4. Bei Shiva und Buddha in Lahaul

Rothang-Pass, 3955 m hoch, der einzige Zugang nach Lahaul, der ersten tibetischen Region, seit 1977 von Juni bis September für Besucher geöffnet

Heute starten wir in die höheren Gebiete des Himalaya. Bei der Fahrt zum Pass erleben wir noch einmal die großartige Gebirgswelt des grünen Kulutales mit vielen Wasserfällen und weiten Aussichten auf die hohen Berge. Die Vegetation wird noch blütenreicher. Zweimal sehen wir Bienenkästen. Oberhalb der Baumgrenze sehen wir noch ein Dorf. Auf dem Pass ist es kalt und windig, viele Packpferde, einige Buden.

Auf der Nordseite ändert sich die Landschaft, die Berge sind nicht mehr so steil, mehr Schotterhänge, weniger Bäume. Ab 3000 m sehen wir am Flussufer und an den Berghängen immer wieder Terrassen mit Kartoffeln und Erbsen. Obwohl wir mit unserem Dolmetscher und Fahrer die Route abgesprochen haben, verpassen wir den Gompa von Sissu. Beim Rajapalast von Gondla weigert sich unser Fahrer ins Tal hinabzufahren, weil er keinen Allradantrieb habe. Wir wandern abwärts und nehmen unseren Dolmetscher trotz seines Sträubens mit. Der siebenstöckige Wohnturm des Palastes ist leider verschlossen. Der Einstieg in den ersten Stock erfolgt über eine Leiter. Die einzelnen Stockwerke mit ihren Holzbalkonen scheinen dem Einsturz nahe. Auf der Weiterfahrt sehen wir ein altes, umgebautes, deutsches Feuerwehrauto auf Indienfahrt. Der Versuch den Tempel oberhalb von Tipchulling zu erreichen scheitert, weil der Weg zu schmal und schwierig ist.

Keylong, größte Stadt von Lahaul und Spiti, am Chandrabagha gelegen, Ausgangspunkt für Zanskartrekkings

In Keylong haben wir es mit anderen Menschen und anderen Göttern zu tun. In dieser Region begegnen sich die hinduistischen und die lamaistischen Gottesvorstellungen. Die Bevölkerung soll zur Hälfte aus Hindus bestehen, obwohl in der Landschaft und in den Orten die buddhistischen Tempel dominieren. Beide Religionen scheinen sich hier selbst in den Tempeln vereint zu haben. Wir finden im hinduistischen Tempel Buddhadarstellungen, da Buddha als eine Inkarnation Vishnus gilt, und im lamaistischen Tempel finden wir einen Altar Shivas mit Lingam und Nandi. Für die letztere Kombination finden wir allerdings keine Erklärung.
Überraschend ist die vielseitige Vegetation in einem sehr grünen Tal, die unserer mitteleuropäischen entspricht. Immer wieder entdecken wir unsere bekannten heimischen Pflanzen.


Unser erster Ausflug führt hinauf zum Sha-Sha-Gompa oberhalb von Keylong, teils mit dem Auto, teils zu Fuß. Einige weiße Tschörten kündigen die Nähe des Klosters an. Der Blick geht hier oben weit über das Tal, das durch die Abendsonne in ein wunderschönes Licht getaucht ist. Leider kann unsere erste Begegnung mit der lamaistischen Götterwelt nicht stattfinden, weil der Lama gerade zu seinem Wohnhaus gegangen ist. Die abendliche Idylle wird manchmal durch Trommeln und Geschrei unterbrochen. Beim Abstieg erleben wir die Ursache der Trommelei, wir stoßen auf eine Hochzeitsgesellschaft. Die Männer tanzen einen langsamen Rundtanz, während die Frauen sich waschen oder das Essen zubereiten. Sofort werden wir eingeladen. Where are you from? Als sich herausstellt, dass wir Deutsche sind, kommt ein Einheimischer, der behauptet ein Diplom für die deutsche Sprache zu haben. Mehr durch Zeichen als durch Worte verständigen wir uns mit ihm. Guten Tag, wie geht es dir ? Bald sitzen wir zwischen den Gästen auf dem Boden und bekommen Trinkgläser, die aus einem Kochkessel mit einheimischem Schnaps gefüllt werden. Dann werden Reis, scharfes Linsenmus und Schafsknochen auf große Messingteller gehäuft, das wir in indischer Manier mit den Händen essen.

Udeypur, ein Dorf mit Holztempeln aus dem 10. und 11. Jahrhundert

Die heutige Fahrt zum nicht weit entfernten Udeypur oder Udaipur wird zu einer Bußwallfahrt zu den beiden Göttergesellschaften des Himalaya. Hinter Keylong stehen wir im Stau, eine Militärkolonne von etwa 100 Fahrzeugen verstopft die Straße. Der Weg durch das Pattantal ist voller Löcher und schmal, kaum befahrbar. In Handarbeit wird an vielen Stellen herumgebessert. Es werden an Ort und Stelle Steine zerschlagen, mit Körben in die Löcher gefüllt, Teer auf offenem Feuer erhitzt, in Kannen über die Steine geschüttet und mit etwas Sand gepudert. Am Wegesrand stehen in der Nähe der Dörfer meist graue, verwachsene Weiden, oft ganze Wäldchen, die die steilen Abhänge zum Fluß hin befestigen und Erdrutsche vermeiden sollen. Dazwischen überragen hohe Pappeln die niedrigen Weiden. Ein Blick in eine toskanische Landschaft. Dann zu unserer Überraschung immer wieder Hopfengärten zwischen Erbsen- und Kartoffelfeldern. Die Herrnhuter Missionare sollen diese Pflanzen hier eingeführt haben. Wieder werden wir aufgehalten: Steine rollen auf die Straße, weil oberhalb Bohrlöcher für eine Sprengung gebohrt werden. Die Straße soll hier verbreitert werden. Der größte Teil des Weges ist öde, seitwärts farbloses Gestein. Nur manchmal liegt eine grüne Oase vor uns, die mit Flusswasser bewässert wird. In ihr große, massive Einzelgehöfte mit Spitzdach und drei Stockwerken. Das ist sehr ungewöhnlich, weil die Häuser in den Dörfern meist klein sind und ein Flachdach haben, auf dem Erbsenreisig und Blätter fürs Vieh getrocknet werden. Diese Neuerungen im Hausbau sollen ebenfalls auf die Initiative der Herrnhuter zurückgehen. Auf dem Weg zu unserem Tagesziel kommen uns große Zweifel, ob die Strapazen der mühseligen Anreise sich wohl lohnen.


Im Gompa Triloknath

Das erste Ziel der Fahrt ist der buddhistische Gompa Triloknath, ein Kuriosum, weil im Innenhof ein Shiva-Lingam mit einem Nandi steht, vor dem eine Öllampe brennt und Blumen liegen. Das bedeutet, mitten im buddhistischen Tempel haben die Hindus ein Heiligtum, so dass beide Religionen hier nebeneinander ausgeübt werden. Auf dem Sockel des Altars liegen sogar buddhistische Manisteine. Wir erleben die Grenze zwischen der indischen Hauptreligion des Hinduismus und dem Buddhaglauben, der in Ladakh dominiert. Die Mönche halten im Gebetsraum gerade eine Zeremonie ab, in die wir voll integriert werden. Als Geschenk für die Heiligenstatue bekomme ich von einem Mönch Kekse und einen Apfel, die ich in der Cella vor der weißen Statue ablege. Als Zeichen der Verbundenheit bekomme ich ein gelbes Bändchen, das ein Mönch mir umbindet, weiße Puffreisperlen und etwas heiliges Wasser in die Hand, das ich trinken soll, um dann mit der feuchten Hand über den Kopf zu streichen. Eine Art christlicher Kommunion im Angesicht des Heiligen. Als Dankgeschenk gebe ich 10 Rupien. Im Gebetsraum singen die Mönche, blasen die Muschelhörner und schlagen die Trommeln. Mindestens 20 Mönche und Nonnen sind hier aktiv. Bei der Besichtigung des kleinen Ortes lernen wir zwei Reisende kennen, die auf dem Weg zur Kalachacra- Zeremonie waren, die der oberste Buddhist, seine Heiligkeit, im abgelegenen Kye-Kloster in Spiti zelebrieren wollte. Aber diese wie auch viele andere Europäer konnten nicht hin, weil bösartige Berggeister die Straßen durch Bergrutsche und Unterspülungen unpassierbar gemacht hatten, sogar eine Brücke hatten sie zum Einsturz gebracht. Unsere nächste Station Udaipur zeigt uns wieder einen Gemeinschaftstempel, diesmal unter Dominanz der Hindugottheiten. Buddhas Abbildung ist nur eine unter vielen in den Holzkassetten der Decke. Die Hindus sehen in Buddha eine Erscheinungsweise Vishnus. Dieser Holztempel, der Mrikula Devi Tempel aus dem 10. und 11. Jahrhundert, ist eine Überraschung. Im Innern ist er mit wunderbaren Skulpturenbändern, Holzkassettendecke und Götterfiguren ausgeschmückt. Im dämmerigen Innern entdecken wir an den Wänden eiserne Geißelinstrumente. Dem Eingang gegenüber befindet sich die Cella mit dem Hauptgötterbild. Hier müssen wir uns wieder einem Ritual unterziehen. In der niedrigen Zelle bekommen wir wieder weiße Puffreisperlen und sollen uns ein rotes Mal auf die Stirn zeichnen. Darauf bindet der Priester ein rotes Bändchen um unsere Handgelenke. Mit den beiden Farbbändchen am Handgelenk und dem doppelten Segen hinduistischer und buddhistischer Art, die sich als sehr ähnlich erwiesen haben, machen wir uns auf den Heimweg. Die Rückfahrt ist leider genauso schmerzvoll und lang wie die Hinfahrt. Auch sie noch Teil einer Bußwallfahrt. Völlig fertig und mit starken Kopfschmerzen beenden wir diesen segensreichen Tag.

Khardung oder Kharding, ein mittelalterliches Dorf

Morgens machen wir eine Wanderung zu einem Dorf, das auf der gegenüber-liegenden Seite des Tales liegt. Da uns zwei deutsche Frauen vom Besuch des etwas höher gelegenen Klosters Khardung abgeraten haben, es sei ein neuerer Zementbau ohne Inhalt, klettern wir hinab zum Fluß und wieder hinauf, aber nur bis zum Dorf. Der Weg führt vorbei an uralten Weidenbäumen, deren Dicke und Wuchs uns an die Olivenbäume Mallorcas erinnern. Khardung ist das urigste Dorf, das wir bisher gesehen haben, ganz anders als die Bauerndörfer im Kulutal. An den Häusern ist jeweils das Klo mit einer Grube angebaut, ähnlich wie wir es im Jemen gesehen haben. An der Windecke des Dorfes steht der Tschörten, zu dessen Füßen viele Geisterfallen liegen. Eine davon stecke ich in den Rucksack, ohne zu wissen, ob der Dämon schon in der Falle sitzt. Als ich sie einstecken will, rieselt Staub heraus und bedeckt die Jacke und die Kamera. Selbst als ich später das Gespinst gegen eine Wand schlage, rieselt noch immer Staub heraus. Erst nach mehrmaligem Waschen glaube ich, dass ich alle Ablagerungen, Ausdünstungen, Reste eines möglichen gefangenen Dämons heraus gewaschen habe. Mit schlechtem Gewissen habe ich die Falle genommen. Was wird sie mir bringen, was bedeutet ihr Fehlen für die Dorfleute? Das erste Haus hinter dem Tschörten zeigt über der Tür ein maskenhaftes Gesicht aus Kuhdung, Augensteinen und einem Zweig. Vor der Tür stehen alte, verrottete Schuhe. Der Großvater, der Urgroßvater, der Mann und die Frau erscheinen, wollen fotografiert werden. Die Frau verkauft uns ein neues Paar selbst angefertigter Schuhe. Lachend und mit vielen Gesten machen wir Gruppenfotos, die wir ihnen zuschicken wollen. Begeistert verlassen wir das Dorf und denken, der Tag hat sich gelohnt.
Aber es sollte noch besser werden. Unsere nächste Station Jispa ist nur 18 km entfernt. Dort finden wir eine ganz andere Landschaft: die Berge sind höher und steiniger. Wir berühren die Baumgrenze, im Tal immer wieder Weiden, Eiben und Wacholder. Plötzlich steht vor uns ein großer Hotelblock wie ein Schweizer Chalet, halb fertiggestellt, aber bewohnbar. Nach dem Dinner erkunden wir das Flussufer. Nach 20 Minuten stoßen wir auf einen Gompa, den der Dalai Lama mit einer Kalachacra-Zeremonie eingeweiht hat. Vor dem Haus ein großer Hubschrauberlandeplatz, da seine Heiligkeit immer eingeflogen wird wie vom Himmel kommend, nicht auf dem Rücken eines Schneeleoparden, sondern mit einem Hubschrauber. Kein Lama öffnet uns die Türen. Etwas weiter ein Militärposten, dahinter ein weiterer Gompa und ein kleines Tempelchen, in dessen Mitte eine 1000jährige Eibe steht. Hier hängen hunderte von Wunschschals. Die Sonne verschwindet, so dass wir auf einem bergseitigen Weg zurückgehen . Durch Weidenwäldchen, über Quellbäche steigen wir zwischen den Steinen aufwärts. Zwei Mädchen, denen Christa Luftballons gegeben hatte, weisen uns auf einen Gompa im Fels über uns hin und führen uns. Über eine Holzbrücke geht es aufwärts. Im Wald versperrt plötzlich eine glotzende neugierige Rinderherde uns den Weg. Ein Stück weiter sitzt plötzlich ein rot gekleideter Mönch vor uns. Sich hin und her wiegend murmelt er unentwegt Mantras vor sich hin, lächelt, als wir ihn fotografieren, verbirgt seine schwarzen Zähne und hebt die Hände zum Gruß an die Stirn. Oberhalb seiner Klause steht auf einem Felsvorsprung eine noch größere. Der Lama von dort sei abwesend. Auf der anderen Bergseite tobt in einer Staubwolke eine große Schafherde zu Tal. Wir sind erfüllt von dem Erlebten. Ein Tag wie nie, großartig.