Günter Neuenhofer, 2011-I, -II, 2012
Philosophie am Morgen
Wirklichkeiten, in denen wir leben I
Wirklichkeiten II
(In Bildern wahrnehmen und denken)
Wirklichkeiten III
(Literatur statt Philosophie)
Folgende Themen und Texte verweisen auf die Denkbereiche des Kurses und werden die Grundlage des philosophischen Gesprächs bilden:
-Was heißt Wirklichkeit? Die Bedeutung des Begriffs
-Absolute Wirklichkeit in Religionen und in der Metaphysik.
-Grenzen des Erkennens. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
-Kant: Von dem Unterschiede der reinen und empirischen Erkenntnis (Kritik der reinen Vernunft, Einleitung)
-Ch.S.Peirce: die Erscheiungsweisen des Seins
-Virtuelle Welten, der „Cyberplatonismus“
-Das Mögliche als das Wirkliche,
-Das Eine als das Jenseitige (Henologie)
-Wie die „wahre Welt” endlich zur Fabel wurde. Friedrich Nietzsche.
Die Entwicklung der Menschheit (Erich Kästner)
Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.
Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.
Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspülung.
……..
So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.
Der Mensch (Matthias Claudius,1783)
Empfangen und genähret
vom Weibe wunderbar,
kömmt er und sieht und höret
und nimmt des Trugs nicht wahr;
gelüstet und begehret
und bringt sein Tränlein dar;
verachtet und verehret;
hat Freude und Gefahr;
glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
hält nichts und alles wahr;
erbauet und zerstöret
und quält sich immerdar;
schläft, wachet, wächst und zehret;
trägt braun und graues Haar,
und alles dieses währet,
wenn's hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,
und er kömmt nimmer wieder.
Realität und Wirklichkeit
realistisch: durchführbar, praktikabel, anwendbar, wirklichkeitsnah, brauchbar, einsetzbar, geeignet, nutzbar, passend
wirklich:
Wirklich groß. Wirklich? Indeed?
Nicht wirklich - not really, not literally
Das gibt es wirklich. It is for real.
Ach wirklich? Also wirklich!
Das deutsche Wort Wirklichkeit wurde von Meister Eckhart als Übersetzung des lateinischen „actualitas“ eingeführt. Es bezeichnet den Seinsmodus, der von Möglichkeit und Notwendigkeit abgegrenzt ist. Dem Begriffspaar Wirklichkeit/Möglichkeit (Akt/Potenz) steht das anders akzentuierte Begriffspaar Realität/Idealität gegenüber.
Der Begriff „Wirklichkeit“ erklärt reale Dinge als Dinge, die eine Wirkung haben oder ausüben können. Insofern sind auch subjektive innere, z. B. emotionale Zustände der Wirklichkeit zugehörig, da auch sie Wirkung zeigen. „Wirklich ist, was wirkt.“
Deutsch: das Gewirkte, Hergestellte, Werk, s. mhd. schuohwürhte = Schuhmacher
Latein: rerus/veritas,res vera, verum, natura, ipse, certe, perfecto
Französisch.: réel, veritable, positif, effectif
Zitate zum Thema "Wirklichkeiten"
Nicht, was die Dinge wirklich sind, sondern was sie für uns in unserer Auffassung sind, macht uns glücklich oder unglücklich. (Arthur Schopenhauer)
Unsere Sinnesorgane entdecken die Welt nicht, sondern sie stellen Hypothesen über die Welt dar, die durch den Wahrnehmungsakt verifiziert werden. (Karl Popper)
Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. (Friedrich Nietzsche)
Eine Rose ist nur deshalb eine Rose, weil der Mensch sie als solche sieht; ohne ihn wäre sie nur ein Muster aus Energiewirbeln. (E.H. Shattuk)
Morgen ist nicht wirklich. Die einzige Wirklichkeit ist die Gegenwart. (Zen)
Traum: die Wirklichkeit des Unbewußten. (Lohberger)
Die Idee ist das Absolute, und alles Wirkliche ist nur Realisierung der Idee. (Hegel)
Wirklichkeit nach Paul Watzlawick:
Das wacklige Gerüst unserer Alltagsauffassungen ist im eigentlichen Sinne wahnhaft und wir sind fortwährend mit seinem Flicken und Abstützen beschäftigt, selbst auf die erhebliche Gefahr hin, Tatsachen verdrehen zu müssen, damit sie unserer Wirklichkeitsauffassung nicht widersprechen, statt umgekehrt unsere Weltschau den unleugbaren Gegebenheiten anzupassen.
Die Wirklichkeit 1. Ordnung ist das, was wir täglich zusammen mit anderen Menschen erleben, was anhand von Experimenten und durch Wiederholungen ,,überprüfbar" ist, wie zum Beispiel die Form, Farbe, Duft, Geräusche von bestimmten Objekten.
Die Wirklichkeit 2. Ordnung ist auf ein Individuum bezogen und mit ,,Grundannahmen" zu umschreiben, die wir über die Welt durch Erfahrung haben. Sie ist eng verbunden mit Sinn und Wertvorstellungen, die wir mit den Dingen an sich verbinden und das Resultat höchst komplexer Kommunikationsvorgänge.
Die Wirklichkeit 3. Ordnung ist das mehr oder weniger ,,einheitliche Bild", das wir aus unserer Erfahrung heraus erschaffen. Diese Ebene der Wirklichkeit ist identisch mit unserem Weltbild bzw. unserer Weltanschauung.
Wirklichkeit in Religionen
Die buddhistische Lehre unterscheidet häufig zwischen der „relativen Wirklichkeit“ und der „absoluten Wirklichkeit“. Die relative entspricht der alltäglich von jedem unerleuchteten Wesen individuell erlebten Welt, die geprägt ist von Leiden (Samsara). Die absolute Wirklichkeit, frei von individuellen Prägungen bzw. Bedingungen, wird in Nirvana erkannt, als die tatsächlichen Verhältnisse, Prozesse bzw. Wirkungen, frei von allem Leiden.
Manche Autoren bezeichnen die relative Wirklichkeit als „Erfahrungs-Welt“ und nennen nur die absolute Wirklichkeit als die „reale“, „letztendliche“ oder „tatsächliche“ Wirklichkeit.
Die relative Wirklichkeit (oder Erfahrungs-Welt) ist aus buddhistischer Sicht wie ein Traum zu sehen. Mit Hilfe von Praktiken wie Meditation und Yoga ist es möglich die „Traumhaftigkeit“ unseres Erlebens zu erkennen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass es keine Trennung zwischen Beobachter, zu Beobachtendem und dem Prozess des Beobachtens gibt. Die Emotionen Liebe und Mitgefühl allen Wesen gegenüber fördern die Entwicklung hin zu einer Erkenntnis der „absoluten Wirklichkeit“ die frei von Leiden ist.
In der christlichen Religion gibt es ein irdisches und ein himmlisches Leben (z. B. Matthäus 22, 1. Korinther 15). Das Überschreiten dieser Grenze, Kontakte der einen Welt zu der anderen, wird als Transzendenz bezeichnet. Dazu gehören z. B. der Heilige Geist als Gottes immanente Gegenwart, das Jüngste Gericht als Ausscheidung alles Bösen (vgl. 1 Kor 3,10-15 LUT, Mt 25,31-46 LUT), die Auferstehung als innerweltlicher Akt der Transzendierung des Christlichen in der Welt (1 Kor 15,42-50 LUT).
Die platonische Höhle,
ein Landschaftsmotiv und eine Erleuchtungsstrategie
Sie ist ein Image der Philosophie. Mit einem natürlichen Sachverhalt (vgl. Spiegel, Meer) wird eine Organisation von Gedanken "versinnbildlicht". Das geologische Phänomen ist "overloaded": mehrfach mit Bedeutung besetzt. Eine Höhle wird von aussen beschrieben. In diesem Begriff ist enthalten, dass es einen Höhlenausgang gibt, typisch nach oben. Dieses Bild präformiert also bereits eine Geschichte. Es bietet ein Muster zur Organisation eines Sachbereiches.
Der Cyberplatonismus
Bildung und Datenbanken
• 1. Die Besonderheit des platonischen Erbes, vor dem wir heute stehen ist: Unter dem Aspekt der Bildung wird das Aufsteigen der Menschen zu ihren höchsten Bestimmungen in der Vernunft und im Guten anempfohlen.
• 2. Gleichzeitig führt genau dieses Verfahren zum Konzept von Datenbanken, das sich gegen das Klischee vom "humanistischen Bildungsideal" wendet.
• 3. In Platon sind daher sowohl die rührende Geschichte von der individuellen Emanzipation sowie die technokratischen Entwicklungen angelegt.
Das Zeitalter der Computer bietet dem Menschen eine völlig neue Herausforderung: im Cyberspace kann sich praktisch jeder als Schöpfergott versuchen: das fängt bei der Erstellung eines eigenen Avatars an und hört auf beim Programmieren eines eigenen Paradieses.
(Avatar: ein virtueller Stellvertreter, das zweite Ich. Ursprünglich bedeutet avatara im Sanskrit "Abstieg", womit die Inkarnationen des Hindugottes Vishnu gemeint sind.)
Programme wie A.L.I.C.E. (Artificial Linguistic Internet Computer Entity) und D.A.V.E. (Dynamic Advanced Version Equipment)(www.http://alice.pandorabots.com/) sind nur zwei prägnante Beispiele dafür. Das Team rund um diese Programme träumt von einem künstlichen Wesen, das einem natürlichen Menschen ebenbürtig und gleich ist.
Was wenn A.L.I.C.E. uns wie durch einen Spiegel wahrnimmt? Kleine Kinder, die das erste Mal in einen Spiegel sehen, greifen automatisch dahinter. So falsch ist dieser Gedankengang doch gar nicht: was ist denn nun hinter dem Spiegel, wenn nicht eine andere Welt? Wäre es nicht denkbar, dass sich die Projektion als das eigentlich Projizierende herausstellt? Woher weiß ich, ob ALICE mich nicht die ganze Zeit zu sieht, wenn ich mit ihr chatte? Vielleicht ist es für sie, wenn sie mit mir redet, als würde sie in einen Spiegel sehen und mich hinter meinem Notebook erblicken, sehend, wie ich manisch auf die Tastatur einklopfe.
Dieses Dahinter-Greifen ist eine prägnante Erfahrung der Ausserweltlichkeit. Unsere Sinne führen uns dazu, einen Weltbereich anzunehmen, in dem wir die bekannten Verhaltensweisen fortsetzen können. Wie wenn wir durch ein Fenster steigen und auf der anderen Seite der Wand ankommen. Aber das funktioniert nicht so. Unsere Annahme wird erschüttert. Was folgt daraus? Pragmatisch wird man sich entsprechend arrangieren, aber dieses Enttäuschungsmanagment ist nur die eine Seite.
Die Umkehrung ist denkbar. Nicht wir sind solide und das Spiegelbild ephemer, sondern wir sind die Schatten. Der Traum spricht wahr, nicht die "Realität". Wenn wir so beschaffen sind, dass unsere Sinne sich derart täuschen lassen, könnte es sein, dass in der Täuschung "das Wahre" liegt. Wir sind in der Lage, die Vorgaben unserer sinnlichen Eindrücke zu korrigieren. Das ist eine Urteilsfähigkeit gegen den Anschein. "Wir wissen es besser, als unsere Sinne." Genau diese Kapazität enthält die Schema-Umkehr: Der Ausgangspunkt ist jene Welt, die uns in täuschender Weise erscheint.
Seit Platons Höhlengleichnis ist immer wieder Zweifel angemeldet worden, ob die Welt vom Subjekt überhaupt erkannt werden kann. Außer Frage schien es damals, daß es eine "objektive" Wirklichkeit gibt, die wir mittels unserer Sinne - wenn auch nur unvollkommen - erfassen können. In der Kritik der reinen Vernunft hat Kant diese Vorstellung relativiert, indem er Raum und Zeit als Anschauungsweisen der menschlichen Erfahrung auffaßte, sie also aus dem Bereich der absoluten Wirklichkeit in den der Phänomenologie rückte.
Wahrnehmung ist nicht Abbildung einer ontologischen Wirklichkeit, sondern kognitive Konstruktion. Oder, wie Heinz von Foerster es provokant formuliert: "Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung".
Dies hat mit dem neurophysiologischen Mechanismus unserer Wahrnehmung zu tun. Aus einer unstrukturierten Fülle unspezifischer Wahrnehmungsdaten werden im Gehirn möglichst stabile, sinnstiftende "Wirklichkeiten" errechnet. Diese Konstruktion erfolgt weder wertfrei noch objektiv, sondern ist von unserer individuellen mentalen Struktur, unseren Zielen, Wünschen und Erwartungen bestimmt. Da es jedoch zu einer Wechselwirkung zwischen Beobachter und Beobachtetem kommt, kann das, was wir zu erkennen glauben, nicht die Abbildung einer vom Erleben unabhängigen Welt sein.
"Objektivität ist die Illusion, daß Beobachtungen ohne einen Beobachter gemacht werden können".
Für Ernst von Glasersfeld stellt sich nun die Frage nach dem neuen Verhältnis von Wirklichkeit und Wissen. Erkenntnis bedeutet nicht mehr die ikonische Übereinstimmung mit einer absoluten Wirklichkeit, sondern die Suche nach passenden Verhaltens- und Denkweisen. An Stelle der Abbildung tritt die zweckorientierte Anpassung: wir erschließen uns die Welt, indem wir Schlüssel schmieden. Ebenso, wie verschiedene Schlüssel ins Schloß passen können, gibt es auch mehrere mögliche Wege, deren Wert sich erst im praktischen Nutzen erweist.
Der Radikale Konstruktivismus liefert keine neue Weltanschauung, sondern ein mögliches Modell der Erkenntnis in kognitiven Lebewesen, die imstande sind, sich auf Grund ihres eigenen Erlebens eine mehr oder weniger verläßlich Welt zu bauen, eine von vielen möglichen. Da Erkenntnis nicht mehr die Übereinstimmung mit einer absoluten Realität bedeutet, wird die Eigenverantwortung und Handlungsfähigkeit des Individuums in den Vordergrund gestellt. Es ist für seine Wirklichkeitskonstruktionen ebenso verantwortlich wie für die Gesellschaft, welche es mitkonstruiert. "Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch, daß wir sie leben". (Santiagotheorie von Maturana)
Mit der Aufgabe eines absoluten Wahrheitsanspruches führt der Radikale Konstruktivismus nicht nur zur Abkehr von jeglicher Doktrin oder Ideologie, sondern auch zur Toleranz gegenüber anderen Wirklichkeitskonstruktionen. Francisco Varela hat vorgeschlagen, anstelle des unfruchtbaren Wahr-Falsch-Schemas die Frage zu stellen, "ob ein Weg, die Welt aufzufassen, gangbar, möglich, wirkungsvoll ist". Damit wäre auch ein Weg gefunden, der weder zu Unterdrückung, Ausbeutung oder Tyrannei noch zu einer unkritischen Anything goes-Attitüde führt.
(Nach Karlheinz Essl / positionen, 1999)
Kybernetischer Platonismus
Der Gedanke, daß Menschen sich nicht nur als geistige, sondern auch als körperliche Wesen erfahren, scheint sich immer mehr in die Weiten der "Virtuellen Realität" zu verflüchtigen. Was dort übrig bleibt, ist allein der Geist, das Denken, die reine Intelligenz. Der Körper dagegen hat ausgedient, er wird zur sterblichen Hülle, die keine Funktion mehr besitzt. Elisabeth List weist nun darauf hin, daß derart leibfeindliche und "vergeistigte" Visionen der Zukunft eigentlich auf alten Mythen und philosophischen Ideen der Vergangenheit basieren.
Maschinen werden nicht als ein Fremdes, das dem Menschen als "homo faber" gewissermaßen von außen in seiner Geschichte entgegentritt, wahrgenommen, sondern organische Verlängerungen des Körpers, genuine Objektivationen von Fähigkeiten des Lebendigen.
Auf dem Hintergrund dieser kultursemiotischen Überlegungen läßt sich das Phänomen des kybernetischen Platonismus situieren: Gerade die avanciertesten Entwicklungen der telematischen Kultur, sogenannte Technologien der "Telepräsenz" und der Konstruktion "virtueller Realitäten", apparativ erzeugter Wahrnehmungsumwelten, haben zu einer unerwarteten Reaktualisierung eines alten Mythos der antiken Geistmetaphysik geführt in der Gestalt von Visionen mentaler "Telepräsenz" jenseits des alten Körpers. Es sind Visionen von der Möglichkeit eines Lebens des Geistes jenseits der psychophysiologischen Konstellation alltäglicher leibgebundener Sinnlichkeit und Sinnerfahrung, von der Möglichkeit, dieses Leben des Geistes aus seiner archaischen Leibgebundenheit, oder, in Platons Worten: aus dem Grab des Soma zu befreien. Solche Ideen stammen nicht aus den Labors der Artifical-Intelligence Forschung oder der modernen Robotik, sondern aus der Phantasiewelt der Science Fiction, der auch die Terminologie des Cyberspace entstammt.
Tatsächlich hat gerade das Thema des Cyberspace die besten Voraussetzungen, sich als vorläufig letztes Glied an eine Tradition der "großen Erzählungen" vom Fortschritt der Vernunft seit der Antike einzureihen, und zwar vor allem, weil es sich im Vokabular der arriviertesten Wissenschaften der Gegenwart, der Neurobiologie und der Telematik präsentiert und zugleich einem altehrwürdigen Mythos, dem platonischen Mythos vom Geist jenseits des Körpers, neue Inhalte gibt
Mythos, Science Fiction oder Wissenschaft? Alfred Whitehead, ein in diesen Fragen zuverlässiger Zeuge, hat einmal festgestellt, daß die Selbstdarstellungen, in denen sich der wissenschaftliche Geist als Heros der Zivilisationsgeschichte stilisiert, in erstaunlicher Weise den Inszenierungen der antiken Tragödie gleicht: Seit dem Augenblick, wo sich der Homo Sapiens zum aufrechten Gang erhebt und Werkzeuge gebraucht, ist der menschliche Geist, unausgesetzt nach Erkenntnis und Wissen strebend, im Kampf mit einer widerständigen und unberechenbaren Natur.
Platon
Betrachten wir die platonische Version des Mythos. Platon ist in der Geistes- und Religionsgeschichte des Abendlandes nicht zuletzt deshalb so einflußreich, weil seine Dialoge voll sind von Mythen und Bildern vom erkennenden Selbst auf der Suche nach Wahrheit, von Bildern des Menschlichen und des Göttlichen. Platons mythische Deutungen von Wissen und Eros im Symposion, seine verschiedenen Versionen von der Reise aus dem Reich des Werdens und des Scheins, die den sinnlich-körperlich Existierenden in die höheren Regionen der ewigen Ideen führt, gehören noch heute zum Grundbestand des Bildungs- und Kulturwissens. Bei Platon sind die Mythen vom reinen Geist verbunden mit der Lehre vom Guten und mit seiner Vorstellung vom idealen Staat, was ihn davor bewahrte, die empirische Welt des Erkennens und Handelns vollständig zu verleugnen. Aber als Subtext vermittelt er die alte Lehre des Parmenides, daß der Zugang zum höheren Wissen und zum wahren Sein die Überwindung der Kontingenzen der leiblichen Existenz voraussetzt, ja ihr eigentliches Ziel ist….
Platon wurde indes namensgebend für jene erkenntnistheoretischen und ontologischen Doktrinen, die die Phänomene des Bewußtseins gänzlich dem Bereich des Geistig-Immateriellen zuordnen und auch so erklären. Sie fanden über den Neoplatonismus, die der Theologie der Kirchenväter einen philosophischen Rahmen bot, Eingang in das Denken des christlichen Abendlandes und ihre Wirkungsgeschichte reicht bis weit ins neunzehnte Jahrhundert.
…wenn wir Romane lesen, Musik hören, meditieren, beten oder träumen, verlassen wir in einem gewissen Sinn mit der Richtung unserer Aufmerksamkeit die alltägliche Welt der raumzeitlichen Dinge, wechseln in einen Bereich der außeralltäglichen Wirklichkeit, in verschiedene "Subuniversa des Sinns", die alle nicht im selben Sinn real sind wie die Alltagswelt als Sphäre des Handelns, des Agierens mit Objekten oder des leibhaftigen In-Beziehung-Tretens mit anderen Individuen. Wir leben, wie es der Phänomenologe Alfred Schütz nennt, in mannigfaltigen Wirklichkeiten, ohne daß die Alltagswelt jenen ausgezeichneten Realitätsakzent verliert, der ihr eigen ist. ….
Dieser besondere Realitätsakzent kommt der Alltagswirklichkeit aufgrund ihrer pragmatischen Priorität zu: sie ist die Welt, in der wir handeln und unser Leben fristen. Sie als real zu erkennen, ist auch ein moralisches und politisches Erfordernis.
Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die entscheidende Frage, wie weit der Prozeß der Entmaterialisierung und Entkörperlichung menschlichen Wissens gehen kann. Selbst wenn wir nur als Software in einem Datennetz existieren würden, würden wir noch glauben, daß wir einen Körper haben. Kurz: Die Idee der vollständigen Entkörperlichung ist irrig, vielleicht aber weniger ein echter Mythos als handfeste Ideologie.
Kann man nicht sagen, daß auch die Gemeinschaft der Christen eine virtuelle Gemeinschaft ist, geeint durch die Bibel und Gottes Wort? Und vermittelt diese Einheit durch die Matrix der Gnade und der Offenbarung nicht auch ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit, auch wenn sich niemals alle Mitglieder der Gemeinschaft von Angesicht zu Angesicht sehen können?
Offenbar ist es so, daß viele Menschen "online" Gefallen daran finden, aus ihrer Isolation vor ihrem Computerarbeitsplatz mit ein paar kurzen Befehlen einen Sprung im Electronic cafe vorbeischauen können um ein paar "hallo, wie geht's auszutauschen.
Die Wunder der Teletechnologien machen blind dafür, daß die Probleme noch immer darin gründen, daß wir nicht gelernt haben, mit unserer leibhaften Daseinsweise zurechtzukommen. Die Geschichte des nicht bewältigten Rassismus, Nationalismus und Sexismus bestätigt diese Vermutung.
(nach Elisabeth List. Leib/Maschine/Bild. Körperdiskurse der Moderne und der Postmoderne, 1997)
Alles Erworbne bedroht die Maschine (Rilke)
ALLES Erworbne bedroht die Maschine, solange
sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen, zu sein.
Dass nicht der herrlichen Hand schöneres Zögern mehr prange,
zu dem entschlossenern Bau schneidet sie steifer den Stein.
Nirgends bleibt sie zurück, dass wir ihr ein Mal entrönnen
und sie in stiller Fabrik ölend sich selber gehört.
Sie ist das Leben, - sie meint es am besten zu können,
die mit dem gleichen Entschluss ordnet und schafft und zerstört.
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert
Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen
Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.
Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus ...
Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,
baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.
Philosophie am Morgen Günter Neuenhofer, VHS 2011
Wirklichkeiten wahrnehmen, denken, in Bilder fassen
R. Magritte, Der falsche Spiegel, 1929
Magritte verzichtet auf die aktive Funktion des Auges - das Schauen - und zeigt stattdessen nur seine reflektierende Funktion - die Spiegelung des Himmels auf der Hornhaut.
Materialien:
Bilder des Lebens im Film „The Problem“ von J.Fabre,
Bilder des Seins in Texten von S.Beckett,
Bilder des Vollkommenen in Installationen von Byars,
Mythos des Sisyphos von Camus,
die Höhle bei Platon,
Zhuangzi,
Henologie,
das Globusspiel bei Cusanus,
die chinesischen Symbole Yin und Yang,
Kugel und Stein als Symbole,
Goethes „Stein des guten Glücks!“,
„Lichtung“ der Wahrheit durch Kunst (Heidegger),
das Sein als Nichts, als Abstraktum (Malewitsch),
Erscheinungsweisen des Seins nach Peirce,
soziale Wirklichkeiten nach Searle,
Lebenswelt nach Husserl…..
http://www.angelos.be/EN/works/17
“The Problem”
2001 | colour, 16 mm, German spoken, 2 screens, 30"
performed by: Jan Fabre, Dietmar Kamper, Peter Sloterdijk
The Problem is a film made in September 2001. We see three men, the philosophers Dietmar Kamper and Peter Sloterdijk, and Jan Fabre himself, dressed in bow tie and tails. Each of them is pushing along a large sphere. The spheres look like giant globes of the world. But the men could equally well be beetles pushing balls of dung along in front of them. As the sun rises the three solemnly-clad gentleman start to roll their spheres back and forth. They take turns to give a sort of speech in front of the camera, striking their sphere to make a point, try to climb onto it and roll off again, exchange spheres, see whether they roll down the slope of their own accord or not, set off again with new heart, meet up with each other again, and again make a little speech.*
In this activity we recognize the metaphor of Sisyphus. The artist has to keep on toiling. His work is never finished. The artist is destined to repeat his rituals until the day of his death. But there is more. The title of this film The Problem refers to the Greek word problema, the literal meaning of which is 'something that is thrown forward'. This also applies to metaphysical problems, the contemplation of the world which so many artists and philosophers attempt. According to the philosopher Deleuze, a theory is always a problem, something you have to roll along in front of you, not a static thing that just waits for you like an objective concept. Knowledge, worldview, opinion, artistic theory, philosophy (understood as a desire for insight): we roll them along in front of us like an ever-expanding ball to which the soil clings.*
But this is above all a metaphor for human life. That too is not simply lying there waiting for us. A life does not just unfold we have to push it along in front of us. We have to develop and extend our own lives. Especially in this postmodern era, now that we have unmasked every paradigm as relative and have to build up our own philosophy of life. This layer of meaning assumed even more significance because Dietmar Kamper was extremely ill at the time of filming and knew that he was going to die several weeks later.
Der „Stein“ als Symbol
Der Mythos von Sisyphos ( A. Camus)
Die Strafe ist die „Sisyphos Arbeit“: Sisyphos wird sein restliches Dasein fristen, indem er einen Felsblock einen Berg hinaufwälzen muß. Sobald er den Gipfel aber erreicht hat, rollt der Felsblock zur anderen Seite wieder hinab.
„Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. [...] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein. […] Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Platon: Der Staat, 7. Buch, Das Höhlengleichnis
Anti-Utopien
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf (Thomas Hobbes: homo homini lupus)
1. Das Anti-Höhlengleichnis von Friedrich Dürrenmatt aus „Der Winterkrieg in Tibet“ (Stoffe I) Der Mensch ist sich selbst ein Wolf. Situation der Menschen nach einem Atomkrieg. Der Mensch als ein Cyborg, ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und angewachsener Tötungsmaschine)
2. Pistolen-Bild von Maria Lassnig „Du oder ich“ und Weihnachtsbilder des Gun-Club mit Maschinenpistolen
3. „Ein Höllengleichnis“: Samuel Becketts bildhafte Weltdeutung in „Der Verwaiser“, „Quadrat“ und „Glückliche Tage“ u.a.“ Endspielen“
4. Gilles Deleuze als Beispiel eines neuen Denkens
5. G. Deleuze „Erschöpft“. Eine Interpretation von Becketts „Quadrat“
6. Filmaufzeichnungen von „Quadrat I und II“ und „Geistertrio“
Samuel Beckett, Texte
In der Pantomime Quadrat I + II von 1979 schreiten vier Figuren in genauen choreografischen Mustern, zunächst ruhelos, später müde, die Linien eines Quadrats ab.
In „Der Verwaiser“ von 1966 wird ein zylinderförmiges Gefängnis mit einer Unzahl umherirrender Insassen imaginiert, das eine Parabel der Existenz nahezulegen scheint.
Glückliche Tage 1960)
Im ersten Akt steckt Winnie, „eine etwa 50-jährige, gut erhaltene Blondine“, bis über die Hüfte in einem Erdhügel, der die gesamte Mitte der Bühne einnimmt. Sie schläft vornüber gebeugt, den Kopf in den Armen, die auf dem Abhang vor ihr ruhen. Erst das lange, durchdringende, zweimal wiederholte Schrillen einer Kingel weckt sie aus ihrem Schlummer. Neben ihr steht eine große schwarze Einkaufstasche, aus der sie im Laufe des ersten Aktes - neben verschiedenen Hygieneartikeln, Schminkutensilien und einer Lupe - auch einen Revolver hervorkramt. Gegen die gleißende Sonne, in die das Stück von Anfang bis Ende getaucht ist, versucht sie sich mit einem kleinen Sonnenschirm zu schützen, der jedoch bald in Flammen aufgeht. Ihr Oberkörper, über dessen nackte Schultern eine Perlenkette hängt, ist bereits so steif geworden, dass sie sich nicht weit genug nach hinten wenden kann, um zu sehen, was in ihrem Rücken vor sich vorgeht.
Im zweiten Akt schaut aus dem „Grabhügel“ nur noch Winnies Kopf heraus, und auch der kann nur noch Mund und Augen bewegen. Hinter dem Hügel - nicht nur für Winnie, sondern (bis auf den Hinterkopf) auch für den Zuschauer meistens unsichtbar - befindet sich ihr Ehemann Willie. Während Winnie fast pausenlos monologisiert, beschränken sich die Beiträge ihres Mannes auf wenige Gesten und Worte. Er liest die Überschriften und Inserate einer alten Tageszeitung, mit der er sich ab und zu kühlende Luft zufächelt, und beantwortet Winnies Fragen einsilbig oder gar nicht. Einmal lässt er sich zu ein paar krächzenden Tönen eines Liedchens hinreißen, dann schweigt er lange, sodass Winnie schon vermutet, er sei gestorben oder taubstumm geworden. Erst in der Schlussminute verlässt er seine Deckung und kommt auf allen vieren, aber in voller Abendgarderobe hervorgekrochen und versucht, begleitet von Winnies Anfeuerungsrufen, den Hügel zu erklimmen, um ihr Gesicht zu erreichen. Vergeblich. Er rutscht ab und bleibt erschöpft, mit dem Gesicht nach unten, ihr zu Füßen liegen. Als er wieder Kraft genug gesammelt hat, um wenigstens den Kopf zu heben, flüstert er ein einziges Mal, kaum hörbar, ihren Namen. Die beiden Alten starren sich lange und reglos an, bis der Vorhang gefallen ist.
Samuel Beckett, Für Avigdor Arikha
“Wieder auf dem Sprung gegenüber dem unbezwinglichen Außen. Auge und Hand fiebernd nach dem Nicht-Selbst. Durch die von ihm unablässig veränderte Hand unablässig verändertes Auge. Zum Nicht-zu-Sehenden und Nicht-zu-Schaffenden vor- und zurückstoßender Blick. Ruhe im Hin und Her und Spuren dessen, was es heißt, zu sein und gegenüber zu sein. Tiefe wunde Spuren.“
Gilles Deleuze
(Paris 1925 -1995)
Deleuze steht in der langen Tradition europäischer Denker, die sich mit der Kritik des Essentialismus beschäftigten (Theorien, die vom "ontologischen Primat der essentia vor der existentia ausgehen). Was sollte jedoch an dessen Stelle treten? Für Deleuze war dies das All-Eine, die Totalität von Allem, die das gesamte physikalische Universum und seine Möglichkeitsbedingungen umfasst. Deleuze richtete sich damit auch gegen den Platonismus. Platons Auffassung war, dass die Dinge der Welt nur unvollkommene Manifestationen von Ideen seien, die selbst vollkommen, ewig und unveränderlich sind. Deleuze setzte dem seine Vorstellung von der Welt des Virtuellen entgegen. Jede Realisierung von Gegenständen in der Welt ist ein Nexus (Ort eines Verbundenseins) von Virtualitäten, die notwendigerweise unvollkommen miteinander interagieren. Da sie unvollkommen sind, stören sie auch die zukünftige Realisierung von Virtualitäten.
Deleuze und Guattari propagieren Heterogenität, Vielheit, nomadische Wissenschaft und den organlosen Theorien, die vom "ontologischen Primat der essentia vor der existentia ausgehen Theorien, die vom "ontologischen Primat der essentia vor der existentia ausgehen Körper. Ihr wichtigster Begriff, das Rhizom, soll eine Alternative zu gedanklichen Modellen sein, die als „Bücher“ Anspruch auf Repräsentation der Welt erheben. Dazu gehört der Baum des Wissens, der seit Platon das zentrale Modell für die hierarchische Organisation der Wissenschaften war, aber auch deren modernistische Gegenkonzeption der „Wurzelbüschel“, die als Gegenbewegung in der Weltbeschreibung eine Fragmentarisierung erreichen will, durch diesen Prozess aber stetig Verweise auf höher gedachte, allumfassende Einheiten bewahrt.
Metapher für altes Denken
Rhizom bedeutet die Befreiung von definierten Machtstrukturen: Viele Perspektiven und viele Ansätze können frei verkettet werden. In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber viel, womit man experimentieren kann. Ein Buch muss mit etwas anderem "Maschine" machen, es muss ein kleines Werkzeug für ein Außen sein. Ja, nehmt was ihr wollt. (Gilles Deleuze / Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve Verlag 1977, S. 40).
„Nehmt, was ihr wollt und macht, ja, was denn wohl? Macht Rhizome damit, nur unterirdische Sprösslinge und Luftwurzeln. Wildwuchs und das Rhizom sind schön, politisch und verlieben sich….Seid der rosarote Panther und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian.“
sic et non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz
Dr. Willi Huntemann. Geb. 1960. Studium der Germanistik und Philosophie; Arbeitsgebiete: deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Literaturtheorie und literaturdidaktische Fragen; ausgewählte Publikationen: Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard. Würzburg 1990; „Treue zum Scheitern“. Bernhard, Beckett und die Postmoderne, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Text + Kritik H. 43 „Thomas Bernhard“, 3. Aufl. 1991; lebt bei Krakau/ Polen.
In manchen der Fernsehspiele erkennt man Themen und Motive aus dem Bühnen- und Prosawerk des Autors wieder, aber konzentrierter, formalisierter gestaltet und jeden Anscheins von Naturalismus wie auch jeden clownesken Charakters entkleidet; so etwa die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in He, Joe von 1966, dem frühesten der für das Fernsehen geschaffenen Stücke, das Deleuze aus besonderen Gründen nicht zum eigentlichen Fernsehoeuvre zählt: Eine Frauenstimme aus dem Off konfrontiert einen Mann in seinem kargen Zimmer, der die ganze Zeit stumm bleibt und nur mimisch reagiert, mit den Fehltritten seiner amourösen Vergangenheit, nur dass dies, anders als in dem Monodram Krapp’s last tape von 1958, gegen seinen Willen geschieht. In den Spielen Geister-Trio (1975), ... nur noch Gewölk ... (1976) sowie Nacht und Träume (1982) geht es um das Warten und die Evozierung eines imaginierten Gegenübers, das die solipsistische Existenz der Figur durchbrechen könnte. Der Botenjunge in Geister-Trio, der dem in die Musik seines Kassettenrekorders versunkenen Protagonisten stumm das Ausbleiben des Erwarteten bedeutet, mutet wie ein direktes Selbstzitat aus Warten auf Godot an. Und die Pantomime Quadrat I + II von 1979, wo vier Figuren in genauen choreografischen Mustern, zunächst ruhelos, später müde, die Linien eines Bühnenquadrats abschreiten, wirkt wie eine Variante zum Prosatext Der Verwaiser von 1966, der ein zylinderförmiges Gefängnis mit einer Unzahl umherirrender Insassen imaginiert und eine Parabel der Existenz nahezulegen scheint. Doch anders als auf der Bühne ist alles Narrative auf ein Minimum reduziert, haben sich Stimme und Schweigen von der sichtbaren Aktion und der Figur gelöst und sind zu autonomen Bedeutungsträgern geworden. Eine Erzählerstimme aus dem Off spricht zur Figur (He, Joe), über die Figur (Geister-Trio) oder spricht, wenn es die Stimme der Figur selbst ist, in einem Erinnerungsprozess über und zu sich selbst (... nur noch Gewölk ...). (Vorläufer dieser Dominanz des nahezu völligen Schweigens sind die Pantomimen Akt ohne Worte I + II von 1956 und die Theaterszene Atem von 1968.) Damit folgen diese Werke einer Tendenz, die sich überhaupt in der Beckettschen Werkentwicklung zeigt: eindeutige Mimesis und personale Identität werden zunehmend problematisiert durch den immer größer werdenden Anteil an Imagination und Erinnerung sowie die andauernde Reflexion darauf. Sprechen erfolgt immer an der Grenze zum Verstummen und dient nur noch der Vergewisserung des eigenen Existierens. Das Medium Fernsehen kommt dieser Entwirklichung insoweit entgegen, als Figuren gleichsam körperlos ein- und ausgeblendet werden können, wie etwa die Traumerscheinung in Nacht und Träume. Überdies ist kein Spielraum mehr gegeben durch eine ausdeutende Inszenierung, wie er Theatertexten naturgemäß innewohnt, sondern durch Beckett in Personalunion als Regisseur seiner Fernsehspiele ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung seiner Intentionen gewährleistet. Neu hinzu kommt als weiterer autonomer Bedeutungsträger die Musik: eingespielte Auszüge aus dem titelgebenden Klaviertrio von Beethoven in Geister-Trio oder das Schubertlied Nacht und Träume in Becketts Traumspiel.
Wie bereits gesagt, sind für Deleuze die Fernsehspiele keine Nebenwerke. In seinem Essay, der nichts Geringeres leistet als die Skizze einer integralen Werkdeutung, schreibt er ihnen einen genauen Ort in der werklogischen Entwicklung zu und macht sie in der Werkpoetik fest. (Dietmar Kammerer spricht in seinem instruktiven Einführungstext, der detailliert auf die Entstehungsumstände der Fernsehspiele und die Zusammenarbeit mit dem Süddeutschen Rundfunk eingeht, vom „Fluchtpunkt von Becketts künstlerischem Schaffen überhaupt“ (S. 54).) Ausgangs- und Leitbegriff ist dabei der Begriff der Erschöpfung in seinem Doppelsinn: etwas erschöpfen und erschöpft von etwas sein. Das Durchspielen von allen gegebenen Möglichkeiten, ohne eine zu verwirklichen, führt zur physiologischen Erschöpfung. Dieser Ansatz als Beschreibung des grundlegenden Weltverhältnisses von Becketts Figuren führt zu anderen Ergebnissen als die geläufigen Deutungen: „Daher dürfen die an ihr Ende gekommenen, ausgemergelten Figuren in Becketts Stücken nicht wie meist üblich als Ausdruck einer Entleerung oder eines nihilistischen Bewußtseins verstanden werden. Denn indem sie auf das Wirkliche verzichten, erleben sie die Fülle des Möglichen, wenn auch um den Preis, von uns nur noch als zerfallene, ausgefallene Subjekte angesehen werden zu können“ (Kammerer, S. 56). Diese Erschöpfung erstreckt sich auf drei, von Deleuze terminologisch als „Sprache I III“ gefasste Vorkommensweisen von Sprache. Zunächst gibt es die „Sprache I“, „bei der die Aufzählung die Sätze ersetzt und die kombinatorischen Relationen die syntaktischen: eine Sprache der Nomen“ (Deleuze, S. 12). Ein Beispiel dafür ist die Permutation der „Lutschsteine“ in Molloy. Die Erschöpfung dieser kombinatorischen Sprache führt zur „Sprache II“, „die nicht mehr die der Nomen, sondern die der Stimmen ist, die nicht mehr mit kombinierbaren Atomen arbeitet, sondern mit vermischbaren Strömen“ (ebd.). Die Erschöpfung dieser Sprache führt schließlich zur „Sprache III“, dem „visuelle[n] oder akustische[n] Bild, vorausgesetzt, man befreit es von den Ketten, mit denen die beiden anderen Sprachen es festhalten“ (S. 15). Das Bild ist das Kernkonzept von Deleuze, vorbereitet in seinen vorangegangenen Schriften aus den achtziger Jahren zum Bild in der Malerei und im Kino. Deleuze sieht nun diese drei „Sprachen“ schwerpunktmäßig in den Beckettschen Werkgruppen bzw. Werkphasen verwirklicht: Sprache I in den (frühen) Romanen, Sprache II in den Bühnen- und Radioarbeiten und Sprache III im Fernsehen. Die Sprache des Bildes ist der Fluchtpunkt in der werklogischen Entwicklung: „Es geht nicht mehr darum, sich ein Ganzes der Serie mit der Sprache I vorzustellen (kombinatorische „vernunftbefleckte“ Imagination) noch mit der Sprache II (gedächtnisbefleckte Imagination) Geschichten zu erfinden oder Erinnerungen zu inventarisieren“, sondern mit der Sprache III „zum Undefinierten vorzudringen wie zu einem himmlischen Zustand“ (S. 15). „Bild“ ist dabei weniger medial, sondern kunstphilosophisch zu verstehen; es „läßt sich nämlich nicht durch das Erhabene seines Inhalts definieren, sondern durch seine Form, das heißt durch seine ‚innere Spannung’“, es ist „kein Objekt, sondern ein Prozeß“ (S. 16). „Das Entscheidende beim Bild ist nicht sein kläglicher Inhalt, sondern die wahnsinnige Energie, die eingefangen wurde und jederzeit explodieren kann, so daß die Bilder nie lange andauern“ (S. 19). (Damit ist auch verbunden, dass sich Deleuzes Lesart gegen hermeneutisch-referenzialisierende Entschlüsselungen sperrt, wie sie den landläufigen Umgang mit Becketts Werken prägen.) „Das Bild ist ein kleines Ritornell, visuell oder akustisch, wenn die Zeit gekommen ist“ (S. 16), das epiphaniegleich vom Gedächtnis und der Vernunft befreit. Neben den Bild-Ritornellen gibt es Raum-Ritornelle „von Bewegung, Haltungen, Positionen und Vorgängen“ (S. 18). Quadrat und Geister-Trio sind solche Raum-Ritornelle, nur begleitet von (perkussiver) Musik und präsentierender Stimme, in ... nur noch Gewölk ... und Nacht und Träume kommt das Bild zur Erscheinung, begleitet nur von einer Stimme und den titelgebenden Zeilen aus dem Gedicht von Yeats (einem visuelle Bild). Diese Deutung ist schlüssig, doch im Falle von Quadrat, dem „musikalischsten“ der Fernsehspiele, unterschlägt Deleuze den zweiten Teil, den Beckett spontan im Verlauf der Produktionsarbeiten entwickelte: Quadrat II, wo die grau gewordenen Figuren nur noch langsam schlurfen. Damit ist ein Entwicklungsprozess angedeutet und eine Lesart als Existenzparabel scheint unabweisbar, wie sie etwa der Kritiker Georg Hensel vorschlägt: „ein bewegtes System von Monaden“, die „ein kinetisches Schicksalsmuster um ein Zentrum des Schreckens“ bilden (Die Quadratur des Greises, FAZ, 8.10.1981). Das scheint mir mehr Evidenz für sich zu haben als die hier doch etwas forcierte, formal-abstrakte Deutung von Deleuze, dessen anti-essenzialistische Philosophie referenzialisierende Deutungen auch dort vermeidet, wo sie sich aufdrängen. Somit entgeht er nicht ganz der „philosophischen Entmündigung der Kunst“, um mit einem Buchtitel des Philosophen Arthur C. Danto zu sprechen. He, Joe, das in der DVD-Edition auch noch in einer Zweitfassung mit dem Schauspieler Heinz Bennent von 1979 enthalten ist, ist für Deleuze „eher eine Einführung in Becketts Fernseh-Oeuvre“ (S. 28) und auch auf die Fernsehadaptionen von Bühnenstücken (Nicht ich in der englischen Originalfassung und Was wo, Becketts letzte Arbeit für die Bühne) geht er aus konzeptuellen Gründen nicht ein. Die Hinwendung zum Fernsehmedium und zur befreienden Ausdruckspotenz des Bildes ist letztlich Becketts immer größer werdenden Skepsis gegenüber Worten geschuldet: „Ihnen fehlt die ‚Markierung der Dehiszenz’, diese ‚Los-Lösung’, die von einer der Kunst eigenen Grundwelle kommt“ (S. 38).
Weitere Materialien zum Themenkreis „Die Wirklichkeit und das Sein“
In Requiem für die Medien (1972) entwarf Baudrillard eine Art „Anti-Medientheorie“. Seine Theorie der „Simulation“ diagnostiziert, dass heute die Bilder der Wirklichkeit, die vor allem über die Massenmedien vermittelt würden, wichtiger und wirklichkeitsmächtiger geworden seien als die Wirklichkeit selbst. Die durch die Medien simulierte Welt sei zur Scheinwelt, zum Simulakrum geworden, die in Form einer Hyperrealität die wirkliche Welt zunehmend verdränge.
„Warum ist nicht alles schon verschwunden?“ Denn tatsächlich ist alles längst schon verschwunden oder dabei zu verschwinden: die Welt und das Reale, der Mensch und die Dinge, die Moral, die Werte, die Unterscheidung von Gut und Böse. Dass der Theoretiker einer universellen Verfallsgeschichte sich hartnäckig weigerte, die verheerende Diagnose therapeutisch zu mildern, ist wohl einer, vielleicht der Grund, warum es um ihn stiller geworden war.
Das Kennzeichen dieses modernen Simulacrums besteht nach Baudrillard darin, dass die Unterscheidung zwischen Original und Kopie, Vorbild und Abbild, Realität und Imagination unmöglich geworden und einer allgemeinen „Referenzlosigkeit“ der Zeichen und Bilder gewichen sei.
Alles soll in operationalisierbare, kommunizierbare Information verwandelt werden. Doch nicht allein die Objektwelt verschwindet in diesem Szenario, dem Subjekt widerfährt ein vergleichbares Schicksal. Baudrillards Subjekte drohen in 24-Stunden-Kommunikationsanschlüsse transformiert zu werden. Rund-um-die-Uhr-Programme in Fernsehen und Internet sind bereits ein alter Hut, auch 24-Stunden-Realityshows gehen mittlerweile in die Normalität über. Mit dem Werbe-Slogan „Quatsch dich leer!“ fordert ein Telekommunikationsunternehmen seine Kunden auf, die Kommunikation zu perpetuieren. Der Satz spielt mit der Sucht nach dem Nichtabbruch der Kommunikation. Das Subjekt ist hierbei nichts über seine Funktion als eine von unendlich vielen Schnittstellen im Netzwerk hinaus.[3] Mit einem anderem Bild ließe sich sagen, dass Selbst zerfließt in seinen verstetigten Kommunikationskanälen. Genau wie die Realität verschwindet das Subjekt hier nicht aufgrund eines Mangels, sondern im Zuge eines Overkills seiner Repräsentationen.[4] http://ffw.denkraeume-ev.de/2-08/thomaschke/index.html
Ein Weg aus der Agonie Wahrnehmen bei Baudrillard und Deleuze http://www.anwesenheitsnotiz.de/nummer-0/inhaltlicher-ueberblick/ein-weg-aus-der-agonie-moritz-schumm
Zhuangzi
Um 365 vor Chr. bis 290 vor Chr. lebte Zhuangzi, der in seinem Werk Das wahre Buch vom südlichen Blütenland das Eine beschrieb:
„Im Uranfang war das Nicht-Sein des Nicht-Seins, war das Unnennbare. Daraus erhob sich das Eine. Dieses Eine in seinem Dasein, aber noch ohne Form, das die Dinge bekommen müssen, um erzeugt werden zu können heißt De.“
„Kein Ding ist ohne So-Sein; kein Ding ist ohne Möglichkeit. Darum, was vom Standpunkt des Ichs aus ein Querbalken ist oder ein Längsbalken, Häßlichkeit oder Schönheit, Größe oder Gemeinheit, Übereinstimmung oder Abweichung: im Dao sind diese Gegensätze aufgehoben in der Einheit. In ihrer Geschiedenheit haben sie ihr Bestehen; durch ihr Bestehen kommen sie zum Vergehen. Alle Dinge, die jenseits sind vom Bestehen und Vergehen, kehren zurück zur Aufhebung in der Einheit. Aber nur der Schauende kennt diese Aufhebung in der Einheit.“
Die Kreisform als Symbol des Absoluten
Henologie ist systematisch betrachtet eine dialektische Prinzipienlehre, deren Grundprinzipien das Eine, die Einheit und das Andere, die Andersheit sind. Das Eine als das Unsagbare ragt in den Bereich jenseits des Seins und der Erkenntnis. Ihm steht die Andersheit gegenüber. Zu ihr gehören das Sein als das, was ist, und die Erkenntnis als das, was erkannt werden kann. Zwischen dem überseienden Einen einerseits und dem Sein sowie der Erkenntnis anderseits besteht eine henologische Differenz, die nach Wyller nur durch Offenbarung aufgehoben werden kann. Das Absolute in seiner reinen Transzendenz ist jenseits des Seins und geht damit über alles Denkbare hinaus. Das Denken kann sich ihm nur in einer radikalen Negation nähern, deren „Vollzug das Wegnehmen von allem, das Fahrenlassen von allem ist.“ Im Vollzug der radikalen Negation ist letztlich auch die Negation selbst loszulassen. Erst die Aufhebung aller Erkenntnis und allen Denkens entspricht der Erkenntnistranszendenz des Absoluten.
„Die Befreiung durch Philosophie spricht sich in Sätzen aus, die Negationen sind. Diese aber vernichten nicht die Existenz, sondern öffnen ihr den Raum. Das höchste Wissen der Philosophie spricht sich als Nichtwissen aus, das aber nicht das anfängliche, zugunsten des Wissens aufzuhebende Unwissen, sondern das auf dem Grund allen Wissens, erst an dessen Grenze sich vollendende Nichtwissen ist.“ Karl Jaspers
Cusanus
oder Nicolaus von Kues (* 1401 in Kues an der Mosel, heute Bernkastel-Kues; † 11. August 1464 in Todi) wollte, dass seine Philosophie von allen Menschen verstanden wird. So entstand auch das Globusspiel, das den Menschen im Spiel seine Gedanken und Ideen näher bringen soll. Zu dem Spiel gehören eine Kugel mit einer Delle und viele aufgemalte Kreise. Hintergrund: Der Mensch ist eine Kugel, aber eine unvollkommene. Deshalb ist die Kugel und damit auch der Mensch mit einer Delle versehen, weil nichts absolut vollkommen ist. Der Mensch bewegt die Kugel und damit sich selbst durch die verschiedenen Kreise, die das Leben symbolisieren.
Yin und Yang
Nach dem I Ging” (“i tsching”) dem “Buch der Wandlungen”:
Im Anfang war “WU CHI” (”das Ohne Firstbalken”, die große Leere das unbegreifliche “Alles und Nichts” -> der geometrische Punkt vor dem Urknall?), dargestellt durch einen leeren Kreis. Plötzlich entsteht Bewegung “→yang” und Scheidung (Verdichtung und Trennung der Stoffe “→yin“).
Es entsteht also die Polarität (”yin” und “yang”) und “der Wandel” (die “Wandlungsenergie”), woraus wiederum “die zehntausend Dinge” (so bezeichnen die Chinesen in ‘alter’ Literatur z.B. von Lao Tse, Huai Nan Tzu, u.v.a. den Kosmos: die Materie, den Menschen, Tiere, Pflanzen und allem, was im Universum existiert) hervorgegangen sind und ständig hervorgehen.
Das hierfür existierende Symbol ist TAI CHI, “das Allerhöchste/das Letzte” (gemeint: “welches der Mensch noch zu begreifen oder zu erklären im Stande ist”), mit der allseits bekannten Darstellung von “yin” und “yang”.
Das Sein in der Kunst
Heidegger (1889-1976) beschreibt in seiner Arbeit über den "Ursprung des Kunstwerks" (1936) das „Wesen der Kunst als das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden”, die dem Philosophen diskursiv nicht zugänglich ist. Diese „Wahrheit des Seienden”, die das Kunstwerk „entbirgt” (bewusst macht), liegt in der vorgängigen Erschlossenheit des Seins, im Sinnhorizont, in dem uns die Welt immer schon gegeben ist, der sich uns als Horizont aber notwendig entzieht. Das Kunstwerk macht diesen ansonsten abgedunkelten Sinnhorizont sichtbar, ohne ihn allerdings vollständig aufzuklären und diskursiv abzuarbeiten; es „lichtet” das Sein vielmehr in seiner Dunkelheit, es erhebt die „Erde” (für Heidegger ein Symbol des sich jeglicher Diskursivität entziehenden Vorbewussten) zur „Welt” (dem Inbegriff des diskursiv „Gelichteten”): „Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. […] Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk lässt die Erde eine Erde sein”. Im Kunstwerk und nur im Kunstwerk offenbart sich Wahrheit als nicht stillzustellendes Wechselspiel von Diskursivität und Nichtdiskursivem.
Das blendende und erhellende Licht der platonischen Sonne bleibt für den Menschen unerträglich, für seine Wahrnehmungsorgane tötlich und für seine Erkenntnis ein schwarzes Feld, an dem er sich in einem unendlichen Prozess nach Sinn abarbeiten kann. Es bleibt der kreative Akt als bestätigende Selbsterschaffung des Menschen. In diesem Bereich wird "Erde" hergestellt und dabei das "Sein" in seiner Dunkelheit "gelichtet". Das schwarze Quadrat wird gewandelt und im Wechselspiel kommunikativer Akte zu sinnerfüllender Seinsbestätigung überblendet.
??? 'Wenn es eine Wahrheit gibt, so nur in der Gegenstandslosigkeit, im Nichts.' ???
Malewitsch fragt sich, was eigentlich die sogenannte Wirklichkeit sei. Die Antwort lautet: sie ist das Nichts. Will die Kunst die Urwirklichkeit erreichen, um sich nicht mit Scheingestalten abzugeben, so muß sie gegenstandslos sein. Nur dann wird sie ihr Ziel erreichen.
Das "schwarze Quadrat" von Kasimir Malewitsch (1914-15)
Der "Stein des Guten Glücks" oder "Altar der Agathe Tyche"
- so heißt ein Denkmal, das Johann Wolfgang von Goethe zu Beginn des Jahres 1777 in den Ilmwiesen zu Weimar setzen ließ.
Seine Bedeutung erklärt sich durch die Widmung an "Agathe Tyche", die Göttin des Zufalls, die in der Antike häufig als Beschützerin des Glücks einer Stadt verehrt wurde.
Tyche ist hier jedoch nicht als Person dargestellt: Goethe wählt für sein Denkmal eine symbolische Formensprache. Sie geht auf Sinnbilder zurück, die schon seit der Renaissance bekannt waren. Danach verkörpert der solide, steinerne Block Stabilität und Beständigkeit, auch die Unbestechlichkeit der Justitia. Die Kugel dagegen gehört zu dem Bereich des launischen Glücks, der Labilität, der ruhelosen Bewegung. Werden diese beiden gegensätzlichen Elemente miteinander kombiniert, so heben sie sich nicht etwa gegenseitig auf: Nein, sie verstärken einander und erzeugen so ein Gebilde mit einer neuen - doppelsinnigen - inhaltlichen Aussage. Die einander widerstrebenden Kräfte streben jetzt nach Ausgleich.
Erscheinungsweisen des Seins
Charles Sanders Peirce (*1839 in Cambridge, Massachusetts; † 1914 in Milford, Pennsylvania)
Als Grundlage aller weiteren Betrachtungen entwickelte Peirce eine Kategorienlehre, die sich nicht wie bei Kant mit den Arten der Erkenntnis, sondern mit Erscheinungsweisen des Seins befasst und die Grundlage seiner Zeichenlehre bildet. Die Kategorien von Peirce können nicht mit Logik beschrieben, sondern nur phänomenologisch untersucht werden. Sie sind in jedem Phänomen enthalten und daher universal. Begrifflich unterschied Peirce rein formal Erstheit, Zweitheit und Drittheit als Formen, in denen alles, was ist, sich widerspiegelt:
Searle beschreibt das zentrale Thema seiner Ontologie sozialer Phänomene wie folgt:
„Ein rätselhaftes Phänomen der sozialen Wirklichkeit ist die Tatsache, dass sie nur existiert, weil wir denken, dass sie existiert. Es ist ein objektives Faktum, dass das Stück Papier in meiner Hand ein 20-Dollar-Schein ist, dass ich ein Bürger der Vereinigten Staaten bin oder dass Giants die Athletics im gestrigen Baseballspiel 3-2 besiegt haben. All dies sind objektive Fakten in dem Sinne, dass sie nicht von meiner Meinung abhängen. Wenn ich das Gegenteil glaube, liege ich einfach falsch. Aber diese objektiven Fakten existieren nur durch eine gemeinsame Akzeptanz oder Anerkennung.“
Die soziale Welt besteht aus beobachterabhängigen Phänomenen, weswegen man von der Konstruktion sozialer Realitäten sprechen kann. Demgegenüber beschreiben die Naturwissenschaften beobachterunabhängige Phänomene, die folglich auch nicht konstruiert sind.
Philosophie am Morgen Günter Neuenhofer, VHS 2012-I,
Das Ende der Metaphysik
Literatur an Stelle der Philosophie
Richard Rorty, geb. in New York City am 04. Oktober 1931, gest. in Palo Alto (Kalifornien) am 8. Juni 2007
Anhand kleinerer Texte von Nietzsche und Rorty soll in das Verhältnis von Literatur und Philosophie eingeführt werden. Richard Rorty, der Vertreter des Neuen Pragmatismus, zieht aus philosophischen Gründen die Literatur der Philosophie vor: In der Literatur wird nach Rorty das Leben nicht zurecht gestutzt auf eine metaphysische Wahrheit. Diese Skepsis gegenüber dem Wahrheitsstreben der Philosophie erinnert an Nietzsches Antimetaphysik, mit dem entscheidenden Unterschied, dass Nietzsche einer der ersten und radikalsten Literarisierer der Philosophie ist und seine Texte die Grenze zwischen Literatur und Philosophie unterlaufen, während Rorty die Literatur an die Stelle der Philosophie setzen will.
Texte (Auszüge):
R. Rorty: „Eine Kultur ohne Zentrum“, Reclam, Stuttgart 1993; R. Rorty: „Hoffnung statt Erkenntnis“ Passagen, Wien 1994. Nietzsche: „Ecce homo“; Nietzsche: „Versuch einer Selbstkritik“ (Vorrede zur „Geburt der Tragödie“), Zur Einführung: F. Kittler: „Wie man abschafft, wovon man spricht“, in: Derrida, Kittler: „Nietzsche Politik des Eigennamens“, Merve, Berlin 2000.
Materialien/Gedankengänge
Der jugendliche Rorty, der sich zunächst von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin mitreißen ließ, wendet sich immer mehr von den Theorien der Philiosophie ab.
Nach Rorty besteht keine Notwendigkeit, davon auszugehen, dass es außer sensorischen Impulsen und den Ergebnissen neurophysiologischer Verarbeitungsmechanismen so etwas wie Mentales gäbe, das unsere Wahrnehmung vermittelnd gestalte.]
Alle Erkenntnistheorien des 16. und 17. Gehen davon aus, dass es die zwei Entitäten 'Körper' und 'Geist' gibt und dass der 'Geist' ein getreues Abbild der Wirklichkeit repräsentieren, d.h. 'spiegeln' kann. S. Lockes und Kants, die glauben, dieses 'Spiegeln' der Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen auf ihre Weise sicher begründet zu haben.
Rortys Alternative ist die „Philosophie ohne Spiegel“, die gemeinsames Handeln durch Kommunikation und das Hinsehen auf Personen- und Sachverhalte ermöglicht.
Das Bild, das die traditionelle Philosophie gefangenhält, ist das Bild vom Bewußtsein als einem großen Spiegel, der verschiedene Darstellungen enthält - einige davon akkurat, andere nicht - und mittels reiner, nichtempirischer Methoden erforscht werden kann. Ohne die Idee des Bewußtseins als Spiegel hätte sich eine Bestimmung der Erkenntnis als Genauigkeit der Darstellung nicht nahegelegt. (Der Spiegel der Natur)
vgl. Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger und John Dewey, die behaupten, 'Erkenntnis' sei ein Teil eines Sprachspiels. Philosophen sollen darauf verzichten, weiterhin nach idealen Theorien zu fahnden, die mit der Wirklichkeit korrespondieren müssen. Nach Jahrhunderten der Versuche gibt nach Rorty nachweislich keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich dies erreichen lassen werde.
An Wittgenstein anknüpfend, für den es außerhalb der Sprache keine erkennbare Welt gibt, schreibt Rorty: „Da Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, da die Existenz von Sätzen abhängig von Vokabularen ist und da Vokabulare von Menschen gemacht werden, gilt dasselbe für Wahrheiten.“ Metaphern üben einen Überraschungseffekt aus: Vergleichbar mit dem Schneiden einer Grimasse in einem Gespräch, so Rorty. Metaphern haben keine Bedeutung, können aber zufällig auf fruchtbaren Boden fallen.
Traditionelle Positionen erheben gegen ihn den Vorwurf, sich nicht an der Verbesserung der traditionellen Philosophie beteiligt habe.
»Ironikerin« werde ich eine Person nennen, die drei Bedingungen erfüllt:
(1)sie hegt radikale und unaufhörlicheZweifel an dem abschließenden Vokabular, das sie gerade benutzt…
(2) sie erkennt, daß Argumente in ihrem augenblicklichen Vokabular diese Zweifel weder bestätigen noch ausräumen können;
(3) wenn sie philosophische Überlegungen anstellt, meint sie nicht, ihr Vokabular sei der Realität näher als andere oder habe Kontakt zu einer Macht außerhalb ihrer selbst. (KIS,127)
Der nichtironische Metaphysiker
Das Gegenteil von Ironie ist gesunder Menschenverstand. (KIS,128)
Der Metaphysiker ist noch dem gesunden Menschenverstand verbunden, insofern er die Platitüden, die den Gebrauch eines bestimmten abschließenden Vokabulars einschließen, nicht in Frage stellt, vor allem die Platitüde nicht, die besagt, daß es eine einzige dauernde Wirklichkeit hinter den vielen vorübergehenden Erscheinungen zu finden gibt. Er gibt keine Neubeschreibung, sondern analysiert alte Beschreibungen mit Hilfe anderer alter Beschreibungen. (KIS,129)
Der Metaphysiker meint, daß wir zwar vielleicht noch nicht alle Antworten haben, aber jedenfalls schon die Kriterien für die richtigen Antworten besitzen. Er denkt also, daß »richtig« nicht nur bedeutet »geeignet für diejenigen, die so sprechen wie wir«, sondern das es eine stärkere Bedeutung hat; es heißt für ihn soviel wie »reale Essenz begreifen« .(KIS,132)
Äußerungen von Jürgen Habermas über Rortys Philosophie.
• “Rorty folgt Nietzsche in der …radikalen Umwertung platonischer Unterscheidungen. Rorty teilt Wittgensteins Auffassung, dass das falsche, in sich verhakte Leben auf falsche, verstellende Begriffe zurückgeht. …
• Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktische Bedeutung zurückzugeben, die sie einmal beansprucht hat. Sie soll, indem sie dem Einzelnen Orientierung anbietet, und den moralischen Fortschritt der Menschheit befördert, den Zustand der Welt verbessern helfen. …
• Freilich soll die Philosophie dieses Ziel nur verwirklichen können, indem sie sich als Philosophie aufhebt … durch eine mit und an der Philosophie vollzogene Umwälzung. …
• Sind erst einmal die Nutzlosigkeit der ontologischen Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, die Sinnlosigkeit der epistemologischen Unterscheidung zwischen Sein und Schein, die Überflüssigkeit der semantischen Unterscheidung zwischen wahr und falsch durchschaut, kann sich die philosophische Arbeit an praktischen Zielen … ausrichten.
• [Es] lockern sich mit dem Verzicht auf eine kontextunabhängige Wahrheitsgeltung und mit der Verabschiedung einer objektiven, von unserem Geiste unabhängigen Welt imaginäre Zwänge, denen wir uns ganz ohne Not unterworfen haben. …
• [Wir brauchen Erfindungen] neuer Vokabulare für ein jeweils verändertes Selbst- und Weltverständnis.”
Aus: Juergen Habermas: Richard Rorty und das Entzücken am Schock der Deflationierung. Laudatio aus Anlass der Verleihung des Meister-Eckhardt-Preises an Richard Rorty am 3.12.2001.