Khajuraho
Stadt der Dattelpalmen (Kharjuravahaka)
Ort der erotischen Tempel

Von Varanasi, der 3 Millionen-Pilgerstadt im Bundesstaat Uttar Pradesh, fliegen wir in 25 Minuten in südwestlicher Richtung nach Khajuraho im Bundesstaat Madhya Pradesh, einem kleinen Dorf abseits aller wichtigen Durchgangsstraßen. Hier befinden sich mitten in einer grünen Parklandschaft mehrere Tempelgruppen, die um 1000 n. Chr. errichtet wurden und die auf Grund ihrer Bauweise und vor allem auf Grund der großartigen Skulpturen zu den Höhepunkten indischer Kunst gehören. Von den ursprünglich 90 Tempeln stehen zwar nur noch 25, aber auch sie bezeugen die große Vergangenheit, als Khajuraho noch ein berühmtes Pilgerzentrum und die Hauptstadt eines Königreiches war. Heute ist K. ein kleines Dorf, das erst nach der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert und der Restaurierung der Tempel nach 1947 wieder durch den Tourismus Bedeutung erlangte und neue Straßen, Hotels und einen Flughafen bekam. Unser erster Eindruck bei unserer Ankunft ist, wir sind hinübergewechselt aus der lauten, quirligen Welt Varanasis in eine ruhige fast verlassene Welt inmitten einer relativ staubigen Landschaft. Im Hotel sind kaum Gäste, ebenfalls bei der Lightshow für Ausländer und auch bei der Besichtigung der Tempel am Tage treffen wir wenige Touristen. Unser Guide meint, die ausländischen Touristen meiden Indien seit einem Jahr wegen der Terroranschläge vom 11. September, wegen des drohenden Krieges mit Pakistan, wegen des Kaschmirkonfliktes und wegen der religiösen Unruhen in anderen Landesteilen zwischen Hindus und Muslimen. Wenn es auch im nächsten Jahr nicht besser werde, müssten mehr als 100 Familien den Ort verlassen. Diese Klage hören wir auch von unserem ersten Rikschafahrer, der uns ins alte Dorf fährt. Außer im Tourismusgeschäft gibt es hier auf den trockenen, unfruchtbaren Böden zwischen Granit- und Sandsteinflächen kaum eine Möglichkeit zum Leben. Jetzt am Abend haben sich viele Bewohner am alten Hanumantempel versammelt. Frauen gehen an den Statuen eines Nachbartempels vorbei und zeigen ihre Verehrung durch Blumengeschenke. Vor dem Tempel drängen sich auch viele Kinder um einen Traktor, während Erwachsene Statuen der Durga auf den Anhänger laden. Nach dem Dasshera-Fest wird hier eine Prozession mit den Figuren veranstaltet, bevor sie in einem Teich versenkt werden. Ein Kassettengerät untermalt den Umzug mit lautem Hindu- Pop, den einige Trommler noch verstärken. Noch später am Abend werden wir durch die laute Musik bei der stimmungsvollen Lightshow gestört.

Die Tempel

Zunächst erleben wir die Tempel am Abend in der Dunkelheit als ein mystisches Licht- und Hörerlebnis. Die Reiter der Chandella-Könige galoppieren durch das Gebüsch. Befehle werden überbracht, Priester kommen, weihen den Ort mit ihren Gesängen. Die Lichtspiele lassen die einzelnen Teile der Tempel in die Höhe wachsen und zeigen ihre eindrucksvollen architektonischen Strukturen. Die Tempelgesänge versetzen uns in die Welt des frühen Mittelalters. Wir erahnen den mystischen Kult des Tantrismus, der in diesen Tempeln die Erschaffung der Welt durch die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips nachvollzog. Wie hohe Berge aus weißem Sandstein ragen die Tempel mit unzähligen Graten über die dunklen Kronen der Bäume. Der Sockelbereich wird durch einige Balkone mit Fenstern aufgelockert, auf denen der Hauptturm in vier Geschossen, durch 16 Halbtürme und 28 kleinere Türme gestützt, in den Himmel hinauf reicht.

Beschwert von Blüten, beugen sich die Zweige
der Bäume nieder, silberne Regentropfen
glänzen darüber hin, ein schwüler Duft
ergießt sich durch den feuchten Raum und macht
die Liebenden voll Sehnsucht nacheinander.

aus Ritusamhara von Kalidasa

Am nächsten Tag sehen wir dann die westliche Tempelgruppe inmitten eines grünen Parkes. Alle Tempel liegen auf hohen Terrassen, die man über eine zentrale Treppe besteigt. Die Gläubigen stiegen symbolisch hinauf in einen religiös-geistigen Bereich. Dieser Aufstieg setzt sich in den gestuften Türmen des Tempels fort. Es ist ein Aufstieg auf den Weltenberg Meru und in den Bereich höherer Spiritualität. Die vielen unterschiedlichen Türme werden von einem flachen Kissen überwölbt, auf dem einige Lotosblumen in einer Topfspitze zusammengefasst sind, ein Symbol des mystischen Gipfels, den der Gläubige nach der Vereinigung mit der Gottheit erreicht. Im Innern erfolgt die Annäherung an das Gottesbild durch drei Vorhallen, die draußen jeweils ein eigenes pyramidenförmiges Dach tragen. Der Aufstieg ist gleichzeitig ein Weg aus dem hellen Licht in den dunklen mystischen Bereich des Göttlichen, in die Höhle bzw. die Gebärmutter, den die Gläubigen aber nicht betreten, sondern nur links umschreiten dürfen. Durch Berührung der Außenwand können sich die Gläubigen mit der göttlichen Energie neu "aufladen". Diese Tempel sind nicht wie sonst in Indien, von einer Mauer umgeben und unmittelbar auf dem Boden errichtet. Als wir näher herankommen, sehen wir, dass die Aufbauten der Tempel bis in den letzten Winkel mit Figuren geschmückt sind. Die vorspringenden Ecken zieren Götter- und Frauenfiguren, die Rücksprünge chthonische Wesen wie die Schlangengeister. Der Haupttempel, 31 m hoch, zeigt in drei Reihen in fast ein Meter hohen Figuren das Leben um 1000 n.Chr. An diesem Tempel wurden 872 Statuen gezählt, 226 innen und 646 außen, alle perfekt gestaltet.

Die "kosmische Energie" der "erotischen" Figuren

Berühmt sind diese Tempel wegen der erotischen Szenen, die Szenen aus dem tantrischen Ritual wiedergeben. Daneben gibt es auch Darstellungen von Schlachten, Tänzen, Tierkämpfen, vom Alltag, Bilder von Göttern und Fabeltieren, Blumen- und Pflanzenornamenten. Bewundernd stehen wir vor der Fülle und der Schönheit der Figuren.

Die ersten Regentropfen ruhten auf
ihren Wimpern aus und fielen dann auf
ihre Unterlippe. Sie zerteilten sich
auf ihren hohen Brüsten und glitten
dann über die drei delikaten Falten
auf ihren Bauch, bis sie langsam in
ihren Nabel gelangten.

Kumarasambhava, 5,27

Die Bilder von wenig bekleideten Frauen mit üppigen Brüsten und vielen betonten Körperrundungen an Bauch, Hüften und Schultern dominieren. Das hängt mit dem Sinn und Zweck dieser Tempel zusammen. Der Frauenkörper symbolisiert die kosmische weibliche Energie, die in den Figuren durch die Bewegtheit in Aktionen und durch die Drehungen der Körper zum Ausdruck kommt und die durch ihre Sinnlichkeit auf den Betrachter übertragen wird. Oft sehen wir den gedrehten Rücken, während sich die Frau einen Dorn aus der Fußsohle zieht oder die Fußsohlen mit Henna färbt. Häufig wird die Annäherung der Gesichter von Mann und Frau dargestellt. Die großen Augen und geschwungenen Lippen zeigen entspannte Zurückhaltung, während Körper, Arme und Kopf aufeinander zu drängen. Der Hals- und Hüftschmuck und die Ränder und Muster der durchsichtigen Röcke unterstützen noch die Bewegungen und die Formen der Figuren. Eine Frau sieht sich im Handspiegel, eine andere legt sich ein Band um Hals und Schulter, eine löst ihren Hüftgürtel, eine andere entkleidet sich, eine schreibt einen Brief, eine andere verbirgt sich schüchtern hinter einer Hand. Im Grunde sind alle Frauenfiguren stilisiert und suchen in unaufhörlicher Wiederholung einem schematisierten Schönheitsideal zu entsprechen. Die Figuren tragen häufig Ohrringe, Kettengehänge, Halsreifen, Halsbänder, Armreifen, Armbänder, Ringe, Gürtel und Diademe. Sie sind hoch gewachsen, haben schmale Hüften, volle, hohe und runde Brüste und spindelförmige Beine, die kaum gestaltet sind. Die Gesichter sind scharf geschnitten, die Augen durch lange, mandelförmige Schlitze unter gewölbten Augenbrauen angedeutet. Die Nase ist gerade oder leicht gebogen, die Lippen voll. In den erotischen Paar- oder Gruppenszenen folgen die Körperhaltungen oft einem symmetrischen Aufbau entsprechend der Anordnung eines Mandalas als Drei-, Sechs- oder Achteck.

Im Innern der Tempel finden sich keine Liebesszenen. Hier geht es nur um die Schönheit der göttlichen Energien, d.h. der Gläubige muss seine sexuelle Energie, seine Lebensenergie, in reine Spiritualität verwandeln. Das geht über die sechs Stufen oder Chakren der geistigen Entwicklung

Im Außenbereich aber wird die sinnliche Seite der göttlichen Energie dargestellt. Sie wird illustriert entsprechend den Beschreibungen der verschiedenen körperlichen Vereinigungen im "Kama-sutra", den im 4./5. Jahrhundert verfassten Aphorismen über die Sexualität. Viele Positionen werden gezeigt bis hin zur rituellen tantrischen Vereinigung der Körper in Yogastellungen. Die sexuelle Energie wird in all ihren Varianten "gefeiert". Auch Selbstbefriedigung, Fellatio, Gruppensex und Sodomie werden dargestellt.

Die Wiederherstellung der göttlichen Einheit
im tantrischen Kult

Wie ein Mann in der Umarmung der Frau,
die er liebt, die ganze Welt vergisst,

so dass alles in ihm sich nach außen kehrt,
so vergeht in der Vereingung mit dem allwissenden Wesen das Innen und das Außen.

Chhandogya Upanishad

Die tantrische Idee geht davon aus, dass die Ureinheit sich in der Erscheinungswelt in zwei polare Kräfte teilt und dass eine Erlösung durch eineVereinigung mit der Allseele, mit Gott, möglich ist. Diese Idee findet sich sowohl in den Kulten der Götter Shiva, Vishnu und Surya wie auch in den Kulten der jainistischen und buddhistischen Tempel. Die bildliche Darstellung der tantrischen Idee war uns besonders oft in Klöstern des Vajrayana-Buddhismus und des Lamaismus in Ladakh und Nepal begegnet. Die Darstellungen der Vereinigung von weiblichem und männlichem Prinzip und die Yogaübungen der Mönche ähneln sich im Hinduismus und im Mahayana-Buddhismus (s. Mulk Raj Anand: Kama Kala).

Die Tantriker wollen die Ureinheit wieder erfahren und erkennen und in den Genuss der damit verbundenen Freude kommen. Für die Erreichung dieses Zieles haben die tantrischen Schulen verschiedene Methoden entwickelt. Alle tantrischen Rituale verlaufen nach strengen Regeln und verweisen auf einen symbolischen Inhalt (s.Mahanirvana-Tantras). Da der Dualismus des Kosmos als eine statische und eine dynamische Kraft begriffen wird, jeweils den Erscheinungsformen des Männlichen und des Weiblichen zugeordnet, haben die Individuen Teil an diesen kosmischen Kräften entsprechend ihrer Zugehörigkeit zum Geschlecht. Somit wird die Frau im religiösen Nachvollzug der Schöpfung zum Spiegelbild des kosmischen weiblichen Prinzips und als solche verehrt wie eine Göttin. Als Symbol ist sie keine gewöhnliche Frau mehr.

Die Leidenschaft soll zuerst in der Frau
erwachen
und sie erfüllen,
danach den Mann dank der unwillkürlichen Zeichen,
mit denen die
Frau ihre Neigung verrät.
Dann entsteht das verlockende Spiel,
dass sie
aneinander Lust haben,
und darin finden sich die Liebenden.

Srngara-Tilaka von Rudrabhatta

Die männliche Gottheit ist ihrem Wesen nach passiv und bedarf der aktiven weiblichen Energie, um handeln zu können. In den vielen Frauendarstellungen der Tempel zeigt sich die Verehrung dieses unentbehrlichen weiblichen Prinzips. Deshalb zeigen die Figuren auch in ihren Gesichtern nicht wilde Leidenschaft, sondern nur ein verhaltenes, wunderschönes, wissendes Lächeln. Andererseits zeigen sie ihren Körper, fast unbekleidet, in einer unendlichen Vielfalt von Ansichten und Bewegungen. Die in einigen Bildern dargestellte körperliche Vereinigung von Mann und Frau gilt als ein möglicher Vollzug der Wiederherstellung der beiden kosmischen Prinzipien. Auch bei dieser symbolischen Präsentation zeigen die Figuren eine Reihe von Varianten der geschlechtlichen Vereinigung als eine Verehrung der göttlichen kosmischen Prinzipien. Eine solche Interpretation des Sexuellen liegt außerhalb der körper- und frauenfeindlichen Begriffswelt eines traditionellen Christentums. Deshalb warnten die ersten englischen Reisenden vor einem Besuch der Tempel und sprachen von "Monstrositäten".

Du sitzt auf einer Lotosblume
Du berauschst Dich an ihrem Duft
Du befreist Dich von der Furcht
Du akzeptierst sämtliche Formen Deines Verlangens,
denn der Kreis ist Dein Betätigungsfeld,
O Liane, die sich um einen Baum schlingt,
der alles Verlangen befriedigt.....

Mahanirvana Tantra

Die Tierskulpturen (s. Kap. Heilige Tiere)

Die Tierskulptur, die uns am meisten beeindruckt, ist die des riesigen Ebers, der gegenüber vom Lakshmana-Tempel in einer eigenen Halle steht. Er stellt die 3. Wiedergeburt von Vishnu dar. Die Gläubigen umkreisen ihn und berühren seinen mächtigen Körper, der mit 674 kleinen Bildnissen von Gottheiten und Tieren überzogen ist, die seine Macht zum Schutz der Menschen symbolisieren. Zwischen seinen Füßen liegen die Ozeanschlange und die Füße der Erdgöttin, seiner 2. Frau, auf der Backe finden sich die neun Planeten und auf der Schnauze Saraswati, die Göttin des Gesangs und der Gelehrsamkeit. Von den vielen Berührungen ist der Sandsteinblock schon ganz schwarz geworden.

Vor dem Tempel des Vishnavatha steht in einer Halle der riesige Nandi-Stier, das Reittier Shivas.

An einer anderen Stelle steht ein tigerähnliches Ungeheuer, das sich auf den Hinterbeinen aufrichtet und einen knienden Mann anzugreifen scheint. Das raubtierähnliche Mischwesen als Symbol der Begierden, die den Menschen unterdrücken.

Ganz ungewöhnlich sind die großen vollplastischen Elefanten an den Dachecken eines Tempels, jeder in einer anderen Haltung, mit Girlanden und anderen Schmuckstücken verziert. Einer soll von herumturnenden Affen herabgestürzt worden sein.

In den Flachreliefs der Tempelterrassen sind ganze Scharen von Elefanten, Pferden, Kamelen, und Kühen neben vielen Tänzerinnen, Musikern und Soldaten dargestellt. Dazu kommen noch pflanzliche Motive, die zusammen mit den vielfältigen anderen Lebensformen die unendliche Vielfalt des Lebens symbolisieren, ein Spiegelbild des Makrokosmos.

Unser Fremdenführer
Gedanken eines Kastenlosen

Die Kastengesellschaft dient als hierarchische Ordnung, als Abgrenzung von reinen und unreinen Gruppen und als Arbeitsteilungsmodell. "Die Unberührbaren" werden auch als Kastenlose bezeichnet, offiziell etwas euphemistisch als "scheduled castes" (registrierte Kasten), ähnlich euphemistisch klingt Gandhis "harijan" ( Kinder Gottes). Realistischer und politischer ist die Bezeichnung "Dalit" (Gebrochene, Ausgebeutete, Unterdrückte). 16,5% der Bevölkerung zählen dazu. Bereits vor über 2000 Jahren entstanden als Gegenbewegungen der Buddhismus und der Jainismus, die die soziale Ungleichheit auf Grund der Kastenzugehörigkeit ablehnen. Deshalb konvertieren viele Dalits vom Hinduismus zu diesen Religionen und in jüngster Zeit auch zum Christentum.

Wir sprechen mit unserem Guide über die Übergriffe auf Dalits durch Angehörige höherer Kasten und auf "Brunnenkriege" an, von denen die Zeitung berichtet.

"Ich bin ein Dalit", sagt unser Guide, einer der Kastenlosen, der Unberührbaren, die in der alten Hindugesellschaft keine Rechte hatten, die nur die ekelhaftesten Arbeiten verrichten durften und von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen waren. "Ich werde zu einem Gericht gehen und klagen, wenn man mir den Zutritt zu einem Tempel verweigern würde oder von einem Brunnen fortjagen würde. Das ist jetzt in der Verfassung festgelegt, seit 1951 ist die "Unberührbarkeit" abgeschafft. Man kann sich wehren. Früher bestimmte die Kastenzugehörigkeit das Leben eines Inders: seine Ehe, seine Speisen, die Farbe seiner Kleider, seinen Schmuck, seine Kopfbedeckung, die Haartracht, die Art der Wohnung. Entstanden ist diese Trennung der sozialen Schichten nach der Einwanderung der hellhäutigen Arier, die sich nicht mit den dunklen Ureinwohnern vermischen wollten. Das Wort Kaste heißt auf Sanskrit varna, d.h. Farbe. Diese Einteilung der Gesellschaft wurde religiös begründet, indem man sagte, die vier Hauptkasten seien dem Leibe des göttlichen Brahma entsprungen. Die Brahmanen oder Priester aus seinem Haupte, die Kshatriya oder Krieger aus seinen Armen, die Vaisha oder Bauern und Handwerker aus seinem Bauch und die Shudra oder Tagelöhner und Diener der ersten Kasten aus seinen Füßen. Diese Kasten vermehrten sich, wenn z.B. neue handwerkliche Techniken erfunden wurden. So gibt es Töpfer, die die Drehscheibe benützen, und solche, die keine benützen. Es gibt Fischer, die mit dem Boot aufs offene Meer hinaus fahren und andere, die mit ihrem Netz nur am Ufer fischen oder nur mit der Hand oder Harpune fischen. So ist eine feste hierarchische Ordnung entstanden. Einem Inder, der mit dem sozialen Status seiner Kaste unzufrieden ist, hat nur die Möglichkeit auf seine nächste Geburt zu hoffen, denn in eine Kaste wird man hinein geboren entsprechend dem Verhalten im vorhergehenden Leben. Interessanter Weise werden dieselben Tätigkeiten innerhalb Indiens unterschiedlich bewertet. Ein Friseur wird z.B. in Südindien als niedrig wegen der Berührung von Unreinen eingestuft, während der Friseur im Norden als Zeremonienmeister mehr gilt." Verwundert hören wir, dass es der einen Bevölkerungsgruppe verboten ist, sich einem Tempel zu nähern, während eine andere Gruppe wenigstens den äußeren Bereich betreten darf. Diese "privilegierte" Gruppe darf auch das Wasser aus einem Brunnen nutzen, aber es nicht selbst schöpfen.

Namdeo Dhasal, ein Unberührbarer aus Mumbai, hat folgende Verse geschrieben.

Die Straße zum Heiligtum

Ich wurde geboren, als die Sonne sank
und langsam verlosch in der Umarmung der Nacht.
Ich wurde geboren auf einem Pfad
In einem Lumpen

Am Tag meiner Geburt wurde ich Waise.
Die, die mich gebar, ging zu Gott.
Ich war diesen Geist leid,
der mich auf diesem Pfad heimsuchte.

Ich brauchte die längste Zeit meines Lebens
Die Dunkelheit aus jenem Sari zu waschen.
Ich wuchs auf wie ein Mensch, der
Seinen Antrieb verloren hat.

Ich aß Scheiße und wuchs
Gib mir fünf Paisa, gib mir fünf Paisa (0,01 Cent)
Und nimm fünf Flüche zum Dank.
Ich bin unterwegs zum Heiligtum.


Wir denken an unsere Erfahrungen mit indischen Behörden und Hotelpersonal. Jeder führt nur den Auftrag aus, der in seinen Bereich fällt und ist empört, wenn er eine niedrigere Tätigkeit ausführen soll. Wie wenig verständlich erscheint einem Europäer ein solches Verhalten: wir bitten einen Hotelangestellten, uns einen Tee zu besorgen und merken, in welch Dilemma wir ihn gestürzt haben, weil er dafür nicht zuständig ist. Grotesk wirkt dieses Verhalten, wenn ein behördlicher Weg zu beschreiten ist, und das Formular über viele Schreibtische wandern muss, weil jeder Angestellte nur für einen kleinen Bereich zuständig und für den Transport des Schriftstücks auch wieder ein bestimmter Bote gerufen werden muss. Nur ein Trinkgeld kann die Betroffenen manchmal veranlassen, ihre Tätigkeitsgrenzen zu überschreiten.

Unser Guide fährt fort: "Für die niedrigeren Kasten werden seit 1990 49,5% Stellen im öffentlichen Dienst reserviert, auch kann es in den Städten durchaus sein, dass ein Dalit auf Grund seiner Fähigkeiten einen Chefposten einnehmen kann und Brahmanen als Untergebene hat." Wir halten dagegen, dass die Kasten ihre Privilegien immer noch verteidigen. Der Fahrer unseres Autos sei Brahmane und er habe uns erklärt, sollte sein Sohn außerhalb seiner Kaste heiraten, dann müsse er das gemeinsame Haus verlassen. Das Geld und die Schönheit der Frau spielten dabei keine Rolle.
Weitere Informationen über die Dalits.

Als der Guide uns die Jain-Tempel von Khajuraho zeigt, packt er aus und verrät uns seine Vorurteile gegenüber den Anhängern der Religion.

"Die Jains haben viel Geld, sie sind reiche Händler. Nach ihrer Religion dürfen sie keinen Beruf ausüben, der irgendwie Lebewesen tötet. Sie dürfen keine Landwirtschaft betreiben. Sie sind ähnlich wie die europäischen Juden, sie sind geizig, sie sitzen auf ihrem Geld. Sie geben nichts an Arme. Außerdem sind die Jains korrupt. Und das, was sie an Steuer hinterziehen, das geben sie an ihren Tempel. Die Juden spenden wenigsten einen Teil ihres Geldes. Aber die Mönche der Jains führen ein hartes Leben, sie haben keinen Besitz, gehen auf Wanderschaft, schlafen auf dem harten Boden und essen nur einmal am Tag. Es gibt die weiß gekleideten und die Luft-gekleideten Mönche. Die Luft-gekleideten haben keine Kleider und leben nackt als Einsiedler im Wald. Die sind anders."

Wir fragen ihn, wie er zu der Homosexualität stehe.

"Ich habe nichts gegen Homosexuelle, aber die Gesellschaft akzeptiert sie nicht, deshalb kann ich nicht mit ihnen verkehren, auch wenn ich nichts gegen sie habe. Sonst glauben alle, dass ich auch homosexuell bin."

"Die Studiosus-Reisegruppen führe ich nicht gerne. Die Reiseleiter sind meist zu arrogant. Sie meinen, sie wissen alles. Vor den Tempeln in Khajuraho diskutieren sie über die Tempel in Delhi. Die sexuellen Darstellungen bezeichnen sie als Porno. Das ist völlig falsch. Das sag ich ihnen, aber sie sind unbelehrbar. Sie wollen nicht zuhören und nichts dazu lernen."

Als wir bei einem Tempel vor einem erotischen Bild eine Gruppe sehen, hört er ihnen interessiert zu.

"Das sind Osho-Anhänger aus Poona." Wir nicken. Wir waren auch in Poona, aber wir sind nicht in den Park gegangen, weil die Zeit nicht reichte. Wir erzählen von der Bagwan-Bewegung in Deutschland während der 70er Jahre. Von Osho ist er sehr angetan. "Osho war sehr reich, hatte viele Luxusautos. Wenn er sprach, dann haben die Leute alles vergessen, seine Stimme zog alle in ihren Bann. Aber er sprach nur für reiche Leute."

Bei der Betrachtung von erotischen Bildern fallen ihm mehrfach Sexwitze ein, die wohl zum üblichen Vortrag gehören.

Nach sechs Stunden haben wir die verschiedenen Tempelgruppen gesehen. Zu Hause stellen wir einige Wochen später fest, wie viel wir nicht gesehen haben. Eigentlich müssen wir noch einmal hin. Genau diesen Eindruck haben wir auch in Hinblick auf Varanasi.