Günter Neuenhofer, VHS 2010-I

Philosophie - Übersicht

III.

Philosophie am Morgen

Wir beschäftigen uns mit der Frage "Was ist der Mensch? Grundlagen der Diskussionen sind Aussagen, Bilder und Gleichnisse des Menschen in philosophischen und literarischen Texten.

Der "Schatten" als Bild und Gleichnis des Menschen

Was sehe ich? Wie sehe ich? Was ist wirklich? Was ist wahr?


Foto eines gebeugt gehenden Mannes mit Schatten.
Der Schatten zeigt ein anderes Bild, einen Saxophon spielenden Mann.

Die Philosophie verfügt offenbar über zwei verschiedene Register, die es erlauben, Verschiedenes miteinander zu verbinden. Das begriffliche Register ist das Folgern, das nicht-begriffliche die Verbindung von Verschiedenem als Metapher oder Gleichnis.

Poesie gegen Logik - Über Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie (Bernhard H. F. Taureck, 2004)

Textmaterialien

Beispiele philosophischen und literarischen Gebrauchs von Metaphern und Gleichnissen Metaphern als Grundlage der europäischen Philosophie (H.Blumenberg)

1. Der „Schatten“ in Zitaten von Homer, Pindar, Demokrit, Platon, Zhuāngzǐ, Shakespeare, Nietzsche und Franz Kafka

2. Bernard Bolzano, Was ist Philosophie?

3. Albert Camus (Der Mythos von Sisyphos),

4. Ernst Bloch (Tübinger Einleitung in die Philosophie),

5. Martin Heidegger (Was ist Metaphysik?)

6. Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.“)

Der „Schatten“ als philosophisches Bild

Homer (700 v. Chr.) Menschen werden nach dem Tode zu besinnungslosen Schatten ohne Erinnerung.

Pindar (418-445): Eintagswesen! Was ist einer? Was ist einer nicht? Eines Schattens Traum ist der Mensch.

Demokrit von Abdera(ca. 470 v.Chr. – ca. 380 v.Chr.): „Wort: nur der Tat Schatten.“ (Vorrang der Praxis vor der Theorie)

Platon (428-348): Das Höhlengefängnisgleichnis, s.a. Sonnengleichnis und Liniengleichnis

Zhuāngzǐ (ca. 365 - 290 v. Chr.) war ein chinesischer Philosoph und Dichter.

„Die Ränder des Schattens fragten den Schatten und sprachen: »Bald bist du gebückt, bald bist du aufrecht; bald bist du zerzaust, bald bist du gekämmt; bald sitzest du, bald stehst du auf; bald läufst du, bald bleibst du stehen. Wie geht das zu?“ Der Schatten sprach: „Alterchen, Alterchen, wie fragt Ihr oberflächlich! Ich bin, aber weiß nicht, warum ich bin. Ich bin wie die leere Schale der Zikade, wie die abgestreifte Haut der Schlange. Ich sehe aus wie etwas, aber ich bin es nicht. Im Feuerschein und bei Tag bin ich kräftig. An sonnenlosen Orten und bei Nacht verblasse ich. Von dem andern da (dem Körper) bin ich abhängig, ebenso wie der wieder von einem andern abhängt. Kommt er, so komme ich mit ihm. Geht er, so gehe ich mit ihm. Ist er stark und kraftvoll, so bin ich mit ihm stark und kraftvoll. Bin ich stark und kraftvoll, was brauche ich dann noch zu fragen?“

Shakespeare, Macbeth (1606):

Macbeth: Das Leben ist ein flüchtiger Schatten; ein armer Schauspieler, der seine Stunde auf der Bühne prahlt und tobt, und wird danach nicht mehr gehört;

Nietzsche, Friedrich (1844-1900): Menschliches, Allzumenschliches

Der Wanderer: Ich merke erst, wie unartig ich gegen dich bin, mein geliebter Schatten: ich habe noch mit keinem Worte gesagt, wie sehr ich mich freue, dich zu hören und nicht bloß zu sehen. Du wirst es wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nötig wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach.

Der Schatten: Und ich hasse dasselbe, was du hassest, die Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis auf sie fällt, – jener Schatten bin ich auch.

• "Alles, selbst die Lüge, dient der Wahrheit; Schatten löschen die Sonne nicht aus." - Franz Kafka

• "Auch ein Haar hat seinen Schatten." - Publilius Syrus, Sentenzen E13
• "Der Tod begleitet das Leben wie der Schatten das Licht." - Rafik Schami, Der ehrliche Lügner
• "Durch den Körper wird der Schatten bewegt." - Lü Bu We, Frühling und Herbst des Lü Bu We
• "Ist doch der Mensch gleichwie nichts; seine Tage gehen dahin wie ein Schatten, er hüpft umher wie ein Bock, bläht sich auf wie eine Blase, faucht wie ein Luchs, frißt sich den Bauch voll wie eine Schlange, wiehert beim Anblick eines fremden Weibes wie ein Hengst, ist tückisch wie der Teufel; hat er seine Begierden gestillt, so schläft er, wann und wo ihn der Schlaf überfällt(...)" - Awwakum, Das Leben des Protopopen Avvakum, von ihm selbst niedergeschrieben, aus dem Altrussischen
• "Ein gefällter Baum wirft keinen Schatten." - Aus China
• "Fälle nicht den Baum, der dir Schatten spendet." - Aus Arabien
• "Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich." - Aus Afrika
• "Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht." - Hiob 14,1 f.

"Licht und Dunkel" als philosophische Bilder

"Auch das Leben, das junge und zarte Leben, aus der vertrauten Dunkelheit, aus der kuschelnden Wärme des mütterlichen Schoßes in die große, die fremde Welt entlassen, wie schrumpft es zusammen und geht es zurück, wie zögert es von Abneigung und Unlust, dieses Unternehmen, das man ihm anbietet zu akzeptieren." - Bruno Schulz, Traktat über die Mannequins, in: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen,
"Die Töne sind ein wunderbarer lebender Atem der Dunkelheit." - Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter
• "Alle Dunkelheit der Welt kann das Licht einer einzigen Kerze nicht auslöschen." - Aus China
• "Besser ist es, Licht anzuzünden, als auf die Dunkelheit zu schimpfen." - Sprichwort
• "Das Gesicht des Menschen erkennst du bei Licht, seinen Charakter im Dunkeln." - Sprichwort
• "Die Ameise hält das Johanniswürmchen für ein großes Licht." - Aus Deutschland
• "Die Hausfrau hat ihr Licht vom Manne wie der Mond von der Sonne." - Aus Dänemark

Bibel

• "Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell." - Jesaja 9,2
• "Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt." - Johannes 12,46
• "Ihr seid allzumal Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis." - 1. Thessalonicher 5,5
• "Ihr seid das Licht der Welt." - Matthäus 5,14
• "Gott ist Licht." "Und das ist die Verkündigung, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen, daß Gott Licht ist und in ihm ist keine Finsternis." - 1. Johannes 1,5
• "Lebt als Kinder des Lichtes; die Frucht des Lichtes ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit." - Epheser 5,8b-9
• "Niemand zündet ein Licht an und setzt es in einen Winkel, auch nicht unter einen Scheffel, sondern auf den Leuchter, damit, wer hineingeht, das Licht sehe. Dein Auge ist das Licht des Leibes. Wenn nun dein Auge lauter ist, so ist dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. So schaue darauf, daß nicht das Licht in dir Finsternis sei." - Lukas 11,33-35 (ähnlich Matthäus 5,15/6,22-23 und Markus 4,21)
• "Und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht aus dem Himmel." - Apostelgeschichte 9,3
• "Wehe denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse; die Finsternis zu Licht machen und Licht zu Finsternis; die Bitteres zu Süßem machen und Süßes zu Bitterem!" - Jesaja 5,20

Koran, nach Suren geordnet

• "Allah ist der Freund der Gläubigen: Er führt sie aus den Finsternissen ans Licht." - Sure 2, 257
fürwahr ein Licht von Allah und ein klares Buch." - Sure 5, 15
• "Aller Preis gehört Allah, Der […] die Finsternisse und das Licht ins Sein gerufen hat […]" -
• "Wer sandte das Buch nieder, das Moses brachte als ein Licht und eine Führung für die Menschen […]?"
• "Allah wird es alles ans Licht bringen, wovor ihr euch fürchtet."
• "Führe dein Volk aus den Finsternissen zum Licht und gemahne es an die Tage Allahs."
• "Allah ist das Licht der Himmel und der Erde." - Sure 24, 35
• "Und die an Allah und Seine Gesandten glauben […] sie werden ihren Lohn und ihr Licht empfangen."
• "Sie möchten Allahs Licht auslöschen mit ihren Mündern, doch Allah wird Sein Licht vollkommen machen, auch wenn die Ungläubigen es hassen."


Philosophie am Morgen

Die Frage nach dem Sinn des Lebens

Der „Stein“ als Symbol

Der Mythos von Sisyphos ( A. Camus)

Die Strafe ist die „Sisyphos – Arbeit“: Sisyphos wird sein restliches Dasein fristen, indem er einen Felsblock einen Berg hinaufwälzen muß. Sobald er den Gipfel aber erreicht hat, rollt der Felsblock zur anderen Seite wieder hinab.

„Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. [...] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein. […] Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

"Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik." - Friedrich Nietzsche, "Menschliches, Allzumenschliches"

"Einen Stein kann man zertrümmern, aber man kann ihm nicht seine Härte nehmen." - Lü Bu We, Frühling und Herbst des Lü Bu We

"A rolling stone gathers no moss." "Rollender Stein setzt keinen Schimmel an." (Griechenland)

"Wenn der Fluss klingt, dann weil er Steine mitbringt." (Chile)

Der Gesellschaft geht die Arbeit aus und selbst „sinnlose“ Arbeiten scheinen nicht mehr möglich.

Absurdität (von lat. absurditas in derselben Bedeutung, zu absurdus ‚misstönend‘, übertragen auch ‚ungereimt, unfähig, ungeschickt‘) bezeichnet etwas Widersinniges oder Unsinniges.

Der Sinn des Lebens“ , eine Satire der britischen Komikertruppe Monty Python. Sinn des Lebens: Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen, lesen Sie gute Bücher, gehen Sie spazieren und versuchen Sie, mit allen Menschen in Frieden zu leben.

"Das ganze Geheimnis des Lebens läuft darauf hinaus, dass es keinerlei Sinn hat; dass aber jeder von uns dennoch einen ausfindig macht!" - Émile Michel Cioran, Gedankendämmerung

Durch die Bestimmung des Menschen als biologisches Wesen, als Vernunftwesen, als göttliches Wesen etc. erhält der Mensch vor seiner Existenz zunächst schon eine Bedeutung, eben biologisch, vernünftig, gottähnlich. Beim Existentialismus kritisiert man diese der Existenz vorgängige Sinnbestimmung und setzt ihr die Existenz entgegen: Der Mensch ist als Mensch nicht zu erfassen, wenn nicht je von seiner eigenen individuellen Existenz ausgegangen wird. Jede Wesenbestimmung enthält, so die Kritik durch den Existentialismus, immer schon einen Theorieaspekt, der sich nicht aus einer unmittelbaren Erfahrung der Existenz speist, sondern der Existenz „nachrangig“ gebildet wird.

Befreiung des Menschen zu seinen eigenen Möglichkeiten hin. Die Notwendigkeit dieser Möglichkeit zu sein, zeigt sich in den elementar menschlichen Erfahrungen von Absurdität, Ekel, Angst, Sorge, Tod und Langeweile und zeigt auf, dass gerade dieses subjektive Empfinden das Leben des Menschen bestimmt. „Der Mensch ist seine Existenz.

„Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ (Wittgenstein)

Ludwig Feuerbach. 19. Kap.: Der christliche Himmel oder die persönliche Unsterblichkeit

Das Jenseits ist nichts anderes als das Diesseits

Wie Gott nichts anderes ist als das Wesen des Menschen, gereinigt von dem, was dem menschlichen Individuum, sei es nun im Gefühl oder Denken, als Schranke, als Übel erscheint: so ist das Jenseits nichts anderes als das Diesseits, befreit von dem, was als Schranke, als Übel erscheint. [279] [...] Der Mensch trennt sich in der Religion von sich selbst, aber nur, um immer wieder auf denselben Punkt zurückzukommen, von dem er ausgelaufen. Der Mensch verneint sich, aber nur um sich wieder zu setzen, und zwar jetzt in verherrlichter Gestalt. So verwirft er auch das Diesseits, aber nur um am Ende es als Jenseits wieder zu setzen. [280]

Wie der Mensch in der Entfernung von sich, in Gott immer wieder nur auf sich selbst zurückkommt, immer nur sich um sich selbst dreht, so kommt der Mensch auch in der Entfernung vom Diesseits immer wieder zuletzt nur auf dasselbe zurück. Je außer- und übermenschlicher Gott im Anfang erscheint, desto menschlicher zeigt er sich im Verlaufe oder Schluß. [281]

Philosophie am Morgen

1. Die Problematik des Selbst in Philosophie und Hirnforschung


René Magritte

Ein Selbst im Spiegel der Unmöglichkeit –«La Reproduction interdite» , 1937,
aus dem Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam

Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst, 2009, von Thomas Metzinger

„Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und uns trägt. Aus diesem Grund ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit. Durch die Einbettung unseres Selbstmodells in das Weltmodell wird ein Zentrum geschaffen. Dieses Zentrum ist das, was wir als unser Selbst erleben, das Ego. Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel.“

Thomas Metzinger: "De facto sind wir selbst Systeme, die sich selbst ständig mit dem von ihnen selbst erzeugten subsymbolischen Selbstmodell „verwechseln“. Indem wir dies tun, generieren wir eine stabile und kohärente Ich-Illusion, die wir auf der Ebene des bewussten Erlebens nicht transzendieren können. Und genau das ist es, was es bedeutet eine nicht-begriffliche Erste-Person-Perspektive zu besitzen, einen präreflexiven, phänomenalen Standpunkt, der allen späteren Formen begrifflich vermittelten und reflexiven Selbstbewusstseins zugrundeliegt, allen späteren Formen von sozialer Kognition und Ich-Du-Beziehungen. Der Kern der Subjektivität des Mentalen liegt also in diesem Akt der „Selbstverwechslung“: Ein Mangel an Information, ein Mangel an epistemischer Transparenz führt zur Entstehung eines phänomenalen Selbst. (http://www.uni-mainz.de/~metzinger/Texte/ich-stoe.htm )

Als Beispiel einer Fehlfunktion des "phänomenalen Selbst-Modells" erwähnt Metzinger die Phantomschmerzen an nicht mehr existierenden Gliedern, teilweise noch Jahrzehnte nach deren Amputation. Ein Therapie-Ansatz verwendet einen mit einem Spiegel und einem Guckloch ausgestatteten Kasten, in den man Arm und Armstumpf hinein steckt. Der Patient erhält nun die Aufgabe, seine Glieder synchron zu bewegen. Der Blick ins Guckloch zeigt ihm dank des Spiegels ein Bild des amputierten Stumpfes, der genau seinen Bewegungen folgt. Dank des dadurch bewirkten Eindrucks der Kontrolle über das fehlende Glied entstand ein Selbst-Modell, das den Phantomschmerz verschwinden ließ.

Ein ähnliches Experiment wurde in der Fachzeitschrift "Nature" publiziert. Dabei wird die eine Hand einer Versuchsperson abgedeckt und mit synchronen Bewegungen sowohl über die abgedeckte, wie auch über eine sichtbar daneben liegende Gummihand gestreichelt. Nach rund einer Minute ist die Gummihand ins Selbst-Modell der Versuchsperson eingebaut. Wenn nun der Versuchsleiter überraschend mit einem Hammer auf die Gummihand schlägt, werden im Hirn der Versuchsperson dieselben Areale aktiviert, wie wenn auf seine verdeckte Hand geschlagen worden wäre.

Eigentlich hat niemand ein "Selbst", sondern nur die Wahrnehmung eines "Selbst-Erlebens". Metzinger fragt : "Aber wenn das 'Selbst' nur eine Illusion ist, wer ist es dann, der diese Illusion hat?"

2. Philosophieren in Denkbildern

Denkbilder sind Figuren einer ‚anschaulichen Erkenntnis’, die poetische Gestalt und reflexiven Gehalt verbinden.

1) Das Ich bei Ernst Bloch

“Was ist der Mensch? Dasjenige, was zwar noch nicht weiß, was es ist, doch wissen kann, was es, als sich entfremdet, sicher nicht ist und deshalb so falsch nicht bleiben will, wenigstens nicht soll. (Bloch AOP: 18)

Schon die normalen physischen Mangelzustände (Hunger, Durst, Müdigkeit, Erschöpfung, Geschlechterdrang, Frieren, Schwitzen, Schmerzen) resultieren aus einem Zustand gegenwärtigen Nicht-Habens und richten sich auf seine zukünftige Abschaffung. Auch die menschlichen Affekte wie Neid, Habsucht, Verehrung, Angst, Furcht, Hoffnung, Glaube usw. haben ihr Strukturprinzip in der Intentionalität auf etwas, was momentan (noch) nicht ist. Auch das Denken hat nach Bloch wesentlich neben der abbildenden eine vorwegnehmende Funktion. Bloch begründet hiermit innerhalb der dialektischen Philosophie eine neue Richtung. War für z.B. Platon und Hegel alles Wissen wesentlich Wiedererinnerung, so ist es für Bloch konträr.

Das Dunkel des gelebten Augenblicks ist das unmittelbare Jetzt, welches ge-lebt aber nie er-lebt werde. Zum Verwirklichen der Zukunft gehört nicht nur das Dunkel des Jetzt als Quelle, sondern ebenso die ihm entsprechende Offenheit des objekthaften Hintergrunds, die Utopie als Frontbestimmtheit der Objekte. Dunkler Augenblick und adäquate Offenheit der Objekte sind die Pole des antizipierenden Bewusstseins. Offene Adäquatheit macht sich in der seltsamen Erfahrung eines antizipierenden Stillehaltens, dem fragenden Staunen deutlich und dieses läuft als unkonstruierbare Frage wieder in das Dunkel des Augenblicks hinein.

In dem Nächsten – nicht im Fernsten – steckt mithin der Knoten des Daseinsrätsels. Der Zielinhalt des Dunkel des gelebten Augenblicks ist unter der mythologischen Bezeichnung Gott intendiert und ist mit unmythologischer Bezeichnung Agens wie Kern der sich entwickelnden Materie. Diese unmittelbar zu erleben ist bisher noch nicht möglich und somit lebt noch kein Mensch wirklich, was Bloch mit der Formel: „Ich bin. Aber ich habe mich noch nicht.“ ausdrückt.

2) Subjekt und Objekt bei Martin Heidegger

"Drei Gefahren drohen dem Denken.... Die böse und darum schärfste Gefahr ist das Denken selber. Es muss gegen sich selbst denken, was es nur selten vermag." (M.Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, 1954)

Philosophie am Morgen

Philosophische und poetische Bildwelten

Aussagen zum „Sein“ und zum „Mensch“

Maler


R. Magritte: Turm mit Wurzel

Sprache als „Haus des Seins“ und als Grenze des Gedankens.

Philosophen

1) Philosophen als Bewahrer und Offenbarer des Seins, indem sie die Offenbarkeit des Seins durch ihr Sagen zur Sprache bringen.“ (Heidegger)

Karl Jaspers: „Der Ursprung in den Grenzsituationen bringt den Grundantrieb, im Scheitern den Weg zum Sein zu gewinnen.... In den Grenzsituationen zeigt sich entweder das Nicht oder es wird fühlbar, was trotz und über allem verschwindenden Weltsein eigentlich ist.“

Der Mensch kommt zu sich selbst in der Verwandlung seines Seinbewusstseins. Aus diesen Situationen gibt es nur dann eine Befreiung, wenn der Mensch sie annimmt und ganz bejaht. Dazu ist ein Sprung erforderlich heraus aus der Verzweiflung und hin zum Selbstsein und zur Freiheit.

2) Philosophen als Utopisten.

Der Blick auf diese Welt zeigt nach Bloch, "dass dieses, was es gibt, nicht die Wahrheit sein kann", dass der Mensch sich auf die Suche machen muss nach "Chiffren, nach etwas, das es noch gar nicht in der vorhandenen Welt gibt."

Ernst Bloch(1885-1977), Tübinger Einleitung in die Philosophie:

Aus sich heraus
Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.
Das Bin ist innen. Alles Innen ist an sich dunkel. Um sich zu sehen und gar was um es ist, muß es aus sich heraus. Muß sich herausmachen, damit es überhaupt erst etwas sehen kann, sich unter seinesgleichen wodurch ein Ich bin, als nicht mehr an sich, zu einem Wir wird. Und draußen geht dem Ansich des Um-uns auf, worin Menschen stehen und unter, neben oder über ihnen Dinge. Als mehr oder minder abstoßende, mehr oder minder anziehende Fremdlinge zuerst; sie müssen so, als keineswegs selbstverständlich, erst gelernt werden.

Dies Lernen bewegt sich völlig im Außen, ist darin fahrend und so erst erfahrend und so erst auch, mittels des Draußen, das eigene Innen selber erfahrend. Der Mensch besonders ist auf diesen steten Weg nach außen angewiesen, damit er überhaupt nur wieder auf sich zurückkommen könne und so bei sich gerade die Tiefe finde, die nicht dazu ist, daß sie in sich, ungeäußert bleibe. Das bloße Bin muß, damit es seiner auch nur empfindlich werde, sich ein Etwas von draußen anziehen. Auch im übertragenen Sinn ist der Mensch in seiner eigenen Haut nackt geboren und bedarf fremder bekleidender Stoffe, um sich genau in seiner eigenen Nähe zu wärmen, ja zu betonen. Vom puren Innen ist kein einziges Wortbild gekommen, das uns übers innerste sprachlose Ansich hinaus sprechen lässt und eben äußert.

Dagegen Worte wie: eng, tief, warm, dunkel, hell, dichtes Vergessen, offenes Aufdämmern, der innere Weg selber: alle diese sind aus Äußerem gezogen und dann erst fürs Innere durchscheinend. So merkt sich alles Innen erst über das Außen; gewiß nicht, um sich dadurch zu veräußerlichen, wohl aber um sich überhaupt zu äußern.

Anderenfalls es das Einsame bliebe, ohne jenes Mit-uns, das nicht Man, sondern Wir heißt, und ohne Jenes Um-uns, das immerhin Topferde für die menschliche Pflanze, Rohstoff für das menschliche Haus wurde und wird. Dann erst wird das Um-uns von innenher bedacht, damit es dadurch immer näher komme. Also gerade auch dem Menschen immer weniger fremd sein könne. Dazu sind wir unterwegs und gehen durchaus mit uns selber heraus.


3) Philosophen als Befreier des Menschen aus einer Sprachverwirrung und als Kämpfer „gegen die Verhexung des Verstandes durch die Sprache“. ()

Wittgenstein: "Ich sehe jetzt, dass diese unsinnigen Ausdrücke nicht deshalb unsinnig waren, weil ich die richtigen Ausdrücke noch nicht gefunden hatte, sondern dass ihre Unsinnigkeit ihr eigentliches Wesen ausmacht. Denn ich wollte sie ja gerade dazu verwenden, über die Welt - und das heißt: über die sinnvolle Sprache - hinauszugelangen. Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb aller Menschen, die je versucht haben, über Ethik oder Religion zu schreiben oder zu reden. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos."

"Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren."

Poeten

Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals. Er gab seinem vielfältig gespaltenen Ich die Namen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und eben Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person, Maske, Fiktion, Niemand« bedeutet.

Alberto Caeiro. Poesias -

Poesie V (Ausschnitt)

Auch im Nichtdenken steckt genug Metaphysik.

Was ich denke über die Welt?
Was weiß ich, was ich denke über die Welt!
Erkrankte ich, dächte ich darüber nach.

Welche Vorstellung ich habe von den Dingen?
Welche Meinung über Ursache und Wirkung?
Was ich ergrübelt habe über Gott und die Seele
Und die Erschaffung der Welt?
Ich weiß es nicht. Für mich heißt darüber nachdenken,
die Augen schließen
Und nicht denken. Heißt die Vorhänge zuziehen
An meinem Fenster (doch hat es keine Vorhänge).

Das Geheimnis der Dinge? Was weiß ich, was Geheimnis ist!
Das einzige Geheimnis ist, daß da einer ans Geheimnis denkt.
Wer in der Sonne steht und die Augen schließt,
Weiß bald nicht mehr, was die Sonne ist,
Und ersinnt überhitztes Zeug.
Aber kaum macht er die Augen auf und sieht die Sonne,
Kann er an nichts mehr denken,
Denn das Sonnenlicht taugt mehr als die Gedanken
Aller Dichter und aller Denker.
Das Sonnenlicht weiß nicht, was es tut,
Und irrt daher nicht, ist für alle da und ist gut.

Metaphysik? Welche Metaphysik haben die Bäume?
Grün zu sein, belaubt und Zweige zu tragen
Und Früchte zu bringen zu ihrer Zeit, und wir nehmen es
gedankenlos hin,
Wir, außerstande, sie wahrzunehmen.
Aber welche Metaphysik wäre besser als die der Bäume,
Die nicht wissen, wozu sie leben,
Nicht wissen, daß sie’s nicht wissen?

»Inneres Gefüge der Dinge«,
»Innerer Sinn des Weltalls«.
All dies ist falsch, all dies will nichts besagen.
Wie kann man nur an dergleichen denken!
Es ist, als dächte man an Gründe und Zwecke,
Wenn der Morgen anbricht und bei den Bäumen
Schwebendes Gold die Dunkelheit aufhebt.

Über den inneren Sinn der Dinge grübeln,
Ist so müßig wie an die Gesundheit denken
Oder ein Glas zum Quellwasser tragen.

Der einzige innere Sinn der Dinge
Ist, daß sie keinen inneren Sinn besitzen.

IX

Ich bin ein Hirte.
Die Herde sind meine Gedanken
Und meine Gedanken allesamt Sinnesempfindungen.
Ich denke mit Augen und Ohren
Mit Händen und Füßen
Mit Nase und Mund.

Sich eine Blume denken heißt, sie sehen und riechen,
Und eine Frucht verzehren heißt, ihren Sinn erfassen.

Wenn ich mich daher an einem heißen Tag
Vor lauter Freude traurig fühle
Und der Länge nach ins Gras lege
Und die erhitzten Augen schließe,
Spüre ich meinen Körper von Kopf bis Fuß ausgestreckt
in der Wirklichkeit,
Kenne die Wahrheit und bin froh.

(Alberto Caeiro. Poesias)



Rilke: Die achte Elegie (Ausschnitt)
(Rudolf Kassner zugeeignet, 1922)

Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsre Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
wenden wir um und zwingens, dass es rückwärts
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.
Ihn sehen wir allein; das freie Tier
hat seinen Untergang stets hinter sich
und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts
in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.

Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,
den reinen Raum vor uns, in den die Blumen
unendlich aufgehn. Immer ist es Welt
und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine,
Unüberwachte, das man atmet und
unendlich weiß und nicht begehrt.

Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

Wer hat uns also umgedreht, dass wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt -,
so leben wir und nehmen immer Abschied.

Rainer Maria Rilke, 7./8.2.1922, Muzot

Gryphius Andreas, Menschliches Elende (1637)

Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmerzen /
Ein Ball des falschen Glücks / ein Irrlicht dieser Zeit /
Ein Schauplatz herber Angst / besetzt mit scharfem Leid /
Ein bald verschmelzter Schnee / und abgebrannte Kerzen /

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid /
Und in das Toten-Buch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind / sind uns aus Sinn und Herzen.

Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt /
Und wie ein Strom verscheust / den keine Macht aufhält:
So muß auch unser Nam' / Lob / Ehr' und Ruhm verschwinden /

Was itzund Atem holt / muß mit der Luft entfliehn
Was nach uns kommen wird / wird uns ins Grab nachziehn /
Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starken Winden.


Du oder ich,
Maria Lassnig, 2005

Kafka, Kleine Fabel,

»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.