Am Nachmittag fahren wir von 415 m hinauf nach San Christobal, 2100 m hoch. Hier ist das Zentrum der Tzeltal- und Tzotzilindianer. Die Frauen tragen grelle rote Stoffe. Die Kinder hängen in Tüchern auf ihren Rücken. Die Haare der Frauen sind in Zöpfen um den Kopf gebunden, die hornartig nach vorne hoch gestellt werden. Die Räume der alten spanischen Häuser sind um einen Innenhof gebaut. Kein freier Blick in einen größeren Garten. Unser Hotel hat mehrere Innenhöfe, um die herum die feucht-muffigen Zimmer liegen. Die vielen Kirchen der verschiedenen spanischen Missionsorden haben meist eine prächtige Schauseite. Im Innern stehen die vielen lebensgroßen, christlichen Halbgötter in kostbaren Stoffen, manche mit Spitzenunterwäsche und echten langen Haaren. Vor ihnen liegen laut betend die bekehrten Indios auf den Knien und küssen innig alle erreichbaren Stoffteile. Im Gegensatz zu den vielen Heiligenstatuen steht im Chor von Santo Domingo eine riesige silberne Monstranz mit Strahlenkranz, in der eine Hostie gezeigt wird, eine Reduzierung der christlichen Götterwelt auf ein wesentliches Symbol. Darunter und darüber steht eine Statue des Ordensgründers, für die Ordensgeistlichen wohl die zweit wichtigste Gottheit. In der Kirche San Francisco sehen wir eine Indio-Madonna und Jesuskind in Spitzenröckchen. Auf dem Hochaltar steht ebenfalls eine Madonna auf dem Mond. Die eindrucksvollste Madonna entdecken wir in einem Antiquitätenladen. Sie trägt eine Krone und hat bewegliche Arme mit riesigen Pranken. Der Preis 5 000 DM. Abends machen wir einen Abstecher nach Paris. Wir essen in einem "Pariser" Hinterzimmer, das voll gehängt ist mit Pariser Sehenswürdigkeiten, mehrmals der Eiffelturm, Toulouse-Lautrec auf mehreren Fotos und vor allem Fotos von Schauspielern und Schauspielerinnen aus den Sechzigern. Im Eingangszimmer dagegen hätten wir revolutionäre Bilder von Che Guevara, Zapata und Subcomandante Marcos bewundern können. Diese Bilder finden wir auch in den Geschäften San Christobals, dazu noch große Strickmasken der Guerilleros und vor allem viele kleine, schwarze Stoffpüppchen der Zapatisten mit Maschinenpistole und schwarzen Stoffmaultierchen. Wir sehen, hier wird die Revolution nicht mehr ernst genommen, sie ist ein Teil der Kitsch- und Andenkenindustrie geworden. Das Militär wartet außerhalb und die Händler dürfen die Revolutionäre vermarkten. Später erklärt uns ein Indio, dass Marcos Armee aufgelöst sei, die Indios sich von ihm abgewandt haben und ihn aus dem Land gejagt hätten. Unser Gruppencomandante Volker nimmt das aber nicht so hin, schließlich hat er sich gerade ein T-Shirt mit dem Bild seines Idols gekauft. Er ist ganz empört und glaubt dem Indio einfach nicht. Das seien vielleicht nur Gerüchte. Recht so, Volker, das ist sicherlich nur eine ganz singuläre Meinung. Vielleicht ist das gar kein echter Indio. In jeder Straße sehen wir Internet-Cafes. Für 3 DM können wir 50 Minuten lang Botschaften nach Deutschland absetzen. Nach einer sehr kalten und unangenehmen Nacht fahren wir in zwei Indianerdörfer. Schon in der Nacht werden wir von den Böllern geweckt, die aus Anlass eines Festes von den Indios abgefeuert werden. In San Juan Chamula erleben wir am Tag des St. Andres eine Prozession mit Heiligenfiguren. Fahnenträger, Kerzenträger und Musiker verlassen gerade die Kirche San Juan Bautista. Sie beugen die Fahnen zur Mitte des Platzes, wo das Kreuz der Ahnen steht und wenden sich nach rechts. Der Weg ist grün ausgestreut mit den Nadeln der Terpentinkiefer. Der Vorhut folgen die Autoritäten des Ortes mit weißen Hüten und Tüchern, schwarz oder weiß gekleidet in selbst gewebten Überhängen. Es folgen 10 Heiligenfiguren auf Traggestellen. Seitwärts gehen Personen, die in großen Schalen Copal, ein Räucherharz, verbrennen, so dass die Figuren oft vollständig vom Rauch eingehüllt werden. Die Prozession schreitet den quadratischen Indiokosmos ab, in dessen Mitte das Herz der Welt liegt, ihr Wohnort Chamula. An den Ecken stehen außerhalb des ummauerten Platzes jeweils 3 m hohe Kreuze in Zweier- und Dreiergruppen, vor denen sich die Umherziehenden verneigen. Die Indios sehen in den unterschiedlich großen Kreuzen Symbole des Sonnen- und Mondgottes bzw. von Mann und Frau. In der Kirche stehen längs der Wände über 30 Glaskästen mit Heiligenfiguren, die meist einen Spiegel vor der Brust tragen. Christus spielt in diesem Götterpantheon eine untergeordnete Rolle. Als Symbole sehen wir an der Apsisdecke in der Mitte einen großen Engel, links einen Löwen und einen Stier, rechts einen Jaguar und einen Adler mit einer Schlange. Hier erscheinen also die Symboltiere der christlichen Evangelisten etwas abgewandelt. Nach dem Verbot der grotesken Mayagötter durch die Spanier fanden die Indios in dem Fundus der "schönen", christlichen Heiligen ihre Götter wieder. Neue Symbole in alter Bedeutung. Lange Stoffbahnen, die vom First zu den Seitenwänden hängen, geben der Kirche eine intime Zeltatmosphäre. Nach dem Umzug werden die Heiligen wieder in die Kirche gebracht. Dort brennen Hunderte von Kerzen in verschiedenen Farben auf dem Boden, während die Indiofamilien davor sitzen, Gebete murmeln, Posch (Schnaps) und Cola trinken, nach einiger Zeit den vor ihnen liegenden Hühnern die Hälse umdrehen, sich von Schamanen den Puls fühlen lassen, ihre Hühnereier hin und her drehen, vor sich hinstarren, der eintönigen, sich immer wiederholenden Musik einiger Trommeln, einer Gitarre und Flöte lauschen und wieder einen Schluck aus der Flasche nehmen. Auch wir sollen ein Gläschen trinken, damit auch wir von unseren Sünden und allen Übeln befreit werden. Der Beweis der inneren Befreiung liegt im Aufstoßen nach dem Colagenuss. Später erfahren wir die unglaubliche Geschichte, dass die Firmen Coca-Cola und Pepsi-Cola als Lieferanten des heiligen Getränkes ein Abkommen mit den Ortsvorstehern haben, dass nur ihre Getränke als heilige Getränke gelten sollen und bei jedem Ritus getrunken werden müssen. Die Herrschaft dieser Firmen zeigt sich auch im Ortsbild durch die vielen roten oder weißen Häuser mit dem Schriftzug der Firmen. Selbst auf den Sportgeräten und auf den Wassereimern leuchtet das Zeichen der Coca-Cola-Religion. Einen weiteren Einblick in die religiöse Welt der Indios bekommen wir beim Besuch des Hauses vom Majordomo, der jährlich neu gewählt wird und ein Jahr lang für die Verehrung des heiligen Juan Bautista zu sorgen hat. Die Figur wird währenddessen verborgen hinter Zweigen bei ihm aufbewahrt. Für den Kauf von Harz, Kerzen und Getränken für die damit verbundenen Zeremonien benötigt er viel Geld, das als Gegenleistung für obiges Abkommen von Coca- (Pepsi-) Cola zur Verfügung gestellt wird. Ein wichtiges Reinigungsritual läuft während des Karnevals ab, in den Übergangstagen des alten Mayakalenders, um die Unordnung in der Welt, die die Gesellschaft bedroht, zu bannen. Dann laufen Indios über einen Teppich aus glühenden Kohlen. Dieses Ritual folgt einer vorherigen Auseinandersetzung mit den Feinden: den Juden als den Verantwortlichen für den Tod des Sonnengottes Jesus, den spanischen Eroberern, den Landbesitzern und den Affen als Repräsentanten der Nacht und des Bösen. Nach der Zähmung des Bösen durch die Autoritäten kann die Sonne ihren neuen Kreislauf beginnen. Das Fleisch der Opfertiere darf nicht gegessen werden. Hinter den Häusern gibt es die Hühnergräber mit entsprechenden Kreuzen, Zweigen vom Lebensbaum und Coca-Cola Flaschen. Früher soll es auch Schafsfriedhöfe gegeben haben, da die Indios die schwarzen und weißen Schafe nur der Wolle wegen gehalten haben. Im zweiten Indiodorf, Zinacantan, hat ein anderer Mayastamm gesiedelt, der seit den Zeiten der spanischen Eroberung mit dem aus Chamula verfeindet ist. Die Bedeutung der Verehrung der Madonna und der Heiligen im Verhältnis zum Gottessohn Jesus wird an den figürlichen Darstellungen deutlich. Z.B. zeigt eine Madonna in der Körpermitte den Kopf des leidenden Jesu und eine große Hand mit Kreuzigungswunde zeigt auf den Fingerspitzen jeweils einen Heiligen und auf der Daumenspitze das Jesuskind. In Santa Lucia (San Christobal) finden sich medizinische Jesusknaben in einem weißen Kittel, die ein Stethoskop umhängen haben. Zu ihren Füßen viele Geschenke bzw. Votivgaben: eine Uhr, Ringe, Ketten. Die Figuren befinden sich jeweils in einem Glaskasten, sind puppengroß, tragen Puppenschuhe und haben die Beine übereinander geschlagen. In dieser Kirche stehen ebenfalls zwei Glaskästen mit Statuen der Santa Lucia, die ihrem Namen entsprechend als Heilerin von Augenkrankheiten gilt. Auf einem Tablett trägt sie zwei Augen und um den Hals eine ganze Kette mit Augen. Im Hintergrund sind Dutzende von Augen als Votivgaben angeheftet. |