8. Bekanntschaft mit den Dämonen im Nubratal Khardung-La, 5602 m, der Pass ins Nubra Tal, das grüne oder verbotene Tal, seit 1994 mit Sondererlaubnis zu bereisen Während der Fahrt ins Nubra Tal begleitet uns Thupstan, ein Mönch aus dem Kloster Sankar, weil unser bisheriger Führer sich plötzlich um seine Schule kümmern muss. In Wirklichkeit scheint er klostermüde geworden zu sein, zumal er uns nichts Neues zu den Besichtigungsobjekten zu erzählen wusste.
Panamik, ein Dorf mit heißen Schwefelquellen Heute bringt unser rot gekleideter Führer uns zu heißen Quellen und zu einem kleinen Bergsee. Was unser Führer für sehenswert hält und was wir sehen sollen, das ist das eine, was wir sehen und was wir für sehenswert halten, ist das andere. Immer wieder ist es das Wasser, was sie uns zeigen wollen. Wie lächerlich fanden wir den Wasserfall bei Mussoorie und die anderen Wasserfälle in Himachal Pradesh. "A waterfall, a picture?" Wir nickten nur müde und wollten nicht halten, nicht fotografieren. Wie begeistert war unser Fahrer, der aus den Wüsten Rajasthans kam. Jetzt haben wir einen Berg erstiegen, um einen winzigen Bergsee zu sehen. Wir machen wieder kein Foto. Die heißen Quellen, zu denen wir voller Erwartung mit unseren Badeanzügen hinaufgestiegen sind, fotografieren wir. Nicht wegen der idyllischen Lage, sondern wegen der komischen Situation. Dutzende von Soldaten stehen an den Rinnsalen und waschen ihre Hemden, ihre Pullover, ihre Socken, ihre Schlafsäcke. Ihre Socken hängen zu hunderten an Drähten, ihre Pullover trocknen auf den großen Steinen und die Schlafsäcke stecken in viel zu kleinen Eimern. An ein Bad ist nicht zu denken. Also hinab. Wir wollen laufen, wandern. Wir stapfen durch Sand, durch Gerstenfelder, durch Sumpfwiesen, durch Geröll. Immer wieder bleiben wir stehen und müssen uns vergewissern, dass wir im Hoch-Himalaya sind. Wir glauben durch die Salzwiesen des Nordseewatts zu gehen, im Schilf riecht die Minze nach dem Uphuser Meer bei Emden. Im heißen Sand stehe ich vor den dürren Ästen eines abgestorbenen Baumes und bin in der Wüste Erg in Marokko. Auf den Rändern des Bewässerungsgrabens balancieren wir zwischen den Reisterrassen Balis. Der Blick über die Gerstenfelder und die dichten Lavendelbüsche bringt uns in die Provence. Welche Wirklichkeiten sehen wir? Ein Zauberland, das uns all das bietet, was wir schon sahen in anderen Teilen der Welt und mehr? Oder sind wir verzaubert? Wo ist Ladakh? Dort, in den Häusern für die lokalen Götter, die an allen markanten Stellen stehen. Keine Götterbilder, nur ein amorphes Gebilde aus zusammengebundenen Zweigen auf einem viereckigen Steinsockel. Oder in den Manimauern. Am Ende der Mauer ein Schrein, ein zweistöckiges Haus mit drei farbigen Stupas in blau, weiß und rot und dahinter bzw. daneben noch ein mannshoher Rundbau, ebenfalls zur Ablage von Manisteinen.
Nubra-Tal: Deskit Zwei Königspaläste, verlassen, etwas verfallen, haben wir heute erforscht. So will heute keiner mehr wohnen. Interessant sind die großen schwarzen Küchen. Ein geschlossener, gemauerter Ofenkasten mit schönen Seitenverzierungen. Hier wohnt die Herdgöttin, ihr wie auch anderen Hausgöttern wird in der Neujahrszeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt. An einem schwarzen Trägerbalken hängt noch ein Erntestrauß, über dem Türbalken zur Vorratskammer sind oberhalb des Türbalkens mit weißer Farbe Figuren gemalt. Hier eine liegende Mondsichel, die eine Sonne trägt und darüber eine Flamme, seitwärts ein Hakenkreuz und die drei Glücksjuwelen. In der Mitte des Raumes befindet sich eine offene Feuerstelle für den Winter. Der Rauch zieht durch eine große Öffnung ins obere Stockwerk. Diese Küche ist ähnlich aufgeteilt wie die Klosterküchen, die allerdings nicht zwei Balkonveranden haben, sondern eher schwarzen Höhlen gleichen. Der "Palast" von Sumur hat eine großartige Lage mit einem Blick über das weite Tal in beide Richtungen. Jedes Zimmer hat einen Balkon nach Süden. Unterhalb des Palastes liegen die Trümmer des alten Dorfes. Es wurde zerstört trotz der vielen Stupas und der Altäre für die Ortsgottheiten, die bis hoch in die Felsabhänge stehen. Sogar ein großes Shivazeichen hat man auf die steile Felsmauer gemalt. Wahrlich ein gefährlicher Ort, an dem Menschen sich mit so vielen Schutzzeichen gegen die bösen Stein- und Bergdämonen zu schützen suchen.
Hier im Nubra-Tal spüren die Menschen wohl noch sehr stark die Gefahren, die ihnen durch entfesselte Naturgewalten drohen. Wir denken an die Bergrutsche in den Alpen, die jedes Jahr einige Dörfer zerstören. Deshalb stehen überall, auch auf den Häusern, die roten Büschelaltäre, die die Naturgötter beruhigen sollen. Früher färbte das Blut der Opfertiere die Steine und die Türpfosten rot, heute ist es nur eine Farbe. Häufig stehen zwei Steine gegeneinander gelehnt oder liegen übereinander. Auch die vielen Manimauern in den Siedlungen zeigen die Angst vor den Gefahren der Natur.
Die archaische Kultur des Nubra Tals zeigt sich auch in den Bemalungen der Tempel und der Tschörten. Vorwiegend werden tantrische Darstellungen der zornigen Form in Vereinigung mit dem weiblichen Element gezeigt. Das Kloster Deskit, 1420 Jahre alt, ist eine außergewöhnlich urige Ansammlung von Gebäuden auf einer Felskuppe. Das Wasser mussten die Mönche früher über steile Leitern aus einer tiefen Schlucht seitwärts des Klosterberges herauftragen, auch das Holz für den Winter. Wenn die Mönche zu alt und zu gebrechlich dafür waren, besorgten Angehörige aus dem Dorf diese Arbeit. Über 100 Mönche sollen in den kleinen Häuschen im Fels wohnen. Der Abt sei gleichzeitig Abt von Tikze und politischer Vertreter in der Regierung von Kaschmir und sei daher meist abwesend. Auf den Dächern des Klosters stehen gleich mehrere "Storchennester", die Altäre für die örtlichen Naturgeister. Im dunklen Gonkhang, dem Tempel für die Schutzgeister, steht ein schwarzer Mahakala, sein Gesicht ist wie das der anderen Figuren verhängt, um die Besucher vor der Macht des Anblicks zu schützen. Der Mahakala, der große Schwarze, eine Form des Hindugottes Shiva und Schutzgott der Mongolei, trägt statt des Hackmessers und der blutgefüllten Schädelschale einen abgeschlagenen, mumifizierten Arm und einen Kopf in seinen Händen, makabre Hinweise auf einen Sieg über ein Tibeto-Mongolenheer im 17.Jahrhundert, das auf Veranlassung des 5. Dalai Lama Ladakh unterwerfen wollte. |