ein roter Plastikstuhl und ein Hut mit zwei Nashornvogelfedern seine kostbare Hinterlassenschaft vervollständigen.

An dem Flussübergang in Tisa machen wir halt und unsere Mannschaft wärmt unser übliches Mittagessen auf. Auf der Straße kaufen wir von einer alten Frau einige Mandarinen hinzu. Ein alter Nocte, vielleicht auch ein Wancho mit knappem Schurz taucht auf, zeigt immer wieder auf Christas Jeans. Er meint wohl, Frauen benötigen keine Hose, aber er. Wir geben ihm eine Mandarine, dann zieht er weiter. Hier in Tisa, am größten Fluss der Region, beginnt das Siedlungsgebiet der Wanchos.

Etwa ab 1956 wurden die ersten befahrbaren Wege gebaut und das Wancho-Gebiet mit den Ebenen von Assam verbunden. Bis dahin gab es nur den Naga-Dorfpfad. Reisende mussten häufig Flüsse überqueren, was am ehesten in der trockenen Winterzeit möglich war.


Wancho-Haus in Ngissa mit den typischen "Dornen" auf dem Schildkrötendach, die nach unten gezogen werden, wenn das andere Ende verfault ist.

Das Dorf Ngissa haben wir bereits am Vortag kurz betreten. Dieser erste Besuch war so eindrucksvoll, dass wir uns das Dorf noch einmal genauer ansehen wollen. Die Häuser liegen mit tief herunter gezogenen Palmdächern mit runden Rücken am Steilhang. Wir steigen zunächst hinauf zum Haus des Königs, das auf der höchsten Anhöhe liegt. Dort treffen wir auf die Königin, die uns ins Haus lässt, für ein Foto ihren Schmuck anlegt und einige Tanzbewegungen macht, bevor sie wieder verschwindet. Ihr Sohn führt uns dann zum Dorfplatz, wo sich das ganze Dorf versammelt hat. Vor uns sitzen auf der einen Seite der König und die Alten, z.T. auf Stühlen. Ihnen gegenüber sitzen in vier Reihen die Jüngeren. Im Hintergrund werden neben mehreren Feuern Fleisch und Reis in kleine Bananenblätterpakete gepackt, eine Spende der katholischen Kirche. Nachdem wir auf der linken Seite des Königs Platz genommen haben, wird über Lautsprecher ein Gebet gesprochen und dann dürfen die Pakete geöffnet werden. Auch wir bekommen grüne Pakete, aus denen wir aber mit Rücksicht auf unsere Mägen nur einige Körner Reis entnehmen.

Der König und die Riege der alten Männer haben nichts dagegen, dass wir sie fotografieren. Die meisten Männer tragen einen oder zwei Tigerzähne an einer Halskette, manche einen Messingkopf, ihr Schlagmesser, eine Bärenfellmütze mit Wildschweinhauern und eine Tätowierung auf der Brust. Der König entblößt sogar seine Brust, damit wir seine Tätowierung fotografieren können. Da die Männer meist nur eine zerrissene Jacke als Oberbekleidung tragen, unter denen ein blauer Schurz und nackte Beine verraten, dass sie im Alltag wohl ohne „Sonntagsjacke“ noch fast nackt herumlaufen, wirken sie auf uns wie eine wilde, verlotterte und ausgehungerte Mannschaft, die seit Jahren auf einer einsamen Insel ohne jeden Kontakt zur übrigen Welt überlebt hat. Eine bestimmende Rolle spielt bei diesem Fest ein Politiker mit schwarzer Lederjacke, eine Karikatur wie aus einem Gangsterfilm entsprungen, der vielleicht als Weihnachtsmann mit seinem Motorrad zur Weihnachtsfeier des Dorfes angereist ist, um ihnen die neuen Schönheitsideale der Kinohelden vorzuführen.

Bekenntnisse eines „indischen“ Wancho

In Longding, dem Handelszentrum der Wancho kommen wir erst gegen Abend an. Während wir im ungemütlichen Circuit-House ruhig unseren schwarzen Tee schlürfen, drängt sich ein Einheimischer mit zwei Begleitern in unser Zimmer. Dreist und unbekümmert setzen sie sich auf unser Bett, und er verkündet uns seine politische Weltanschauung. Er sei stolz ein Inder zu sein. Hier im indischen Staat habe er seine Heimat, hier gebe es die wahre Demokratie. Wo gebe es eine solche Toleranz. Alle Religionen existierten hier nebeneinander. Er z.B. sei Anhänger der animistischen Religion. Er glaube an einen bösen und an einen guten Gott. Beiden werde hier geopfert, Ingwer und Reiswein. Das sei ähnlich wie bei den Apatanis und den Adis im nördlichen Arunachal. Aber es sei keine Sonne-Mond-Religion. Früher sei er Vertreter der All Arunachal Student Bewegung gewesen. Dabei drückt er uns seine Visitenkarte in die Hände. Er sei stolz ein Inder zu sein. Betont er zum wiederholten Mal und zeigt auf die indischen Farben an seiner Jacke. Dann holt er weiter aus, erzählt von Russland als Freund Indiens und beteuert, er wolle Thailand und Europa besuchen und natürlich auch uns. Darauf will er unsere Visitenkarte haben. Seine dösenden Begleiter nicken kräftig mit dem Kopf zu seinen Beteuerungen. Offensichtlich haben alle schon kräftig dem Reisbier zugesprochen. Ihre Ausdünstungen sind recht unangenehm. Einer der Begleiter geht ganz selbstverständlich in unser Badezimmer und spuckt seinen Betelsaft dort auf den Boden. Erst als sie gegangen sind, können wir wieder durchatmen.

Die kalte Nacht mit Temperaturen um 5° bricht an. Wir kriechen in unsere Schlafsäcke und vermeiden jeden Kontakt mit den versifften, stinkenden Matratzen und Decken.

6. Tag, 26. Dezember 2003, Freitag,
Longding – Niausa – Pongchao – Bonia – Longding

In den Dörfern an der Grenze zu Myanmar

Zwischenstopp in Niausa. Wir steigen einen steilen, glitschigen Pfad hinauf, betreten Langhäuser und kommen zu einem Friedhofshügel mit einem alten heiligen Baumriesen. Im unteren Teil des Friedhofes befinden sich christliche Gräber mit englischen Inschriften. Im oberen Teil befinden sich die traditionellen Gräber mit Portraitpuppen ähnlich wie auf dem Friedhof von Wakka. Daneben stehen aber viele Steinplatten, unter denen sich wohl die Schädel der Verstorbenen befinden und Steinröhren und Metallkoffer mit deren Besitz. Auf dem höchsten Punkt steht wieder das Langhaus des Königs. Als wir ihn fotografieren wollen, besteht er darauf, dass wir ihn vor dem einzigen Wellblechschuppen des Ortes fotografieren. Er ist der Versammlungsraum der Ältesten und das „modernste“ Gebäude des Dorfes. Dass er nur einen blauen Schurz trägt, stört ihn nicht. Sein Gesicht und sein Oberkörper zeigen die Tätowierungen des erfolgreichen Kopfjägers.

Der alte Versammlungsraum befindet sich in dem Bambus-Morung gleich daneben. Hier befinden sich noch die Schädelsammlungen aus Kopfjägerzeiten und zwei Schlitztrommeln. Christa darf dieses Haus nicht betreten. Die Schädel werden in einem Gestell mit zwei Kisten aufbewahrt, oben die männlichen und unten die weiblichen Schädel.


Schädel aus Kopfjägerzeiten im Morung von Niausa

Vielleicht hängt das Selbstbewusstsein des Wancho-Königs mit dem Bewusstsein der Stärke zusammen, das ihm die vielen Menschenschädel geben. Auch seine Frau lässt sich gerne fotografieren, nachdem sie ihren Schmuck angelegt hat und wir versprochen haben, ihr ein Foto zuzusenden.

Von hier aus haben wir einen freien Blick über die Berge in alle Himmelsrichtungen. Weiter unterhalb dieses Feldherrnhügels liegt ein Versammlungshaus der Baptisten. In diesem Dorf scheint es den christlichen Missionaren noch nicht gelungen zu sein, die alte Tradition zu zerstören und als Zeichen des Sieges die Kirche an der höchsten Stelle zu bauen.

Bei der Weiterfahrt lösen sich plötzlich Steine aus dem Steilhang. Ein großer Felsbrocken trifft unsere Kühlerhaube. Kleinere Steine schlagen kleine Löcher in die Windschutzscheibe. Unser Fahrer will halten, aber der Guide schreit „weiter, weiter“. Glück gehabt!

Die Endstation dieser Tagesfahrt ist Pongchao, ein Grenzdorf zu Myanmar. Hier endet der Fahrweg. Zuerst sind wir vom Ort enttäuscht. Wir sehen nur Wellblechhütten und ein Militärlager. Hier „verteidigt“ Indien wie an fast allen Grenzen des Landes sein Territorium. Zum Süden hin sind über zwei Hügelketten Häuser des Nachbarstaates Nagaland sichtbar. Nach einer Mahlzeit im Circuit-House, - diesmal bekommen wir zur Abwechslung einen kleinen grätenreichen Bratfisch, - fahren wir zur alten Siedlung Pongchao. An einem Steilabhang gebaut, besteht sie noch aus traditionell gebauten Langhäusern. Bald wird sie aber ihr Gesicht verändern, denn es findet gerade, als wir eintreffen, auf dem Festplatz eine Versammlung statt, die über die Finanzierung einer großen Baptistenkirche berät.

Durch das Dorf führt uns ein Student, der in Madras, Südindien, Theologie studiert und als „Master of DIvinity“ zurückkommen wird. Unser Weg führt uns wieder zu dem Königshaus. Es ist ein besonders großes Haus, weil der König hier mit 20 Frauen wohnt. Jede Frau hat einen abgeteilten Bereich mit einer Feuerstelle. Nur der König hat das Recht mehrere Frauen zu heiraten. Diese Frauen sind im Grunde nur Arbeitstiere, die auf den Feldern arbeiten, Feuerholz sammeln, Dschungelblätter und Wasser holen und Kinder kriegen. Die Hauptfrau des Königs muss eine Königstochter aus einem anderen Wancho-Dorf sein. In den Kopfjägerzeiten gehörte sie oft zu den Feinden. Die zweite wichtige Frau stammt aus dem eigenen Dorf. Sie ist für das Kochen zuständig und sie bewacht sein Eigentum.

In einem zweiten Königshaus wohnt ein leidenschaftlicher Jäger. Die vielen Tierschädel an den Wänden beweisen es. Neben seiner Feuerstelle hängt das Fell eines Leoparden. Die Pfoten hängen gesondert an dem Trockengestell über dem Feuer, daneben Affenschädel, Köpfe von Nashornvögeln, Schwänze, Tierkrallen. Vor dem Haus steht noch der Y-förmige Pfosten, an dem früher bei Opferfesten der Büffel angebunden und getötet wurde. Vom Morung dringen die hohlen Klänge einer Schlitztrommel herüber. Verkünden sie Tod und Begräbnis oder die Ankunft eines Politikers?


Der Kleine aus Pongchao trägt als Amulett einen Kopfjägerchmuck, Messingköpfe mit Fischschwänzen.

Auch in Bonia, dem dritten Dorf, sehen wir keine Menschen. Wahrscheinlich sind sie irgendwo bei einer Festmahlzeit. Kinder tauchen auf und verstecken sich schnell, eine Frau schaut verstohlen um eine Hausecke, vor einem Haus steht ein Mithun, ein tätowierter Wancho mit einem Baby auf dem Rücken erscheint. Wir nähern uns dem Haus, treten vorsichtig in das dunkle Zimmer. Ein Feuer flackert auf, so dass wir verrußte Bilder, ein Radio, alten Schmuck und schwarze Körbe erkennen können. Ein Mann tritt auf uns zu. Wir sollen uns ans Feuer setzen. Nach einiger Zeit erklärt der Eigentümer, er wolle ein neues Haus bauen, deshalb habe er schon ein Gewehr verkauft. Das Mithun soll deshalb geopfert werden. Sein Vater habe früher mehrere Tiere geopfert. Er fragt, ob wir das Kopfjägerzeichen seines verstorbenen Vaters kaufen wollen. Er holt eine Kette mit einem großen Messingkopf herbei. Sie sei wohl 7000 Rs wert, er wolle nur 2000. Wir geben ihm 1500 Rs (knapp 30 €). Dann erzählt er, dass er aus dem Nagaland stamme. Seine Onkel wohnten noch dort. Aber es gebe keinen Kontakt. Vier Frauen habe er gehabt. Als Jugendlicher habe er sich schnell verguckt. Drei der Frauen hätten ihn aber verlassen, weil sie sich dauernd gestritten hätten. Während wir uns über den Dolmetscher unterhalten, stampft seine Frau im Nebenraum Reis.

Abends im Circuit-House von Longding ist es wieder sehr kalt. Wir haben im Wine-Shop eine kleine Flasche mit indischem Whisky gekauft, der gut schmeckt und uns wärmt. Es ist sogar möglich ein Bier extra strong zu bekommen. Als das Licht mehrmals ausgeht, bringt jemand sogar eine Petroleumlampe. Wir zünden zusätzlich unsere schönen lila Kerzen an, so dass der kalte, trostlose Raum um uns herum verschwindet.

7. Tag, 27. Dezember 2003, Samstag,
Longding – Changlang (490 m)

Unsere Fahrt zu den Naga von Changlang

8 Uhr Abfahrt, schönes Wetter, wundervolle Landschaft, bis Tisa Blick über mehrere Bergketten, ab Khonsa und Borduria viele Teegärten an den Steilhängen. Die Straße ist fast 50 Jahre alt und besteht nur noch aus Asphaltbruchstücken. In Khonsa steht ein Denkmal für die Straßenbauer. Unser dritter Versuch, das Museum in Khonsa zu besuchen, schlägt wieder fehl, weil es nicht nur an Feiertagen, sondern auch samstags geschlossen ist.

Im flachen Grenzgebiet von Arunachal finden sich Zeugen verschiedener Religionen. Während wir in den südlichen Bergen nur auf christliche und animistische Zeugen trafen, findet sich hier ein islamisches Grab mit Wunschbaum als Pilgerzentrum und ein großes hinduistisches Erziehungszentrum der „Ramakrischna-Mission“ mit Kaffeeplantagen, und im nördlichen Bereich gibt es hier auch das buddhistische Volk der Singpos. Auffällig ist die Nachahmung des christlichen Kirchenbaustils und des Begriffs Mission durch die Hindu.

Nach dem Überqueren der Grenze zu Assam wird die Straße noch schlechter, aber der Wald mit den hohen Bäumen und dem dichten Unterholz immer urwaldähnlicher. Als wir wieder über die Grenze nach Arunachal in den Distrikt Changlang wollen, versetzen wir die Grenzkontrollen in helle Aufregung, weil erst seit einem Jahr Ausländer mit einer Sondergenehmigung einreisen dürfen, wir die ersten ausländischen Touristen sind, und die Grenzer kein Buch zu unserer Registrierung haben. Unter großer Aufregung und mit viel Mühe wird ein Buch besorgt. Dann beginnt die Diskussion, welche Informationen und wie viele Spalten eingezeichnet werden sollen. Es wird geschrieben, durchgestrichen, diskutiert, mal in Hindi, mal in englischer Schrift eingetragen. Dabei leiht einer einem anderen die Brille. Der stellt dann beim genauen Kontrollieren fest, dass unsere Passnummern in Delhi falsch in die Sondergenehmigung eingetragen wurden. Was tun? Es wird protokolliert. Dann werden alle Eintragungen mit Unterschriften beglaubigt Die Aufregung legt sich und die Grenzer lachen erlöst und drücken unsere Hände, glücklich, dass das Problem überwunden ist.

Die Straße windet sich endlos in schmalen Kurven hin und zurück durch die tiefen Taleinschnitte, von 250 auf 800 Metern hinauf und hinunter, vorbei an riesengroßen Farnbäumen und an Steinhaufen, die von Arbeitsgruppen aus Bihar für den Straßenbau zerkleinert werden. Wir begegnen ganz wenigen Autos. Nach Einbruch der Dunkelheit treffen wir erneut auf einen Kontrollpunkt des Militärs. Gegen die Kälte haben die Soldaten schon etwas Alkohol getrunken und einer überschüttet uns mit Komplimenten. Er sei glücklich, dass wir hier seien. An der Straße stehen Schilder, dass es verboten sei, diese Straße in der Nacht zu fahren. Wie wir hören, operieren in diesem Gebiet von Myanmar aus zwei Naga-Guerillabewegungen, die immer wieder Überfälle durchführen. Ein Soldat tröstet uns, dass wir bis zur Distrikthauptstadt nur noch 8 km fahren müssten.

In Changlang brennen vor den Verkaufsbuden Kerzen, manchmal auch elektrische Birnen. Die Hauptstraßen heißen Jawarhal Nehru und Indira Gandhi. Bekenntnisse der Zugehörigkeit zu Indien. Wir suchen unsere psychische und physische Lage zu verbessern, indem wir bei einem Wineshop wieder ein kleines Fläschchen indischen Whiskys kaufen. Vor dem Circuit-House stehen viele Motorräder, und drinnen gröhlen Jugendliche ihre Lieder. Unser Guide erklärt, hier feierten sowohl Mitglieder der Polizei als auch ihre Freunde von der Naga-Guerilla-Bewegung, ohne sich zu verpfeifen. Die einen sagten zu den anderen: „Komm doch zu uns, das ist besser.“ Wir trinken Whisky und warten wie üblich, bis ein Hühnchen für uns geschlachtet und gekocht worden ist. Während dessen versiegt die nächtliche Wasserzufuhr.

Übernachtung im Circuit House, Changlang.

8. Tag, 28. Dezember 2003, Sonntag, Changlang
Besuch der Tangsa Dörfer Kengkhy, Rangkaty, Khuchep II, Jungmaisung and Lunglung, die von Longchangs und den Jugli bewohnt werden.

Am nächsten Morgen aber haben wir heißes Wasser. Draußen ist es kalt und bedeckt. Am Frühstückstisch sitzen wir mit dicker Jacke und Mütze und warten auf Ei und pappiges Toastbrot. Unser Guide wartet vergeblich auf den engagierten lokalen Führer. Schließlich findet er einen neuen, der aus dem letzten, kleinen Tangsa-Dorf am Ende der Straße entlang des Tirap kommt. Im Ort stehen Schilder, die vor dem Fischfang mit Gift warnen. Diese Art des Fischens ist allgemein bei den Nagas verbreitet. Der Ortsname Changlang weist darauf hin. Er bedeutet „Bergspitze, auf der man giftige Kräuter zum Fangen der Fische entdeckt hat“.

Fischen mit Gift

Im Flussbett wird mit Steinen, Gras und Erde eine Barriere gebaut, dann werden giftige Kletterpflanzen, Samen oder Blätter zerstampft und im Wasser verteilt. Die vom Gift bewegungsunfähigen Fische werden mit Handkäschern oder mit der Hand gefangen.


Die Häuser der Tangsas haben solide Fundamente.

Die Dörfer der Tangsa

Im Distrikt wohnen verschiedene Volksstämme, die zu verschiedenen Zeiten von Myanmar her eingewandert sind. Deshalb gibt es hier Volksstämme wie z. B. die in jüngerer Zeit eingewanderten Khamtis, die die burmesische Tracht, den longhi (Rock) tragen, dem Buddhismus anhängen und burmesische Tempel bauen.

Die Dörfer der Tangsa und Pangsa liegen in den Bergen an der Grenze zu Myanmar. Das Wort Tangsa bedeutet Bergmenschen. Sie wohnen meist in sehr großen, palmgedeckten Langhäusern, die auf einem Fundament aus soliden Balken oder Betonpfeilern ruhen. Wir besuchen ein Haus, in dem die Eltern mit drei verheiraten Söhnen und deren Familien an fünf Feuerstellen wohnen, insgesamt 25 Personen. Die Einrichtung ist relativ luxuriös. Es gibt Bett- und Kleidergestelle, Koffer, einen Tisch, einen Fernseher mit flimmernden Schattenbildern. Eine Seite des Hauses ist offen und geht in die Hauptterrasse über. Die Arbeitsterrassen auf der hinteren Seite oder an der Südseite liegen unter einem tief herabgezogenen Dach. Der etwa 1,50 m hoch gelegene Boden besteht aus nebeneinander liegenden Bambusstreifen, die nicht verflochten sind wie bei den Noctes. In allen Häusern finden wir eine Inschrift, die vermerkt, dass die Häuser im Mai verschiedener Jahre mit dem hochgiftigen Insektizid DDT behandelt wurden. Die ersten Dörfer hinter Changlang werden von hinduistischen Shiva-Anhängern bewohnt, die weiteren von Baptisten. Fast alle Baptisten-Kirchen stammen aus den Jahren1977/78 und haben das 25jährige Bestehen in Gedenksteinen dokumentiert. Die Dörfer liegen nicht an verteidigungsgünstigen Steilhängen wie bei den Nocte und Wancho, sondern in lockerer Siedlungsweise etwa 400 m hoch, während die Reisfelder etwa 150 m tiefer am Flussufer liegen. Das letzte Dorf Khuchep II, erklärt unser Guide, der aus diesem Dorf kommt, sei vor 30 Jahren entstanden, indem verstreut lebende Lonchangs sich zusammengetan haben. Das Land am Fluss könne von jedem besiedelt und urbar gemacht werden. Die Regierung habe nur bestimmte Waldgebiete für die Besiedelung gesperrt. Hinter den Dörfern beginnt der Urwald. Zwischen den weit auseinander liegenden Häusern stehen Toilettenhäuschen mit Sitzbalken und Dach. Die Fäkalien werden von den frei umher laufenden Schweinen und Hunden sofort gefressen. Seitwärts stehen ebenfalls kleine Reisspeicher. Hühner, Kühe, Ziegen, vereinzelt eine Katze vervollständigen den Zoo. Gärten, in denen wir Mandarinen, Pfeffer, Tee, Betelpalmen, Mohn und andere Gemüsesorten sehen, die es im südlichen Arunachal der „Fleischfresser“ nicht gibt, sind eingezäunt.

Im Haus wird auf einem Trockengestell in einem Bambusrohr Tee getrocknet oder Bananenblätter, die als Brennmaterial in einer Opiumpfeife dienen. Tapiokawurzeln werden in Scheiben geschnitten, um daraus Bier herzustellen. In Khuchep II findet gerade ein Volleyballspiel gegen ein Nachbardorf statt. Die Dorfbewohner feuern lautstark ihre Mannschaften an.

Auf der Rückfahrt beginnt es zu regnen. Trotzdem fahren wir noch zurück zur Brücke in Changlang auf die andere Flussseite. Hier ist die Vegetation ganz anders. Wir fahren in Flusshöhe durch hohes Gras. Die Häuser liegen allerdings auch hier so hoch, dass das Wasser die Häuser nicht erreichen kann. In der Monsunzeit sind diese Siedlungen über Monate völlig isoliert. Freundlich werden wir in jedem Haus empfangen, indem sofort Stühle oder niedrige Hocker herbei geholt werden.

Trancetänze der Baptisten

Als es schon fast dunkelt, hören wir aus einer Kirche Trommeln und Gesang. Wir erklettern schnell die Höhe, auf der die Gebetshalle liegt. Im Innern sitzen die Menschen auf Bänken oder stehen vorne, wo auf einer Empore ein Tisch und ein Lesepult stehen. Wir werden von einem der Gottesmänner nach unserer Absicht, Herkunft und Religion befragt. Wir sollen Platz nehmen. Angefeuert von einem Mann und einer Frau, singen und klatschen die Leute. Nach einer litaneiartigen Anrufung Gottes beginnen sie verstärkt zu singen, haben die Augen geschlossen und werfen die Arme in die Luft. Männer knien nieder und berühren mit dem Kopf den Boden oder stehen erstarrt mit hoch gereckten Armen. Einige Frauen beginnen zu tanzen, indem sie sich immer wilder bewegen und drehen. Andere Frauen bilden einen Schutzring um die Tanzenden und sorgen dafür, dass sie nirgendwo anstoßen. Schließlich brechen die tanzenden Frauen, etwa sieben, zusammen und werden aufgefangen. Mehrere ältere Frauen beugen sich tief über die liegenden und halten ihre Ohren an den Mund der in Trance Gefallenen, die jetzt als Medien Gottes der Gemeinde verkünden, was hier in der vergangenen Zeit nicht im Sinne des christlichen Gottes war. Wieder wird gebetet. Ein Männerchor singt und danach ein Frauenchor. Inzwischen ist es fast dunkel und wir eilen weg, um bei Regen und Dunkelheit das Auto zu erreichen. Es war ein bewegendes Ereignis.

Circuit House, Changlang.

Fortsetzung des Berichtes


Wancho aus Ngissa mit Zeichen einer erfolgreichen Kopfjagd: drei Messingköpfe und eine "Antenne" aus Menschenhaar

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