3. Chengdu Hauptstadt Sichuans, die mit über 100 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Provinz Chinas ist. Chengdu heißt "Vollendete Hauptstadt", Tor zum Westen nach Tibet, im Mittelalter 11.-13. Jh. Zentrum des Buchdrucks, schon im 2.Jh. v.Chr. Zentrum von Lackarbeiten und Brokaten. Die moderne Stadt, Ahnentempel des Fürsten Wu, Der Lyriker Du Fu, "Wir lieben Buddha, weil er Geld bringt", Religiöses Leben, Laotse und der Daoismus, Religiöse Glücksspiele, Konkurrenz und kapitalistische Entwicklungen, Die Armen
Von Xi`an aus fliegen wir mit einer Propellermaschine über hohe Gebirge nach Süden in das fruchtbare, rote Becken von Sichuan, der Reiskammer Chinas. Über den Wolken scheint endlich die Sonne. Aber nur solange wir oben sind. In Chengdu tauchen wir wieder in den Dunst und Staub. Es ist so dunstig, dass ich das Gefühl habe, eine Sonnenbrille zu tragen. Es ist schwül-warm. Der Himmel hängt bis auf die Straßen. Der Staub kratzt im Hals. Immer wieder sehen wir Straßenreiniger. Vieles ist ähnlich wie in Xi`an. Die Reklametafeln sind hier noch größer und die Wolkenkratzer noch höher und die Straßen noch breiter. Wir fahren die mehrspurige Hauptstraße ins Zentrum und sehen wir können es kaum glauben die erste große Maostatue vor uns. Ganz privat, ohne jedes revolutionäre Pathos, winkt Mao den Leuten zu, als ob er ihnen Glück wünscht zum wirtschaftlichen Aufschwung. An einem Haus lesen wir "Long live the aristocracy family." Was soll das heißen? Aristokratie- und Familienfreundlichkeit? Das verstehen wir nicht. Schon eher den Hinweis in Englisch: "Jeder soll seine Rolle spielen bei der Entwicklung einer umweltfreundlichen Stadt." Als wir später den breiten, schwarzen, stinkenden Fluß sehen und riechen, der als offene Kloake durch Chengdu fließt, wissen wir, dass Chengdu noch nicht die "Vollkommene Stadt" ist. Eine Mauerinschrift weist auf das Problem hin: "A city should be clean just as a soul should be pure." Äußere und innere Reinheit werden verbunden. Eine konfuzianische Formulierung. Wir wohnen im 9. Stock des Hotel Tibet, das insgesamt 17 Stockwerke hat. Der Name des Hotels deutet ein Programm an. Hier in Chengdu ist das Tor nach Tibet, helft den Tibetern beim wirtschaftlichen Aufbau. Sowohl mit höheren Löhnen als auch mit ideellen Anreizen sucht die Regierung Freiwillige für eine Umsiedlung ins "Sibirien" Chinas zu gewinnen. Zu unserem ersten Besichtigungsziel gelangen wir mit einem öffentlichen Bus unter tatkräftiger Hilfe einiger Chinesen. Die Weltoffenheit Chengdus zeigt sich darin, dass eine Verständigung mit Englisch hier möglich ist. Der Gedenktempel des Fürsten Wu liegt wie eine typische Tempelanlage mit zwei Toren und hintereinander gelegenen Hallen in einem großen Garten. Er weist auf die Glanzzeit Chengdus im 3. Jh. n.Chr. hin, als es reiche Hauptstadt des Königreiches Shu war. Die überlebensgroßen Figuren des Vorgängerkönigs von Wu und seiner Beamten und Generäle haben farbige Gesichter, die die Charaktereigenschaften jeweils zum Ausdruck bringen. Bemerkenswert sind die schönen Inschriften, die Steinabreibungen und der WasserSteinBonsai-Garten. Du Fu, ein berühmter Dichter, der sich nach einer Beamtenlaufbahn
in Xi`an nach hier zurückzog, schreibt sehr kritisch über die
vielen Kriege im 8.Jh.. In einer Strohhütte am Stadtrand lebend
verfasste er die folgenden Gedichte. Ich äußere meinen Kummer Ausmarsch Die Pferdes schnauben, die Karren schrein, Als wir am Morgen aufwachen, regnet es. Schade, denn heute fahren wir zur größten sitzenden Buddhafigur der Welt nach Leshan, 71 m hoch, größer als die beiden von den Taliban in Afghanistan zerstörten älteren Statuen. Allein die Nase ist 4 m lang, die Ohren 7 m und die Mittelfinger 8,30m. Die Fahrt geht durch eine sehr schöne Landschaft mit Teeplantagen und Reisfeldern. Als wir dann vor dem Buddha stehen, sind wir etwas enttäuscht. Die Figur ist renoviert worden. Die romantische Patina fehlt, das Moos ist abgekratzt, die Löcher sind zubetoniert und die Figur ist mit schwarzen und roten Farben angemalt worden. Ein Kredit der Weltbank über 4 Mill. für die "urbane Entwicklung in der Umgebung des großen Buddha" machte dies möglich. Deshalb lieben sie Buddha, "weil er Geld bringt ", wie der Museumsleiter sagt. Damit sollen auch eine Zufahrtsstraße und ein Parkplatz für die jährlich 2 Mill. Besucher gebaut werden. Die Statue wurde im 8.Jh. in 84 Jahren von Mönchen aus dem roten Sandsteinfelsen herausgeschlagen , um die Schiffsunglücke hier beim Zusammenfluss dreier Flüsse zu verhindern. Diese Statue des Buddha Matreya, des zukünftigen Buddha, nimmt die für ihn typische, europäische Sitzhaltung mit aufgesetzten Fußsohlen ( Glücksposition) ein, die besagt, dass sein Thron noch ein geliehener ist. Auf dem Weg zum Kopf der riesigen Figur durchqueren wir mehrere Hallen, in denen die chinesische Version Maitreyas als einen dickbäuchigen, lachenden Kinderbuddha zu sehen ist, den die Chinesen seit dem 10. Jh. so verehren. Viele Räucherkerzen werden verbrannt und nach Möglichkeit Erinnerungsfotos geschossen. Verwundert stellen wir immer wieder fest, dass viele Chinesen sich trotz der atheistischen Erziehung vor den Buddhafiguren auf die ausgelegten Kissen knien, die Hände heben und den Kopf zu Erde neigen. Zum Spätnachmittag lernen wir dann noch eine andere Abart Buddhas kennen: den transzendenten Bodhisattva Manjushri. Ein Bodhisattva ist jemand, der neben der eigenen Erlösung sich auch um die Erleuchtung und Leidensbefreiung der anderen kümmert. Transzendent wird er genannt, weil er den naturgesetzlichen Zwängen nicht mehr unterworfen ist und jede Erscheinungsform annehmen kann. Er selbst hat durch die Vernichtung von Gier, Hass und Unwissenheit die Erlösung aus dem Kreis der Wiedergeburten erreicht, verzichtet aber aus Mitleid mit den anderen auf ein endgültiges Verlöschen im Nichts. Manjushri, "von lieblicher Schönheit", ist der Herr der Weisheit und Schutzpatron der Gelehrten. Er vertreibt mit seinem Flammenschwert die Finsternis und ermöglicht einen Anfang. Im Manjushri-Tempel erleben wir zum ersten Mal intensives religiöses Leben. Die Rituale und Gesänge erinnern an katholische Gottesdienste. Mantras werden gesungen, mal monoton, mal melodiös wie Kirchenlieder, Wasser und Reis werden symbolisch eingesetzt, Papier wird zum Zeichen der Vergänglichkeit verbrannt. Während des Gesanges stehen die Gläubigen zunächst mit dem Gesicht zur Frontseite des goldenen Manjushri mit seiner blauen Kappe und wenden sich dann um 90° nach rechts bzw. nach links zur Mitte. Untermalt von unterschiedlichen Trommeln bewegt sich darauf die Gemeinde in zwei Gruppen durch den Raum. Zunächst laufen sie in zwei gegenläufigen Kreisen und bilden dann zwei Einzelkreise, die sich wieder in den gegenläufigen Anfangskreis auflösen. Zwischendurch findet mehrmals eine Wasserzeremonie statt, wobei ein Lama ein Glas trägt wie ein katholischer Priester seinen Kelch mit dem verwandelten Wein. Tue nichts und alles ist getan. Neben dem Konfuzianismus, der mit seinen Verhaltensregeln vom 4.Jh.v.Chr. an die weltanschauliche Grundlage des chinesischen Staates bildete, und der indischen Religion des Buddhismus, die sich im 1.Jh.n. Chr. ausbreitete, stellt der Daoismus das 3. Denkschema der Chinesen dar. Er geht auf Laotses Lehre von der Einheit zwischen Mensch und Natur aus dem 6.Jh.v.Chr. zurück. Die Lehre von Laotse bildet das extreme Gegenstück zu dem konfuzianischen Denken. Er lehnt alle staatlichen Organisationen und sozialen Werte ab. Er ist für ein einfaches Leben, für Gewaltlosigkeit, gegen Privateigentum, gegen Tradition. Auf seine Lehre, dass das ganze Dasein nichts als vorübergehende Illusion sei, geht die Gründungsgeschichte des daoistischen Tempels der schwarzen oder blaugrünen Ziege zurück. Als Laotse zu einer Verabredung mit einem Freund nicht erschien, aber ein Hirtenkind mit Ziegen sich zeigte, glaubte der Freund vom trügerischen Schein der Dinge überzeugt - Laotse sei als Hirtenkind erschienen. Die Tatsache, dass der Freund in diesem Kind den Philosophen zu erkennen glaubte, könnte auch mit der Bedeutung der chinesischen Schriftzeichen für Laotse zusammenhängen, die nicht nur mit alter Meister, sondern auch mit altes Kind übersetzt werden. Im Tempel der schwarzen Ziege stehen nun zwei Ziegen zum Gedenken. Allerdings trägt die eine Ziege die Merkmale aller Tiere des chinesischen Tierkreises: Das Maul eines Pferdes, die Nase eines Rindes, die Ohren der Ratte, den Hals eines Affen, den Rücken eines Hasen, das Hinterteil eines Schweins, den Schwanz einer Schlange, das Horn eines Drachen....Damit die Ziegen durch Glück bringende Berührungen nicht zu sehr abgenutzt werden, sind sie eingezäunt, so dass die Menschen nur noch Geldscheine auf die Ziegen werfen können. Außerdem werden sie von daoistischen Mönchen, die an ihren langen, zum Knoten aufgebundenen Haaren zu erkennen sind, bewacht. Ein weiteres daoistisches Symbol, die Acht Trigramme aus dem Orakelbuch Yi Ging, finden wir hier architektonisch umgesetzt in den acht Säulen eines Pavillons. (s.Peking) Man sagt, die Chinesen benutzen die verschiedenen Religionen entsprechend ihrer Lebenssituation. Das daoistische Weltbild bietet Trost bei negativen Erfahrungen und das buddhistische hilft durch die Lehre von den Wiedergeburten im Angesicht des Todes. Die Bedeutung des Feuers und des Rauchopfers erleben wir beim Besuch des Tempels des Kostbaren Lichts noch intensiver als in anderen Tempeln, ebenfalls den Zusammenhang zwischen Religiosität und Geschäft. Auf der Zufahrtsstraße zum Tempel werden in langen Budenreihen alle erforderlichen Dinge für ein erfolgreiches Opfer verkauft. Zwei Meter lange, dicke Räucherstangen, große "goldene" Papierbogen zum Verbrennen, dicke rote Kerzen u.v.m. Daneben stehen aber auch Tische, die zum Glücksspiel auffordern. Durch das Drehen eines Zeigers können Zigarettenpackungen gewonnen werden. Mit Gewehren kann auf Blechdosen geschossen werden. An der Eingangsmauer des Tempels steht ein riesiges Schriftzeichen mit der Bedeutung Glück. Hier drängen sich die Chinesen, um mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen aus ca 10 m Entfernung auf die Wand zuzulaufen, um das Zeichen mit der Hand zu berühren. Die Umstehenden geben dabei Richtungshilfen. Gelingt es beim ersten Mal nicht, versuchen sie es noch einmal. Im Innern des Tempels stehen 500 überlebengroße, bunte Heiligenfiguren in höchst grotesken Stellungen und mit übertriebenem Gesichtsausdruck. Sie werden als Orakel genutzt: man sucht sich eine Figur aus und zählt nach links die Zahl der Lebensjahre ab. Der ausgezählte Heilige trägt eine Zahl, die man einem Angestellten angibt, worauf man von ihm ein Bild und Glückssprüche für die Zukunft erhält.
"Geld kann einen Mann in einen Gott verwandeln." Aber bevor wir den Tempel erreichen, müssen wir unseren öffentlichen
Bus finden. Wir stehen mitten im chaotischen Verkehr am Bahnhof.
Autos, Karren, Radfahrer, Fußgänger drängen sich auf der Straße.
Ein Radfahrer transportiert auf seinem Gepäckträger ein großes,
geschlachtetes Schwein. Wir können uns nur verständlich machen,
indem wir im Stadtplan auf die chinesischen Schriftzeichen zeigen.
Schließlich finden wir unseren Bus hinter den Häusern. Die Straße
nach Xingu ist verstopft, deshalb ändert unser Bus die vorgesehene
Route und fährt über die Schnellstraße. Das bedeutet aber, er
muss eine Autobahngebühr zahlen, die er dann von den Fahrgästen
wieder einsammelt. So wird überall in China abkassiert. Plötzlich
tauchen alle stehenden Fahrgäste nach unten. Das passiert mehrmals.
Dabei halten alle Ausschau nach Polizisten. Offensichtlich dürfen
die Busse auf der Schnellstraße nur soviel Leute mitnehmen, wie
sie Sitzplätze haben. Wir wundern uns über die Selbstverständlichkeit,
mit der die Gäste blitzschnell in die Knie gehen. "Ich glaube schon, dass für die Chinesen heute das Wichtigste
ist, Geld zu verdienen und ihre Lebenssituation zu verbessern.
Demokratie interessiert mich nicht."
Im Altstadtviertel von Chengdu stehen neben dem Manjushri-Tempel alte niedrige Häuser. Sie sind meist eng und feucht, haben keine Wasserleitung, keine Toiletten und keinen Fernseher. Hier wie auch auf dem Land sitzen die Menschen zusammengedrängt in einem kleinen öffentlichen Raum, um fernzusehen. Die engen Hinterhöfe der kleinen Häuser sind vollgestellt mit Gerümpel und Blumentöpfen. Die Alten sitzen auf der Straße, neben sich den Vogelkäfig und spielen Mahjong. Die Gesichter sind verschlossen. Sie starren uns abweisend an. Auf ein freundliches Nicken oder Lächeln erfolgt oft keine Reaktion. Sie haben in ihrem Leben wohl schon zuviel leidvolle Veränderungen erlebt. Nach den vielen maoistischen Kampagnen, nach den Säuberungsaktionen gegen Rechts- und Linksabweichler und nach dem Umsturz aller traditionellen Werte durch die roten Garden geht es jetzt nicht mehr um Gleichheit und Erziehung zum neuen Menschen, sondern um reich werden und um den technologischen und ökonomischen Fortschritt. Wieder einmal sind die alten (kommunistischen) Werte für ungültig erklärt worden. Die "eiserne Reisschüssel", die lebenslange Garantie einer staatlichen Vorsorge, ist zerbrochen. Die sozialistische Maxime, dass der Arbeiter der Eigentümer der Produktionsmittel ist, gilt nicht mehr. Arbeiter werden entlassen, die Miete erhöht. Inzwischen wird ein Teil des Lohns für eine Pensionskasse einbehalten. Nur die Alten tragen noch die blaue Jacke aus der Zeit Maos. Nur alte Menschen sieht man manchmal beim Sammeln von Abfällen auf der Straße und in den Tempeln. 10% der Steuereinnahmen sollen zur Bekämpfung der Armut verwendet werden, verschwinden aber meist durch die übliche Korruption. |